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»Geh aaus, mein Herz und su-hu-che-e Freud«, schmetterte Pippa mit der vollen Kraft ihrer gesunden Lungen in die morgendliche Stille. Nur schade, daß sie überhaupt nicht singen konnte. Allen Anstrengungen zum Trotz brachte sie nur ein paar unzusammenhängende falsche Töne heraus, deren sie sich selbst schämte. Deshalb betätigte sie ihre Stimme auch nur, wenn sie allein war — und allein war sie jetzt. Endlich.

Ein schwer mit Flaschen und Kannen beladener Milchmann blieb stehen und grinste ihr zu. Pippa lächelte strahlend zurück. Sie war eben unverbesserlich herzlich, wie James Maclean tadelnd zu bemerken pflegte. Inzwischen hatte sie schon einem Lastwagenfahrer, zwei Verkehrsschupos und einem müde heimwärts wandernden Reporter fröhlich zugewinkt.

Aber ihre überschwengliche Freude war vollauf gerechtfertigt, denn heute begann für Pippa ein neues Leben. Ein herrliches Leben in Freiheit, und nicht nur für einen Tag lang wie bei Brownings Pippa. In loser Anlehnung an das Gedicht zitierte sie laut: »Der junge Tag erwacht, die siebente Stunde naht — «, aber das stimmte nicht, stellte sie mit Befriedigung fest. Es war erst knapp sechs Uhr.

Die letzten vierundzwanzig Stunden waren nicht so ungetrübt verlaufen. Sie hatte die meiste Zeit damit zugebracht, zwar einerseits mit Trauer im Herzen, aber andererseits auch mit großer Umsicht und Entschlossenheit, ihre zwölfhundert Bücher aus der Bibliothek des alten Gelehrten auszuwählen, ständig unter den kalt beobachtenden Blicken einer feindseligen Nichte, die sich kaum die Mühe nahm, ihre Absicht zu bemänteln — diese kleine, selbstbewußte Sekretärin sollte die ihr zustehende Anzahl von Büchern haben, aber nicht ein einziges mehr.

»Eine seltsame Auswahl«, bemerkte sie spitz, als sie mit pedantischer Genauigkeit die Stapel kontrollierte. »Man sollte es kaum für möglich halten, daß ein geistig so hochstehender Mann derartigen Schund in seinen Regalen stehen hat.«

»Aber er sammelte doch leidenschaftlich Kriminalromane«, verteidigte Pippa ihren alten Freund hitzig. »Alle wirklich großen Persönlichkeiten haben eine Vorliebe dafür.« Sie hoffte, daß dieser Hieb gesessen hatte. —

»Widerliche Ziege. Tat genau so, als ob ich mich mit dem Plan bei ihm eingeschmeichelt hätte, um ihn zu beerben«, erzählte sie entrüstet ihrem Vetter und juristischen Berater, der sie zu einem Abschiedsdiner ausführte.

»Ich glaube, nicht einmal Miss Murdoch könnte dir ein planvolles Verhalten nachsagen«, versetzte er anzüglich, aber sie überhörte den Sarkasmus und fuhr unbekümmert fort:

»Ich habe ihnen doch nichts weggenommen. Für sie alle bleibt immer noch ein Haufen Geld übrig, auch wenn ich meine tausend Pfund abkriege.«

»Wenn es um das Testament eines reichen Mannes geht, ist nach Ansicht der Erben nie genug Geld da«, erwiderte James mit müdem Zynismus.

»Und dann bin ich nach Hause gegangen und habe der gräßlichen Mrs. Smith gekündigt. Das hat mir wieder wohlgetan.«

»Deiner Wirtin? Und wo willst du wohnen, bis du dein Eldorado entdeckt hast?«

»Oh, das werde ich innerhalb von acht Tagen finden«, meinte sie mit beneidenswerter Zuversicht.

»Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wo du überhaupt suchen sollst, wie?«

»Ich sagte dir’s doch. Im Norden, wo es keinen Winter gibt, wo der Himmel ewig blau und der Sand wie Gold ist«, deklamierte sie wie eine Reisereklame und schwenkte den Arm in der Richtung, die sie für Norden hielt.

Ja, und jetzt war sie wirklich auf dem Wege dorthin.

Es war noch wunderbar früh. James hatte ihr gestern Balduin bis vor die Haustür gebracht mit dem Hinweis, das kleine Scheusal wäre nun soweit in Form, daß man ihm vielleicht eine kleine Fahrt zutrauen könne. Darauf hatte sie noch während der Nacht ein Minimum an Campingausrüstung in den Fond gepackt und sich heimlich, still und leise kurz nach fünf Uhr davongestohlen.

Es war ein bezaubernder Novembermorgen, und sie hatte bereits die letzten Ausläufer der Stadt hinter sich gelassen. Hier, auf dem freien Lande würde sie ihre Wahlheimat finden, hier den Lebensweg anderer Menschen kreuzen wie die andere Pippa — »Natürlich ohne zu singen«, bemerkte sie mit einem winzigen Rest von einschränkender Selbsterkenntnis — und alle wollte sie beeinflussen — alle! Mr. Murdoch würde wohl gelächelt haben, hätte er den entrückten Glanz innerer Berufung aus ihren blauen Augen leuchten sehen. James Maclean dagegen hätte eine Katastrophe prophezeit.

Immerhin hatte er ihr einen, wenn auch recht lauwarmen, Heiratsantrag gemacht, und das gab ihrem Selbstbewußtsein neuen Auftrieb.

Nicht etwa, daß sie in dieser Beziehung bisher leer ausgegangen war, o nein! Darauf konnte sie mit Stolz pochen. Verschiedene Kollegen hatten ihr von Heiratsabsichten gesprochen — >wir könnten ja ruhig beide weiterhin unseren Beruf ausüben< — und sogar ein Geschäftsführer war darunter gewesen, wenn auch nur ein stellvertretender, wie sie mit anerkennenswerter Ehrlichkeit zugab. Auch in dem Hotel, wo sie gelegentlich arbeitete, hatte sie Bewunderer gehabt, denn ihre blauen Augen und ihr freundliches Lächeln übten auf alle eine gewisse Anziehungskraft aus. Aber nichts wirklich Aufregendes war geschehen, seufzte sie traurig. Nichts, aber auch gar nichts Romantisches.

Im Grunde hatte sie allerdings bis jetzt nie Sehnsucht danach verspürt. Sie hatte immer tüchtig zu tun, damit die Rechnung am Ende stimmte, und gerade in dieser Beziehung hatte es Pippa nicht leicht, Sicher, sie war zu Tanzereien und ins Kino mitgenommen worden, aber für gewöhnlich spielte sich ihr Leben zwischen der täglichen Tretmühle im Büro, der Hetzjagd zum Omnibus, der sie wieder nach Hause brachte, und diesem >Zuhause< selbst ab, zwei nüchternen Zimmern, deren abstoßende Häßlichkeit nur durch die paar Möbel ihrer Mutter einigermaßen gemildert wurde. Dazu im Hintergrund stets die ewig nörgelnde Wirtin und über ihr der Lärm einer kinderreichen Familie.

Aber, gestand sie sich rasch, das alles wurde überstrahlt und verschönt durch Pamela. Pam, deren Abenteuer und Romanzen auch auf sie einen Abglanz warfen. Pam, ihre begüterte Schulfreundin, ihre treue Verbündete bei allen kindlichen Streichen und verläßliche Helferin durch die späteren Wechselfälle des Schicksals hindurch. Pam Mannering besaß alles, Schönheit, ein entzückendes Haus, einen Schwarm von Verehrern, sie genoß ihr Dasein ohne Sorgen und konnte sich jedes Vergnügen leisten. Auch Pippas Leben hatte sich einst so abgespielt, aber nachdem sie arm geworden war, hatte sie es vorgezogen, nicht weiter an dem ihrer Freundin teilzunehmen. Trotzdem bestand die herzliche Verbundenheit zwischen ihnen heute genauso wie früher, und als Pam eines Tages von ihren stets nachsichtigen, aber schließlich doch erbitterten Eltern den Armen eines zwar charmanten, aber ganz und gar unpassenden jungen Mannes entrissen und nach England geholt wurde, fühlte sich Pippa schrecklich verlassen und einsam.

