11

 

Eine Woche lang ging Pippa täglich zu Mrs. West, um sie zu versorgen, sah jedoch zu ihrer Erleichterung den unangenehmen Herrn Gemahl äußerst selten. Nach und nach schlossen sich die müde, enttäuschte Frau und das junge Mädchen enger aneinander an.

»Sie blüht unter Ihrer Pflege zusehends auf«, sagte Dr. Horton, und Pippa errötete vor Freude über die Wärme seines Tones.

»Es macht mir selbst Spaß, aber ich möchte so gern mehr tun. Wenn ich nur den gräßlichen alten Kerl dazu bringen könnte, Doris zurückzuholen.«

»Ziemlich aussichtslose Sache, fürchte ich. Ich habe ihn ein einziges Mal daraufhin angesprochen, aber er schnitt mir sofort das Wort ab und erklärte kurz angebunden, ich sollte mich lieber um die Gesundheit seiner Frau kümmern, anstatt mich in seine Privatangelegenheiten einzumischen. Womit er ja recht hatte.«

»Er spielt sich richtiggehend als Diktator auf hier im Dorf. Man fragt sich nur, wie er dazu kommt, wo ihn doch kein Mensch leiden kann.«

»Sie wissen ja, wie das in solch kleinen Gemeinden ist. Die meisten arbeiten von früh bis spät und haben keine Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern, oder sie sind zu schüchtern, und gewöhnlich reißt dann einer alles an sich.«

Pippa mußte zugeben, daß sie diese Erfahrung auch schon gemacht hatte. Als sie sich einmal zu ein paar Dorfbewohnern über deren merkwürdige Wahl des Gemeindevorsitzenden äußerte, war die gleichgültige Antwort: »Ach, der alte Sam hat Freude an solchen Ämtern, und er setzt auch Dampf dahinter.«

»Ich kriege jedesmal die Wut, wenn ich daran denke, daß er der Königin vorgestellt wurde«, sagte sie zu Dr. Horton.

»Sie können nicht von jedem Mann der Öffentlichkeit ein Charakterzeugnis verlangen, bevor er seinen Diener machen darf.«

»Jammerschade. Jedenfalls das eine weiß ich, mit Sam, diesem Duckmäuser, rede ich noch ein Wörtchen wegen Doris, und es ist mir völlig schnuppe, wie er sich gebärdet.«

Aber die Gelegenheit dazu ließ mehrere Tage auf sich warten, und in der Zwischenzeit tauchte das Problem Freddy wieder auf. Etwa eine Woche nach seinem Unfall kam er zu ihrer Hintertür geschlichen, mit verbundenem Kopf und blutunterlaufenen Augen. Er bot ein mitleiderregendes Bild demütiger Zerknirschung. Pippa gab sich große Mühe, ihr Herz mit einem eisenharten Panzer zu wappnen, aber es gelang ihr natürlich nicht.

»Das war sehr unrecht von Ihnen. Ich weiß, Sie wollten mich nicht mit dem Schnaps sitzenlassen, aber Sie durften meinen Schuppen nicht für Ihren Alkoholschmuggel benutzen.«

»Ich bin da quasi reingeschlittert, Miss, aber ich wollte Sie bestimmt nicht in die Patsche bringen. Auf Ehre nicht.«

»Ich glaube es Ihnen, aber Schleichhandel mit Sprit ist streng verboten und verstößt gegen das Gesetz.«

»Och, hören Sie auf, Miss. Was ist denn schon Schlimmes dabei? Jemandem ist der Whisky ausgegangen, in der Kneipe kann er sich keinen besorgen, aber ich kann ihm welchen verschaffen, das ist alles.«

»Ja, Sie nehmen aber keine Gaststättenpreise. Sie schlagen unerlaubten Profit daraus.«

»Freilich, dafür trage ich ja auch das Risiko.«

»Wenn Sie nicht gegen das Gesetz verstoßen würden, gäb’s gar kein Risiko. Nein, Freddy, es ist unrecht, und Sie wissen es.«

Er scharrte verlegen mit den Füßen, senkte den Blick und sah aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Sie mußte beinahe lächeln bei dem Gedanken, für wie harmlos sie ihn immer gehalten hatte. Er guckte mit treuen blauen Augen reuevoll zu ihr auf.

