12
Pippa lag ohne sich zu rühren. Einen Augenblick blieb alles ruhig, dann kam das kratzende Geräusch eines Schlüssels, der leise im Schloß gedreht wurde. Sie setzte sich im Bett auf, hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Es mußte ein Irrtum sein. Niemand besaß einen Schlüssel zur Vordertür, und ihren eigenen hatte sie über dem Herd angehängt, nachdem sie mit Doris die Besichtigung beendet und alles abgeschlossen hatte. Natürlich bildete sie sich bloß dummes Zeug ein.
Wieder Schweigen. Erleichtert legte sie sich aufs neue hin, aber Mohr gab sich nicht zufrieden, das merkte sie an der angespannten Haltung seines Kopfes. Plötzlich knurrte er dumpf und tapste zur Tür. Pippa dankte wohl zum hundertsten Male dem Mann, der ihn zu unbedingtem Gehorsam erzogen hatte. Sie flüsterte: »Hierher, Mohr... Nieder«, und er kam lautlos zu ihr zurückgetrottet. Sie griff im Dunkeln nach Taschenlampe und Morgenrock. Es hatte keinen Sinn, hier zu liegen und sich vor Gespenstern zu fürchten, das beste war, aufzustehen und nachzusehen.
Im selben Augenblick vernahm sie das Quietschen eines Dielenbrettes. Sie kannte die Stelle am Fußboden genau; weil sie sich immer darüber ärgerte. Also war doch jemand in die Bibliothek eingedrungen. Zuerst packte sie der Schrecken, aber dann erinnerte sie sich, daß Doris gleich nebenan schlief, und sie spürte beruhigt Mohrs schützende Gegenwart. Nur ein Hasenfuß konnte da noch nervös sein, ermutigte sie sich. Es bestand auch vorläufig kein Grund, Doris zu wecken, ein Ruf genügte jederzeit. Zunächst wollte sie den Eindringling überraschen und feststellen, was er beabsichtigte.
Sie schlich leise zur Tür, Mohr immer dicht neben sich. Im Wohnzimmer sah sie beim Schein der Taschenlampe, die sie sorgsam mit der Hand abschirmte, Doris in friedlichem Schlaf liegen, ein Anblick, der ihr inneres Gleichgewicht vollends wiederherstellte. Mit wahrem Löwenmut stieß sie die Bibliothekstür auf und knipste das Licht an.
Strahlende Helle ergoß sich über Sam West, der mit verzweifelter Hast in ihrem Schreibtisch wühlte. Er fuhr herum, erschrocken und wütend, und im selben Moment vergaß Mohr, daß ein guterzogener Hund Befehle stets abzuwarten hat, und sprang zu. Er packte den Vorsitzenden des Gemeinderates beim Hosenbein und hängte sich mit aller Kraft seiner starken Muskeln und der starrsinnigen Entschlossenheit seines beschränkten Hundeverstandes an ihm fest.
»Rufen Sie ihn zurück! Rufen Sie ihn zurück, sage ich. Den werde ich melden. Ich lasse ihn als gemeingefährlich umbringen!«
Pippa schloß sorgfältig die Tür. Es war nicht notwendig, Doris zu wecken, mit diesem Einbrecher wurde sie allein fertig. Sie zitterte, aber vor Wut. Hätte er irgend etwas anderes gesagt, ihr gedroht vielleicht, wäre sie nicht so in Weißglut geraten. Aber er hatte die Absicht geäußert, ihren Hund umbringen zu lassen. Sie funkelte ihn mit ihren blauen Augen an.