Darüber war nun ein Jahr ins Land gezogen und wieder hingegangen, und mit ihm der charmante, aber unpassende junge Anbeter. Gleich nachdem Pippa von ihrer Erbschaft erfahren hatte, schrieb sie ausführlich an Pam über ihre Pläne. Und gestern war als Antwort ein teures Telegramm eingetroffen: >Liebling, wie wunderschön. Stop. Ein Geschenk des Himmels. Stop. Fahre in drei Monaten hier ab. Stop. Werden herrliche Stunden in deiner Leihbücherei verbringen< Und ob! Das stand für Pippa so fest wie nur etwas. Und während sie sich dieses Zukunftsbild ausmalte, vergaß sie sogar noch vorübergehend ihre Begeisterung für das selbstlose Ziel, das sie sich gesetzt hatte.

Inzwischen war es acht Uhr geworden, und sie verspürte Hunger. Die letzte, spärliche Siedlung hatte sie schon vor einer ganzen Weile passiert, und fern am Horizont zeichnete sich das Meer als kaum sichtbarer blauer Streifen ab. Sie mußte bereits eine ziemlich lange Strecke zurückgelegt haben. Zu dumm, daß sie nicht auf den Tachometer geschaut hatte, als sie wegfuhr, denn nun wußte sie überhaupt nicht, wie weit sie war. Die Straße führte an hohen Bergen entlang, der Blick über die Landschaft war unvergleichlich schön, und gerade an dieser Stelle kreuzte ein schmaler Fluß die Straße. Hier wollte sie ihren Tee trinken und den Ausblick genießen.

Sie kramte aus dem Gepäck im Rücksitz den Primuskocher aus, den sie leichtsinnigerweise am vorhergehenden Tag erstanden und von dem ihr der Angestellte im Laden versichert hatte, daß jedes kleine Kind damit fertig werden könne, es sei einfach unmöglich, dabei irgend etwas falsch zu machen. Und obwohl Pippa technischen Errungenschaften völlig hilflos gegenüberstand und äußerst mißtrauisch war, hatte sie ihn dennoch gekauft, teils, um den jungen Mann, der ihn so überzeugend anpries, nicht zu enttäuschen, teils auch, weil sie im Anzünden von offenen Feuern im Freien nicht die geringste Erfahrung hatte und sich das klägliche Endergebnis sehr genau vorstellen konnte.

Sie füllte also ihren kleinen Kessel am Fluß und näherte sich tapfer entschlossen dem Öfchen, das an einer geschützten Stelle hinter dem Wagen auf sie lauerte und ihr in boshafter Erwartung entgegenblickte. Mit größter Sorgfalt befolgte sie alle Gebrauchsanweisungen mit dem Erfolg, daß es tückisch fauchend aufflackerte und sofort wieder mit dumpfem Puffen verlöschte.

»Ja, gibt’s denn so was?« stöhnte sie anklagend über die leere Landstraße und fing beherzt noch einmal von vorn an.