»Also Miss, jetzt ist für mich aber endgültig Schluß damit. Wenn’s erst so weit kommt, daß man sich hinter einem Mädchen verkriechen muß, dann sieht’s sauer aus. Die Blamage ist die ganze Sache nicht wert.«

»Gut. Ich nehme Sie beim Wort.«

»Können Sie, Miss. Und jetzt werd’ ich wohl den Lastwagen woanders unterstellen müssen.«

»Das ist nicht nötig. Sie haben mir versprochen, keinen Schnaps mehr im Schuppen zu verkaufen, und Sie sind immer gefällig und nett zu mir gewesen, Freddy. Ich möchte gern, daß Sie dableiben. Es ist gut, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen kann. Deswegen war ich doch so unglücklich darüber — .« Lächerlich, jetzt stiegen ihr gar die Tränen in die Augen. Freddy sah den feuchten Schimmer, bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und sagte hastig, indem er zum Rückzug ansetzte: »Na dann nochmals vielen Dank, Miss, ich will lieber gehen... Der alte Lastwagen kann also im Schuppen stehenbleiben, und wenn irgendwann im Haus Not am Mann ist, seien Sie nur nicht schüchtern, ich schulde Ihnen ‘ne Menge. Wahrscheinlich säße ich jetzt im Kittchen, wenn Sie und der Doktor nicht gewesen wären.«

Pippa lachte, als sie Dr. Horton davon erzählte.

»Wirklich scheußlich, daß ich mich nicht besser beherrschen kann. Fange ich doch an zu heulen, während ich mit Freddy spreche. Ich kam mir so albern vor. Und ich habe mir immer so gewünscht, eine von diesen überlegenen, würdevollen Frauen zu werden.«

»Nur eine Sache der Tränendrüsen«, erwiderte er sachlich. »Übrigens, ich habe Mrs. West ins Krankenhaus überwiesen, Sie brauchen sich also nicht mehr um sie zu sorgen. Es ging nicht vorwärts mit der Besserung, und ich glaube, die einzige, die ihr helfen kann, ist Schwester Price.«

»Eine gute Idee. Sicherlich hat der alte Sam nie etwas für sie getan. Ob er sie überhaupt gern hat, was meinen Sie?«

»Ja, vermutlich doch. Sie sind immerhin seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, und Gewohnheit bindet. Ich hatte den Eindruck, er sah sie ungern gehen.«

»Wie nüchtern und trocken Sie das sagen... Also ich packe jetzt den Stier mal bei den Hörnern.«

»Er wird Gift und Galle spucken, wenn Sie es tun.«

»Das kümmert mich nicht — und ich habe einen großartigen Plan.«

Sie machte ein so feierlich wichtiges Gesicht, daß er lachen mußte.

»James wäre vielleicht imstande, Sie zurückzuhalten«, meinte er. »Ich kann es nicht... Aber seien Sie vorsichtig.«

Noch am selben Nachmittag kam Sam West in die Bibliothek. Es war sonst niemand da, denn um diese Zeit, Ende Januar, war es im Geschäft recht ruhig. Pippa erkundigte sich nach seiner Frau und mußte als Antwort eine lange Klagelitanei über seine eigene Einsamkeit anhören.

»Es ist bitter für einen Mann, den ganzen Tag zu arbeiten und dann abends ins leere Haus zu kommen. Ich habe nichts übrig für ein Strohwitwerdasein.«

»Was Sie sich im Grunde wünschen, ist eine Haushälterin«, begann sie schwungvoll, hielt aber sofort angewidert inne, als sie merkte, wie er lüstern die Augen nach ihr verdrehte.

»Wenn ich ein nettes, kleines Mädchen finden könnte, das kommt und für mich sorgt«, balzte er, aber sie unterbrach ihn brüsk.

»Und Ihre eigene Tochter? Die wäre doch die nächste«; sie beobachtete, wie sich sein Gesicht vor Ärger dunkel färbte.

Sie hatte eigentlich nicht gleich so mit der Tür ins Haus fallen, sondern sich diplomatisch und behutsam an die wunden Punkte heranschlängeln wollen, aber sein Benehmen reizte sie dermaßen, daß ihr die Worte einfach herausgepurzelt waren.

Er erwiderte kalt und giftig: »Ich habe keine Tochter.«

Diese unglaubliche Behauptung stachelte Pippas Zorn noch mehr an.

»Natürlich haben Sie eine«, rief sie empört. »Das ist doch allerhand, so etwas zu sagen — und es war schändlich, wie Sie sie behandelt haben. Heutzutage regt sich kein Mensch mehr über solche Dinge auf. Sie war sehr jung, und wir machen alle Fehler.«

»Bedauerlich, daß die Leute nicht strikter sind in ihren Erziehungsprinzipien. Da sieht man, wohin die Moral hierzulande treibt. Wir als Führer der Gemeinden haben die Pflicht, sie hochzuhalten.«

Jetzt explodierte Pippas Temperament, das sie bis dahin gezügelt hatte, mit Vehemenz.