»Was, Sie wagen es noch, davon zu reden, daß Sie meinen Hund töten lassen wollen? Wenn Mohr auch nur ein Haar gekrümmt wird, erzähle ich in ganz Rangimarie von Ihrem Puppchen und zeige allen Leuten den Brief.«
Sie starrten sich beinah eine Minute lang schweigend an, während Mohr verbissen und triumphierend das Hosenbein festhielt. Dann sagte West grollend: »Er hat mich angegriffen. Das beweist, daß er gefährlich ist.«
Pippas Wut hatte sich ebenso schnell wieder abgekühlt, wie sie aufgeflammt war, und sie erwiderte prompt: »Er ist nur gefährlich für Diebe und Verbrecher. In diesem Augenblick, mitten in der Nacht, verteidigt er mein Haus und meine Ehre!« Nur mit allergrößter Mühe unterdrückte sie ein peinliches Kichern. Der Satz war reinstes Schauerdrama gewesen, und schon hatte sie ihn in einer Schublade ihres Gedächtnisses aufbewahrt, um ihn Pam zu zitieren.
West dagegen nahm ihn schweigend auf. Er mußte zugeben, daß das fürchterliche Vieh ihn bis jetzt nicht gebissen hatte. Seine Zähne hielten zwar wie mit Eisenklammern den Stoff gepackt, drangen aber nicht bis auf die Haut durch. Natürlich dachte das Mädchen gar nicht daran, ihren Köter zurückzurufen, folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit dem unbequemen Anhängsel an seinem Bein abzufinden, aber vor allen Dingen durfte er beileibe nichts tun, was die Mordlust der Bestie noch mehr anstacheln könnte. Daher sagte er möglichst ruhig: »Ich bin wegen des Briefes gekommen. Geben Sie ihn heraus und machen Sie keine Scherereien.«
»Scherereien, wem?«
»Sich selbst, weil Sie etwas unterschlagen, was Ihnen nicht gehört, und mich zu erpressen versuchen. Sieben Jahre stehen auf Erpressung.«
»Und wieviel auf Einbruch?«
»Ich bin nicht eingebrochen. Ich hatte immer zwei Schlüssel und vergaß nur, Ihnen den anderen auszuhändigen.«
»Jedenfalls haben Sie sich hier Zutritt verschafft mit der Absicht, ein Verbrechen oder so was Ähnliches zu begehen. Und was die Erpressung anbelangt, bitte, tun Sie sich nur keinen Zwang an. Ich bringe den Brief dann mit vor Gericht, und ich verspreche Ihnen, man wird sich amüsieren wie noch nie.«
Wieder Schweigen, nur von keuchenden Atemzügen und einem Gurgeln aus Mohrs Kehle unterbrochen, und dann die tastende Frage: »Was verlangen Sie für den Brief?«
»Daß Doris mit ihrem Kind nach Hause zurückkommen und bei ihrer Mutter bleiben kann und alles Vergangene vergessen ist.«
»Zum Teufel, ich denke nicht daran. Und was geht Sie das überhaupt an? Sie tauchen hier auf, mischen sich überall ein und machen sich wichtig. Bibliothekarin sind Sie doch wohl, oder? Keine verdammte Missionarin.«
Das traf sie an ihrer empfindlichsten Stelle, aber sie fuhr beharrlich fort: »Sie müssen sie wieder aufnehmen. Ihre Frau grämt sich zu Tode.«
»Müssen? Wer sagt, ich muß?«
»Vorläufig sind Sie zwar noch freier Häusermakler, aber das Blättchen wird sich wenden, wenn das Gericht erst mit Ihnen abgerechnet hat, weil Sie in meine Wohnung eingebrochen sind.«
»Wer behauptet, ich sei in Ihre Wohnung eingebrochen? Ihr Wort steht gegen meins, Sie haben keinen Zeugen.«
Jetzt spielte Pippa ihren Trumpf aus.