Diesmal beinah mit dem Resultat, daß ihre Locken in Brand gerieten, worüber sie heftig erschrak, denn die betrachtete sie mit besonderem Stolz als eines ihrer Hauptschönheitsmerkmale. »Mein Haar und meine Augen«, sagte sie vor sich hin, während sie mit verschwenderischer Großzügigkeit Spiritus nachschüttete. »Aber immer noch lieber meine Wimpern als Balduin.«

»Da bin ich anderer Ansicht«, ließ sich eine charmante Stimme vernehmen. »Tausendmal lieber den unbekannten Balduin als Ihre entzückenden Wimpern.«

Pippa sprang mit einem Satz in die Höhe und wurde puterrot. Niemand wird gern bei Selbstgesprächen überrascht, aber durch ihr häufiges Alleinsein war Pippa daran gewöhnt, selbst ihre einzige Zuhörerin zu sein, und der Primuskocher hatte so laut gefaucht, daß sie das Herangleiten des eleganten Wagens, der jetzt neben ihr hielt, nicht bemerkt hatte. Sie blickte abweisend auf den zudringlichen Störenfried, aber er lächelte ungeniert zurück und nahm ihr ohne viel Umstände den widerspenstigen Feuerspeier aus der Hand. Hübsch war er nicht, stellte sie bei sich fest, dagegen schien er kolossal von sich überzeugt zu sein, und sein Lächeln hatte unbestreitbar etwas Gewinnendes.

»Ich bin ein wahrer Hexenmeister, was Primuskocher anbetrifft. Lassen Sie mich mal versuchen«, sagte er.

Sie sah ihn einen Moment zögernd und skeptisch an, da rief plötzlich eine Stimme aus dem Wagen: »Mark, mach keinen Unsinn. Bitte, verzeihen Sie ihm. Er ist verrückt, aber harmlos, und von Primuskochern versteht er wirklich etwas.« Eine große, schlanke Frau entstieg dem schnittigen Gefährt.

Seltsam, dachte Pippa erstaunt, wie sich beinah gleiche Gesichtszüge mit dem gleichen Kontrast von hellem Teint und dunklem Haar durch ganz leichte Modellierungen und Verfeinerungen hier und dort vom Durchschnitt in Schönheit verwandeln lassen. Die beiden waren Geschwister, das sah man auf den ersten Blick, aber während der Bruder anziehend üblich wirkte, besaß die Schwester neben dem gleichen Charme noch Grazie und fast klassische Schönheit.

Pippa lächelte und stand auf, denn der junge Mann hatte das feuerspeiende Ungetüm mittlerweile vollständig gezähmt. »Ich habe Ihren Wagen gar nicht gehört. Aber kein Wunder, er läuft ja auf Samtpfoten, nicht wie mein armer Balduin, der klappert und spuckt.«

»Ach so, das ist Balduin«, rief der Bruder. »Gott sei Dank, ich kann wieder freier atmen. Als ich hörte, daß Ihnen sein Leben kostbarer sei als Ihre Augenwimpern, fühlte ich natürlich einen gewissen Stachel in meiner Seele.«

»Mark muß immer solchen Schmus machen, wenn er mit Mädchen spricht«, bemerkte seine Schwester gelassen. »Er kann einfach nicht anders. Sie müssen das nicht weiter beachten... Na also, er scheint ihn doch in Gang gebracht zu haben«, und damit wendete sie sich wieder ihrem Wagen zu.

»Ja, jetzt funktioniert er großartig«, antwortete Pippa. »Ich werde hoffentlich eines Tages auch noch lernen, mit ihm umzugehen. Aber das Wasser kocht gleich. Möchten Sie nicht einen Schluck Tee haben?«

Die junge Frau lächelte.

»Du hast gewonnen, Mark«, sagte sie trocken, holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche und gab sie ihm. Dann drehte sie sich wieder zu Pippa um: »Wissen Sie, wir haben nämlich gewettet. Dabei trifft mich die Schuld, weil ich die Thermosflasche vergaß. Wir sind Stunden um Stunden gefahren, ohne irgendwo eine Tasse Tee auftreiben zu können. Da sahen wir Sie, wie Sie sich abrackerten, und Mark sagte sofort: >Ich wette mit dir um eine Schachtel Zigaretten, daß sie uns zum Tee einlädt.<«