»Ach steigen Sie mir doch auf den Buckel mit Ihrer Moral«, rief sie wenig ladylike und bitterböse. »Sie haben’s nötig, von Moral zu reden — Sie und Ihr Puppchen.«

Während sie ihn zornig anstarrte, sah sie, wie sein Gesicht grau wurde und sich zu einer von Schreck und Haß verzerrten Maske verzog. Er lehnte sich weit über den Schreibtisch und kam so dicht an sie heran, daß ihr einen Moment angst und bange wurde.

»Puppchen?« krächzte er. »Was sagen Sie da? Sie sind vollständig übergeschnappt, wissen Sie das? Wer ist Puppchen? Ich kenne kein Puppchen«, und in diesem Augenblick betraten zu Pippas Erleichterung zwei Abonnenten die Bibliothek.

Später, als sie allein war, ärgerte sie sich sehr, daß sie sich nicht besser in der Gewalt gehabt hatte. Immerhin, einen Pluspunkt konnte sie für sich buchen — sie hatte das schlechte Gewissen deutlich auf seinem Gesicht gelesen. Das Dumme war nur, daß sie nichts besaß, womit sie ihre Anschuldigung beweisen konnte. Nichts? Wo war denn dieser Brief? Sie versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem sie ihn gefunden hatte. Pam war gerade in der Minute angekommen, und sie hatte alles andere völlig vergessen. Hatte sie ihn etwa vernichtet? Jedenfalls lohnte es sich, danach zu suchen.

Und sie fand ihn endlich auch. Er war zwischen die Seiten eines Katalogs gerutscht, und sie erschrak über ihre eigene Unvorsichtigkeit. Wie leicht hätte ihn irgend jemand darin entdecken können! Sie studierte ihn aufs neue. Allerdings, belastend genug. Sam West dürfte einige Mühe haben, sich da herauszulügen. Wenn sie nur wüßte, wer >Puppchen< war... Na, auf jeden Fall besaß sie damit eine wirksame Waffe, und sie wollte sie hüten wie einen kostbaren Schatz.

Als sie beim Abendbrot saß und Mohr, wie immer, dicht an ihrer Seite, ertönte ein leises Klopfen an der Küchentür. Draußen stand Sam West mit abwägender, aber herausfordernder Miene. Pippa ergriff sofort die Offensive.

»Tut mir leid, Mr. West, die Leihbücherei ist schon geschlossen.«

»Ich will nicht in die Leihbücherei. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Pippa rief Mohr zu sich und ging resolut voraus in die Bibliothek, wo sie sich den strategisch günstigsten Standort hinter dem Schreibtisch aussuchte. Durch das kleine Podium, auf dem er sich befand, erreichte sie beinah die gleiche Körpergröße wie ihr Gegner, ein Vorteil, den sie vielleicht nötig haben würde, wie ihr ein unbestimmtes Gefühl sagte.

»Ich bin kein Mensch, der Streit sucht«, begann Sam West in der biederen, bedächtigen Art aller Choleriker, »aber mir gefiel Ihr Ton neulich nicht. Ich möchte wissen, was Sie damit meinten, Miss Knox.«

»Neulich?« fragte Pippa mit scheinheilig verdutztem Gesicht. »Was sagte ich denn neulich?« >Jetzt<, setzte sie in Gedanken hinzu, >muß er die Karten aufdecken.<

Ihre gespielte Ahnungslosigkeit bewirkte mehr als das, sie erboste ihn.

»Und auf Wortklaubereien lasse ich mich auch nicht ein. Sie sagten: >Sie haben’s nötig, von Moral zu reden<, und machten anschließend noch eine Bemerkung über jemanden, den Sie >Puppchen< nannten... Das ist ein Fleck auf meiner einwandfrei reinen Weste, dieser Vorwurf von Ihnen, und ich fühle mich dadurch in meiner Ehre angegriffen... Was die andere Äußerung betrifft, da waren Sie wohl nicht ganz bei Sinnen, denn von einem >Puppchen< habe ich noch nie im Leben gehört.«

Pippa beobachtete ihn wachsam. Er sah sehr zornig aus, und sie war allein im Haus. Sie sprach leise zu Mohr, der sich sogleich erhob und sich mit gesträubter Rückenborste zwischen sie und Mr. West postierte.