»Sie werden lachen, ich habe einen Zeugen. Dort in meinem Zimmer schläft eine Bekannte von mir. Ich rufe sie, wenn Sie wollen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Heute nachmittag war noch niemand da.«
»Aber jetzt. Kommen Sie lieber und überzeugen Sie sich selbst.«
»Sie sehen doch, daß ich mich nicht rühren kann mit diesem vermaledeiten Köter am Hosenbein.«
»Ich gebe ihm den Befehl, Sie loszulassen, aber nehmen Sie sich in acht. Er faßt Sie, noch bevor Sie dort an der Haustür sind, also versuchen Sie am besten gar nicht erst, zu entwischen.«
Mohr ließ seine Beute nur höchst widerwillig fahren, tief enttäuscht, daß ihm der saftige Bissen, auf den er sich schon so gefreut hatte, nun entging; von seinen scharfen Zähnen blieb ein kleiner, klaffender Riß im Stoff zurück. Pippa forderte Sam West durch einen Wink auf, ihr zu folgen und sie gingen auf Zehenspitzen zur Tür. Sie öffnete, deutete stumm ins Wohnzimmer und blieb abwartend stehen, um die Wirkung zu beobachten.
Im matten Schein der Taschenlampe lag das schlafende Mädchen, halb zur Seite gewendet, das lange Haar über das Kopfkissen gebreitet, und ihr von glücklichen Träumen friedlich entspanntes Gesicht strahlte eine beinah kindlich unschuldige Schönheit aus. Sam West zog heftig den Atem ein, drehte sich wortlos wieder um und kehrte leise in die Bibliothek zurück.
Hinter der sorgsam verschlossenen Tür standen sie sich aufs neue gegenüber, Mohr, wie immer, wachsam lauernd zwischen ihnen. Zu ihrer Überraschung sah Pippa in den verschlagenen Fuchsaugen etwas Feuchtes schimmern. Sie sagte geschwind: »Nanu, Sie haben sie also doch ein bißchen lieb?«
Aber er hörte nur halb zu. Seine Gedanken waren um Jahre zurückgewandert.
»So hat sie immer geschlafen — mit dem offenen Haar. Ihre Mutter wollte, daß sie es lang behielt. Sie sieht nicht viel älter aus.«
»Und bestimmt nicht wie ein schlechter Mensch, nicht wahr? Nur wie ein harmloses, junges Ding, das mal einen Fehler gemacht und dafür bezahlt hat. Also hören wir mit der Streiterei auf und kommen wir zur Sache.«
Diese Worte brachten ihn schlagartig in die Gegenwart zurück und riefen zugleich die rechnerischen Instinkte eines der gerissensten Händler von Rangimarie auf den Plan.
»Und welches sind Ihre Bedingungen?« fragte er.
»Lassen Sie Doris nach Hause kommen und vergessen Sie alles Gewesene. Dann gebe ich Ihnen Puppchens Brief und erzähle keiner Menschenseele davon.«
Er zog eine verächtliche Grimasse.
»Einer Erpresserin vertrauen? Wahrscheinlich haben Sie schon genügend für Verbreitung gesorgt.«
»Bis jetzt nicht, und die Mühe brauche ich mir auch gar nicht zu machen. Ich werde den Brief einfach in der Bibliothek an die Wand hängen. Das ist doch eine gesetzlich zugelassene Art und Weise, mit Fundgegenständen zu verfahren.«
Sie war froh, daß sie Mohr bei sich hatte, denn seine Augen sahen nach nacktem Mord aus. Aber sie fuhr unerschrocken fort: »Sie ziehen auf jeden Fall den kürzeren, Mr. West. Nachts in das Haus eines alleinstehenden Mädchens einbrechen, Dokumente zu stehlen versuchen, ein ehebrecherisches Verhältnis unterhalten — du lieber Himmel, ich fürchte, mit der Liste werden Sie der Königin das nächste Mal nicht wieder vorgestellt werden.«
Er zuckte unter diesem grausamen Schlag förmlich zusammen, und sie nutzte rasch ihren Vorteil aus: »Aber das alles geht in Ordnung, wenn Sie Doris wieder aufnehmen. Mit ihr haben Sie auch gleich ein nettes junges Mädchen im Haus, das sich jetzt, wo Mrs. West kränklich ist, um Sie kümmert, und jeder im Dorf wird sagen, daß Sie doch im Grunde gar kein so schlechter Kerl sind. Alle werden denken, Sie tun es Ihrer Frau zuliebe, weil Sie sie so überaus schätzen — was natürlich in Wirklichkeit auch nicht stimmt.«
Er fuhr hoch, noch wütender als bisher: »Wer will behaupten, daß ich sie nicht schätze? Sind wir nicht seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, und habe ich ihr nicht ein schweres, silbernes Teeservice zum Hochzeitstag geschenkt? Habe ich ihr jemals einen Wunsch abgeschlagen? Teppiche noch und noch und das Feinste an Möbeln, was zu haben ist... Ich bin immer ein vorbildlicher Ehemann gewesen.«
»Und Puppchen?«
Er machte eine so heftige Bewegung, daß Mohr ein drohendes Knurren ausstieß.