Pippa lachte, und der junge Mann zuckte in komischer Verzweiflung die Schultern. »Schwestern müssen einen immer blamieren... Aber wir nehmen natürlich mit tausend Dank an — eine Tasse Tee wäre herrlich. Übrigens, ich heiße Mark Marvell, und das ist meine Schwester Margaret. Blöde Namen. Wie ‘ne Herde Schafe. Ma-a-a. Aber mein Vater war Schaffarmer.«

»Im Gegenteil, ich finde sie sehr hübsch. Meiner ist ganz einfach Pippa Knox. Hurra, das Wasser kocht! Aber woraus wollen Sie trinken? Ich besitze nur eine einzige Tasse.«

»Ja — der kluge Mann baut vor«, erklärte Mark gewichtig. »Ich bin immer bestrebt, für den Notfall gerüstet zu sein.« Damit brachte er aus dem Handschuhfach zwei Gläser zum Vorschein.

»Besonders für alkoholische — die ergeben sich am häufigsten«, ergänzte seine Schwester und ließ sich mit elegantem Schwung auf einer Grasböschung nieder.

Während sie ihren Tee tranken, flogen die Worte munter und witzig hin und her. Von keiner Seite wurden Fragen gestellt, und das gefiel Pippa ganz besonders. Für den Augenblick vergaß sie die erträumte Missionarrolle vollständig und schwelgte in ihrer neugewonnenen Freiheit. Aber schon sehr bald warf Mark einen Blick auf die Uhr und sprang auf.

»Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch zu unserem Wollverkauf zurechtkommen wollen. Unsere Firma öffnet um zehn Uhr, und das werden wir gerade noch mit Mühe schaffen. Höchst bedeutsame Angelegenheit, wissen Sie. Schwergeplagter Farmer harrt voll atemloser Spannung, wie über das Produkt seiner monatelangen sauren Fronarbeit innerhalb von knapp drei Minuten entschieden wird.«

»Na, die atemlose Spannung sieht man Ihnen aber kaum an«, meinte Pippa lächelnd und fügte in Gedanken hinzu: >Schwergeplagter Farmer — das glaubt er ja wohl selbst nicht !<

»Oh, ich bin ein armes, zerrütetes Nervenbündel, nur durch eiserne Disziplin mühsam aufrechterhalten. Komm schnell, Peg.«

Seine Schwester erhob sich entschuldigend. »Ja, ich fürchte, er hat recht, wir müssen weiter. Es ist nämlich wirklich ein großer Tag für uns, verstehen Sie. Jedermann aus der Umgegend ist da, jeder schimpft oder prahlt über die Preise, und am Schluß, wenn das Ganze vorüber ist, sind doch alle sehr vergnügt. So sehr, daß ich ahne, mir fällt wieder das Los zu, heute nacht am Steuer zu sitzen und die endlosen dreihundert Kilometer zurückzufahren... Also herzlichen Dank für den Tee. Ich hoffe, der Primuskocher benimmt sich von jetzt ab anständig, oder es läuft Ihnen wieder ein vorwitziger junger Mann über den Weg, der Ihnen hilft.«

Mark grinste gewinnend und meinte, sie würden sich bestimmt wiedertreffen, er spürte das am Prickeln seiner Daumen. Dann winkte er übermütig zum Abschied, setzte den schönen Wagen in lautlos gleitende Bewegung, und weg waren sie.

Pippa sah ihnen ein bißchen sehnsüchtig nach. Sie waren so glücklich und vergnügt, so selbstsicher und einträchtig. Sie spülte ihre Tasse im Fluß aus, packte den Kocher wieder ein und kletterte gedankenvoll in ihren Balduin. Es mußte wunderschön sein, Wolle zu besitzen, die man verkaufen konnte, >jedermann< zu treffen, einen eleganten Wagen zu fahren und dazu noch einen netten amüsanten Bruder zu haben.

Aber die wehmütige Stimmung verflog im Nu wieder. Allein zu sein, machte doch gar nichts aus. Nur auf die Freiheit kam es an, und frei war sie nun wirklich. Frei und obendrein auf dem Weg in eine neue, unbekannte Welt.