»Nieder, Mohr — nieder, bis ich’s dir sage. Seien Sie nicht nervös, Mr. West, er ist ganz harmlos, außer wenn er glaubt, daß mich jemand angreifen will. Dann allerdings kann man für nichts garantieren, und Neufundländer sind so unheimlich stark, nicht wahr?«

West schnaufte schwer, und sein Gesicht war purpurrot gefleckt vor Wut und Bedrängnis. Pippa hoffte, er würde nicht ausgerechnet in ihren vier Wänden einem Kollaps erliegen, es wäre so schwierig zu erklären, was er nach Geschäftsschluß noch bei ihr zu suchen gehabt hat.

Er fuhr langsam fort: »Drohungen machen nicht den geringsten Eindruck auf mich — und Hunde erst recht nicht. Ich verlange eine offene Antwort von Ihnen. Was haben Sie mit diesen Andeutungen gemeint?«

Sie holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, daß sie für Mrs. West und Doris kämpfte, dann sagte sie: »Hier ist Ihre offene Antwort. Mit welchem Recht reden Sie von Moral und spielen gleichzeitig mit einem Puppchen herum? Und sie brauchen sich auch gar nicht so vor mir aufzublasen — schließlich ist es Ihr eigener Fehler, wenn Sie die Liebesbriefe Ihrer Flamme in den Leihbüchern stecken lassen.«

Die gefleckte Röte wich aus seinem Gesicht, er tat einen Schritt vorwärts — aber nur einen einzigen, denn Mohr stand wie eine Mauer zwischen ihnen, und es hätte eines mutigeren Mannes als Sam West bedurft, der Drohung dieses sprungbereit lauernden Wächters zu begegnen. Er keuchte ein paarmal heftig und flüsterte dann: »Dieser verdammte Zettel — gesucht und gesucht habe ich danach. Geben Sie ihn heraus — er gehört Ihnen nicht.«

»O nein, ich denke nicht daran. Gefunden ist gefunden«, und mit einer dramatischen Geste, die ihr ein verborgener schauspielerischer Instinkt eingab, deutete sie auf den Schreibtisch, in dem sich der Zettel längst nicht mehr befand. »Sie kriegen ihn erst, wenn Sie sich Ihrer Frau und Doris gegenüber anständig benehmen.«

Über die lebende schwarze Barriere hinweg maßen sie sich mehrere Sekunden lang mit den Blicken, dann wendete sich West langsam zur Tür. Mohrs Augen bettelten flehentlich: >Muß ich ihn gehen lassen?< Und sie antwortete: »Ja, laß ihn laufen — ein Glück, daß wir ihn los sind.«

Mit diesen Worten im Ohr verließ Sam West das Haus, und Pippa kehrte zu ihrem Abendbrot zurück, auf das ihr allerdings inzwischen jeglicher Appetit vergangen war, wie sie ärgerlich feststellte. »Weil ich so allein bin«, sagte sie laut. »Wenn Pam jetzt hier wäre, dann hätten wir erst den richtigen Spaß daran.«

Gegen Ende der Woche ging sie wieder ins Krankenhaus, wo sie Jane bereits mit den aufgeregten Worten empfing: »Oh, da sind Sie endlich. Mrs. West kann’s gar nicht erwarten, Sie zu sehen«, und sie in das kleine Einzelzimmer führte, in dem Mrs. West ausnahmsweise liegen durfte. Pippa stutzte beim Anblick eines fremden Gesichtes, aber die Kranke streckte ihr eifrig die Arme entgegen.

»Oh, wie gut! Ich habe mir so gewünscht, daß Sie kommen. Raten Sie, wer das ist!«

Da brauchte man nicht lange zu raten, denn Mrs. Wests Augen sprachen beredt genug. Pippa lächelte und hielt dem Mädchen, das vom Stuhl neben dem Bett aufgestanden war, die Hand hin.

»Doris! Das ist ja wunderbar. Jetzt wird sich Ihre Mutter aber schnell wieder erholen.«

Doris war ein stilles, freundliches Geschöpf, nicht besonders hübsch, fand Pippa, aber sie sah nett aus. Ihre Augen blickten klar und offen, ihr Mund hatte einen versonnenen Zug. Sie war eigentlich genau so, wie Pippa sie sich vorgestellt hatte, bis auf eine deutlich spürbare innere Kraft, die man bei einem so jungen Mädchen kaum vermutete. Aber kein Wunder, dachte Pippa, sie hatte ja schon einiges durchgemacht. Ihre Stimme klang warm und ausgeglichen.