»Bringen Sie das verdammte Hundevieh zum Schweigen, ja? Und reden Sie nicht über Sachen, die Sie nicht verstehen. Man kann doch einem Mann mal ein kleines Vergnügen gönnen, wie? Das tut keinem weh, bis so ein dummes Frauenzimmer daherkommt und ihre neugierige Nase reinsteckt.«
»Also Schluß damit. Wozu haben Sie sich entschieden?«
»Geben Sie mir den Brief, und ich hole Doris morgen.«
»Das genügt mir nicht. Ich traue Ihnen nicht über den Weg. Nehmen Sie Doris bei sich auf, versprechen Sie Ihrer Frau, daß sie zu Hause bleiben darf, und Sie kriegen Ihren Brief.«
»Aber ich soll einer Erpresserin trauen, was?«
Das Gespräch drehte sich hoffnungslos im Kreise und landete immer wieder an dem toten Punkt. Pippa fragte sich seufzend, ob sie die endlose Debatte bis zum Morgengrauen würde durchstehen können. In diesem Moment hörten sie einen Wagen die stille Straße entlangkommen. Er fuhr langsamer, bremste und hielt schließlich vor dem Haus. Unmöglich, dachte Pippa, nein, vollständig ausgeschlossen, daß sich um diese mitternächtliche Stunde noch ein zweiter Besucher bei ihr einfinden könnte.
Aber es war in der Tat so. Auf der Veranda erklang ein Schritt und eine Stimme fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung? Oder weshalb brennt bei Ihnen noch Licht?«
Pippa platzte in ein krampfhaft unterdrücktes Lachen aus und bemühte sich, ruhig zu antworten: »Bitte, kommen Sie doch rein, Doktor Horton, die Tür ist nicht abgeschlossen«, während sich Sam West verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit umsah.
Der Doktor zeigte keinerlei Überraschung bei dem ungewöhnlichen Bild, das sich ihm bot: Pippa im Morgenrock, Mohr in tiefsinniger Haltung, die Augen wie gebannt auf Sam Wests Kehrseite gerichtet, und schließlich der Vorsitzende des Gemeinderates selbst, mitten in der Nacht offenbar von leidenschaftlichem Leseeifer ergriffen. Der Arzt sagte nur freundlich: »Ich sah das Licht und dachte, Sie hätten vergessen, es auszuschalten, und es könnte unter Umständen Einbrecher anlocken... Was ist denn los?« Denn Pippa war von einem ihrer gefürchteten Kicheranfälle gepackt worden, deren sie sich so schämte und von denen James immer warnend gesagt hatte, sie würden noch einmal ihre ganze Zukunft verpfuschen.
Sie sank an ihrem Schreibtisch zusammen, vergrub das Gesicht in den Armen und kapitulierte restlos, während Mohr, hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht, den Feind im Auge zu behalten, und dem sehnlichen Verlangen, sein offenbar vom Irrsinn befallenes Frauchen zu trösten, ein lautes Gejaule anstimmte. Dr. Horton meinte sachlich: »Trinken Sie etwas. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«
Pippa hob den Kopf, wischte sich völlig erschöpft die Lachtränen von den Wangen und sagte: »Mir fehlt gar nichts. Ich bin auch nicht hysterisch. Es ist nur — nur so entsetzlich komisch. Oh, ich wollte, ich könnte es Ihnen erklären.«
In fieberhafter Eile schaltete sich Sam West ein: »Einfach übermüdet ist sie: Hätte sie nicht wegen eines Buches noch stören sollen, so spät abends. Aber Sie wissen ja, wie’s ist, Doktor, wenn man keinen Schlaf finden kann.«
Diese himmelschreiende Lüge überwältigte Pippa abermals, doch kam ihr mitten in dieser erneuten Attacke blitzartig ein Gedanke. Sie horte auf zu lachen und wendete sich an Dr. Horton: »Da Sie gerade hier sind — ob Sie mir wohl helfen können... das heißt, richtiger gesagt, uns? Doktor, würden Sie für eine Minute dort hineingehen, während wir etwas besprechen? Nicht ins Wohnzimmer, bitte, da schläft Doris, aber in die Küche.«
»Klingt ja wie >Drei Fragen hinter der Tür<«, meinte er belustigt und ging.
Als er verschwunden war, drehte sich Pippa um und fragte Sam West: »Trauen Sie Doktor Horton?«
»Trauen? Ein anständiger Kerl ist er ja, aber ich verlasse mich so leicht auf keinen Menschen, wenigstens nicht in persönlichen Angelegenheiten. Warum?«
»Na, irgend jemanden müssen wir ja hinzuziehen, denn mir schenken Sie doch kein Vertrauen, nicht?«
Die Antwort darauf war kurz, aber deutlich, und sie fuhr fort: »Sehen Sie, genauso geht’s mir mit Ihnen. Aber bei Doktor Horton können Sie sicher sein. Ich gebe ihm den Brief... Ach, regen Sie sich doch nicht so auf — natürlich in einem versiegelten Umschlag. Und ich werde ihn bitten, Ihnen den Brief auszuhändigen, sobald Doris wieder zu Hause eingezogen und anstandslos auf genommen ist.«
»Und was soll er davon denken?«
»Ich glaube nicht, daß Doktor Horton viel Zeit darauf verschwendet, über Dinge nachzudenken, die ihn nichts angehen, das ist absolut nicht seine Art. Auf keinen Fall wird er vermuten, daß ich Sie dazu gezwungen habe, sondern nur überglücklich sein, Doris hier zu haben, damit sie sich um ihre Mutter kümmern kann. Und daß der Brief geöffnet wird — na, deswegen brauchen Sie sich wohl kaum Sorgen zu machen.«
»Gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.«
Nach abermaligem Hin und Her mußte er jedoch zugeben, daß ihr Vorschlag die einzig mögliche Lösung war. Pippa ging zur Tür, winkte dem Doktor, der trotz des unbequemen Küchenstuhles, auf dem er saß, schon halb eingeschlafen war, und bat ihn, als er hereinkam: »Würden Sie hier nur eine Minute warten, bis ich etwas geholt habe, Doktor? Und vielleicht achten Sie inzwischen darauf, daß Mohr nicht — ich meine, daß Mr. West sich wohl fühlt.«
Sie schlüpfte in ihr Schlafzimmer, kramte den Brief aus den Tiefen des Wäscheschrankes hervor und lief damit zurück.
»Sicher kommt Ihnen das alles reichlich verrückt vor«, sagte sie zu Dr. Horton, indem sie ihm den Umschlag gab, »aber ich möchte Sie bitten, dies in Verwahrung zu nehmen und es Mr. West auszuhändigen, sobald Doris zu Hause bei ihren Eltern wohnt.«
Der Arzt machte kein sehr begeistertes Gesicht, denn er hatte Sam West noch nie leiden können, und der Gedanke, daß dieser Bursche sich nachts in der Leihbücherei herumtrieb, wollte ihm absolut nicht behagen, aber er nahm den Brief ohne weiteren Kommentar an sich und verwahrte ihn in seiner Brusttasche. Dann bemerkte er steif: »Gut, jetzt ist aber Schlafenszeit. Ich mußte zu einer Krankenvisite fahren und erwarte zu Hause noch einen Anruf. Ihrer Frau ging es heute abend viel besser, West, und wenn Doris erst zu Hause ist, werden Sie sich keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchen. Gute Nacht, Miss Knox. Ich würde mich an Ihrer Stelle morgen tüchtig ausschlafen.«
West erwiderte keinen Ton, sondern kehrte mit offensichtlicher Erleichterung sowohl Mohr als auch dessen Herrin den Rücken.