»Sie sind so gut zu Mama gewesen, Miss Knox, und es war mir eine große Beruhigung, daß Sie sich ihrer angenommen haben.«

»Ich hab’s gern getan. Aber nun sind Sie ja da und werden selbst nach dem Rechten sehen.«

»Ich wollte, ich könnte es, aber ich muß heute abend wieder nach Wardville.«

Das war ein unerwarteter Schlag. Pippa hatte fest geglaubt, Sam West habe, eingeschüchtert durch ihre Drohungen, nach seiner Tochter geschickt. Ihr war schon der Stolz über ihren Erfolg beinah zu Kopf gestiegen, und nun schien es, als sei dieses Wiedersehen gänzlich ohne ihr Zutun zustande gekommen.

»Heute abend schon? Können Sie nicht noch einen Tag bleiben?«

»Sie waren im Geschäft sogar sehr großzügig und haben mir drei Tage freigegeben, aber sehen Sie, nach Hause kann ich nicht, und sonst wüßte ich nicht wohin.«

»Dann übernachten Sie eben bei mir. Ich habe zwar kein Fremdenzimmer, aber wir können ein Feldbett im Wohnzimmer aufschlagen. Bitte, kommen Sie, Doris, es wäre doch lachhaft, wenn Sie jetzt weggingen und im Hotel schliefen. Wenn Sie bei mir wohnen, haben Sie auch viel mehr Zeit für Ihre Mutter.«

Sie verabredeten schließlich, daß Doris noch bis acht Uhr ihrer Mutter Gesellschaft leisten und dann zu Pippa kommen sollte. Als sie mit ihr zum Tor ging, sagte Doris: »Es ist sehr nett von Ihnen, mich einzuladen, aber ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann wegen — wegen Vater. Er wird toben, wenn er von meiner Anwesenheit erfährt, und jeden mit seinem Haß verfolgen, der mich aufnimmt. Er ist furchtbar nachtragend.«

»Keine Sorge, das läßt mich kalt. Und im übrigen, glaube ich, schätzt mich Ihr Vater sowieso nicht besonders«, was bestimmt noch zahm ausgedrückt war, wie Pippa in Gedanken hinzufügte.

Im Bett lag sie noch lange wach und dachte über die aufregenden Ereignisse des Tages nach.

Irgend etwas mußte geschehen, um Doris zurückzubringen, selbst wenn sie gezwungen sein sollte, mit dem widerlichen Vater noch einmal einen Kampf wegen des Briefes auszufechten. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er sie angestiert hatte, mit schuldbewußtem, zorngerötetem Gesicht. Er hatte einer in die Enge getriebenen Ratte geglichen, und Ratten sollten doch in ihrer Angst so gefährlich sein, hatte sie einmal gehört. James würde wahrscheinlich gesagt haben, sie spiele mit dem Feuer. Ach Unsinn, so schlimm würde es schon nicht werden, daß sie sich daran die Finger verbrannte. Niemand führte Böses gegen sie im Schilde, das traute sie keinem zu. So etwas kam auch im wirklichen Leben nicht vor, nur in Gruselgeschichten schwebte die Heldin in tödlicher Gefahr, weil sie ein belastendes Dokument besaß.

Bei diesem Gedanken überkam Pippa wieder das Lachen, und obwohl sie den Kopf in die Kissen vergrub, um es zu ersticken, wurde Mohr davon aufgestört, erhob sich leise und legte die Schnauze auf die Bettkante. Sie streichelte ihn und drehte sich auf die andere Seite. Es hatte schon vor längerer Zeit Mitternacht geschlagen, und sie mußte jetzt endlich schlafen.

Aber gerade in diesem Moment vernahm sie einen schwachen Laut und streckte die Hand aus, um Mohr am Bellen zu hindern. Draußen vor dem Haus bewegte sich jemand, sehr vorsichtig und verstohlen. Sie fühlte, wie Mohr zitterte, und flüsterte eindringlich: »Ruhig, Mohr... Ruhig, sage ich.« Er knurrte nicht, aber sein Körper blieb gespannt, und sie merkte, daß er angestrengt lauschte.

Dann herrschte wieder Stille. Die Bibliothekstür hatte sie offengelassen, als sie mit Doris hereinkam. Wahrscheinlich war nur einer auf der Straße vorübergegangen. Sie legte sich zurück, aber Mohr stand noch immer lauschend und sprungbereit.

Da war das Rascheln abermals und gleich darauf, sehr behutsam, kaum zu hören, ein Schritt auf der Veranda.