Sam West erschien Punkt acht Uhr am nächsten Morgen vor Pippas Tür, so sehr wirkte die Tatsache auf ihn, daß sich das peinliche Dokument in des Doktors Brieftasche befand. Aber dort sollte es auch noch zwei lange, bittere Wochen bleiben, denn zu seinem großen Kummer mußte er feststellen, daß Doris nicht mehr das folgsame, nachgiebige Kind von früher war.
Doris war kaum richtig wach geworden, als Pippa ihr die Neuigkeit überbrachte, ihr Vater wünschte sie zu sprechen. Sie machte erschrockene Augen.
»Er muß aus Mama herausgebracht haben, daß ich hier bin. Na schön, wenn er unbedingt wieder einen Krach vom Zaun brechen will, von mir aus, bitte.«
»Vielleicht will er das gar nicht. Möglicherweise ist er zur Vernunft gekommen und möchte, daß Sie nach Hause kommen. Und das tun Sie doch, wenn er Ihnen den Vorschlag macht, nicht wahr, Doris?«
»Ich werde natürlich darauf eingehen, schon um Mamas und Bills willen, aber er muß mich darum bitten.«
Dieses Zeichen mutiger Entschlossenheit entzückte Pippa geradezu, und nur ein Rest von Taktgefühl zwang sie, wenigstens den Anschein zu erwecken, als wolle sie sich diskret zurückziehen, nachdem sie Doris zu ihrem Vater hineingebracht hatte. Aber das Mädchen sagte schnell: »Bitte, bleiben Sie, Miss Knox. Vater und ich haben nichts Geheimes miteinander zu besprechen.«
Das und der haßerfüllte Blick, den Mr. West ihr zuschoß, genügte Pippa. Sie ließ sich erwartungsvoll an ihrem Schreibtisch nieder und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Sam brach als erster das Schweigen.
»So, du bist also zurückgekommen, um Mama zu sehen?«
»Ja.«
Wieder eine Pause. Er holte tief Luft und begann noch einmal: »Scheint, sie grämt sich um dich. Möchte dich gern hier haben. Also Doris, wie wäre es damit?«
Sie richtete die haselnußbraunen Augen auf ihren Vater und beobachtete ihn einen Moment. Dann antwortete sie: »Ich hätte nichts dagegen, wieder bei Mutter zu sein. Aber du mußt mich ausdrücklich darum bitten. Es ist ja dein Haus, wie du damals sagtest, als du mich rauswarfst, und ich schleiche mich nicht durch die Hintertür wieder hinein.«
»Na, bitte ich dich denn nicht? Also komm zurück, weil deine Mutter es gern möchte, und laß Vergangenes vergessen sein. Genügt dir das?«
»Nicht ganz. Ich weiß, ich käme dir jetzt gelegen, während Mama krank ist, denn du konntest im Haus nie allein fertig werden. Aber ich will nicht ein unbezahltes Dienstmädchen sein. Ich habe eine gute Stellung in der Stadt und bin zufrieden, nachdem ich mich zuerst sehr schwer durchkämpfen mußte. Damals hast du mir nicht geholfen, und ebensowenig kannst du jetzt Hilfe von mir erwarten. Ich komme zurück, wenn du mir und dem Jungen einen anständigen Unterhalt zahlst — und dazu bist du in der Lage, Vater. Ich will nicht wegen jedem Paar Socken, das Bill braucht, bei dir betteln müssen, und ich werde für mein Geld arbeiten, hab’ keine Angst, aber ohne das tue ich es nicht.«
Sam West grunzte ärgerlich. Er hatte damit gerechnet, eine reuige Sünderin vorzufinden, die sich ihm völlig unterwerfen würde, keine selbständige, junge Frau, die sich ihres Wertes bewußt geworden war.
»Du bist aber anmaßend«, sagte er vorwurfsvoll. »Eine feine Art, mit seinem Vater zu reden.«
»Mein Vater hat nicht großzügig an mir gehandelt, und von ihm habe ich gelernt, hart zu sein.«
Das war ein Brocken, der erst geschluckt werden mußte, aber schließlich erwiderte er: »Schön, ich biete dir ein ordentliches, regelmäßiges Taschengeld und ein Heim für dich und den Jungen. Wir wollen ganz von vorn anfangen, ohne auf den alten Geschichten herumzureiten, das gilt für beide Teile. Einverstanden?«
Sie ging nicht sofort auf seinen Vorschlag ein, nicht einmal ein Lächeln hatte sie für ihn. Sie antwortete nur: »Ja, und Miss Knox ist Zeuge. Du hast ganz recht, ich bin hart geworden, und ich weiß meine Interessen zu wahren, meine und auch die von Mama. Damit wir uns gleich richtig verstehen.«
Das ging nun Sam West doch beinah über die Hutschnur, und am meisten reizte ihn dabei vielleicht der Ausdruck in Pippas Gesicht, weshalb ihm verziehen werden mag, daß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorknirschte: »Hat man schon jemals ein so gerissenes kleines Luder gesehen...«
Und nun versuchte er es auf die draufgängerische Art.
»Also, dann bleibst du gleich hier und läßt das Kind holen.«
»O nein. Ich kann nicht einfach aus meiner Stellung weglaufen, ohne vorher ordnungsgemäß zu kündigen. Das würde ich nie tun.«
»Und dein Vater? Ich brauche jetzt jemanden.«
»Tut mir leid, aber diese Menschen sind gut zu mir gewesen.« Pippa jauchzte beinah vor Wonne über die leise Ironie in ihrem Ton.
»Schwester Price wird Mama noch vierzehn Tage behalten, und bis dahin bleibe ich lieber in der Stadt. Es hat keinen Zweck, daß wir beide miteinander allein sind.«
Nachdem er endlich gegangen war, zog sich Doris eilig an, denn der Bus fuhr in einer Stunde, und sie mußte vorher noch ihre Mutter besuchen, um ihr die Neuigkeit ihrer Rückkehr mitzuteilen. Sie dankte Pippa herzlich für die Hilfsbereitschaft, die sie sowohl ihr als auch ihrer Mutter erwiesen hatte, und meinte zum Schluß bewundernd: »Wissen Sie, ich finde Sie mutig, daß Sie hier so allein wohnen. Die meisten Mädchen würden sich fürchten.«
»Ach, ich habe doch Mohr. Der ist mehr wert als ein ganzes Regiment.«
»Ja, das glaube ich, aber es ist ein unheimliches, altes Haus. Heute nacht zum Beispiel dachte ich ein- oder zweimal, ich hätte Stimmen gehört. Wie Leute, die leise miteinander redeten. Ich habe ja einen ziemlich festen Schlaf, und ich wurde nicht völlig wach; vielleicht war es nur ein Traum. Hier spuken doch keine Geister, wie?«
»Denen würde Mohr schon heimleuchten.«
»Na, Sie sind jedenfalls sehr tapfer. Ich wollte schon aufstehen und nachsehen kommen, aber dann duselte ich doch wieder ein.«
»Da bin ich aber froh«, antwortete Pippa voller Inbrunst. »Es wäre mir mächtig unangenehm gewesen, Sie schlafwandeln zu sehen«, und Mohr stimmte dieser Ansicht mit gemessenem Schwanzwedeln zu.