Nur schade, fand sie nach einer Weile, daß die Straße in ihre neue Welt so hohe Anforderungen an den Autofahrer stellte. Die Teerdecke hatte längst aufgehört, und der Schotter war hart und uneben. Pippa hatte keine Erfahrung mit schlechten Wegen, denn ihre kurzen Ausflüge mit Balduin waren immer von den paar Litern Benzin abhängig gewesen, die sie erschwingen konnte, weshalb sie kaum über die Stadtgrenze hinausgekommen war. Aber das gehörte eben alles zu den Entdeckungen des neuen Lebens.

Gegen ein Uhr machte sie in einer größeren Ortschaft Rast und stärkte sich an einem frugalen Imbiß aus Fischbrötchen. Von nun an boten Landschaft und Wege ein völlig verändertes Bild. Sie kannte das nördliche Buschland noch nicht, denn die eine Urlaubsreise damals mit ihrer Mutter hatte sie im Flugzeug zurückgelegt, und sonst war sie während der Ferien meistens in der Stadt geblieben oder hatte sie in der kultivierten Atmosphäre großer Farmbesitzungen wie Hawkes Bay und Poverty Bay verbracht. Dies war mit nichts zu vergleichen, was sie bisher gesehen hatte. Überrascht erlebte sie den jähen Wandel von reichem Weideland zu schroffen, fast kahlen Berghängen, nur mit vereinzelten Teesträuchern oder Farnen bewachsen, ein Wechsel, wie er für den Norden Neuseelands so charakteristisch ist. Sehr schnell wurden die Gehöfte seltener, der Boden ärmer, das Vieh spärlicher, und ab und zu fuhr sie kilometerweit über völlig verödetes Land, das einstmals durch Gummiplantagen ausgebeutet worden war und auf dem jetzt nicht die kleinste Farm oder die bescheidenste Hütte mehr stand.

Das erschreckte und deprimierte sie zugleich. Nein, in einem von diesen häßlichen kleinen Dörfern wollte sie nicht wohnen, in dieser von Armut und Enttäuschung gezeichneten Gegend, zwischen Menschen, die sich für eine magere Ernte so abplagen mußten, daß sie wahrscheinlich kaum Zeit zum Lesen hatten, geschweige denn Geld für ein Buch ausgeben würden. Und außerdem wollte sie ja auch am Meer leben, aber das hatte sie inzwischen vollständig aus den Augen verloren, dagegen schien es ihr jetzt fast, als führe sie immer mehr landeinwärts. Womöglich war sie gar von der Hauptstraße nach Norden abgekommen.

Um vier Uhr zweifelte sie nicht mehr daran. Ihr erträumtes Paradies schien in weitere Ferne gerückt denn je zuvor, obwohl es ihr nun wieder so vorkam, als näherte sie sich dem Meer, denn in der Ebene unter sich erblickte sie eine flache Schlammlache, offenbar einen von der Flut zurückgebliebenen Strandsee. Verkrüppelte Mangrovenbäume spreizten ihre häßlichen, knorrigen Äste über den Boden, und ein träger Strom wühlte sich seinen Weg zur unsichtbaren Küste hin. Pippa hielt im Schatten eines Pohutukawa-Baumes am Rand der Straße und entschied sich für eine Tasse Tee, um ihre Lebensgeister wieder aufzufrischen.

Diesmal benahm sich der Primuskocher gesittet, und während sie trank, versuchte sie auf der Karte, die James ihr mitgebracht hatte, herauszufinden, wo sie eigentlich war. Aber vor dem Wirrwarr geographischer Linien und Punkte grauste Pippa ebenso wie vor Primuskochern, und so kam sie ziemlich bald zu der bedrückenden Feststellung, daß sie sich nirgendwo befand und gab es auf. Sie saß da, paffte eine Zigarette nach der anderen mit der Hingabe eines Menschen, dem Rauchen bisher als unerschwinglicher Luxus erschienen war, und beobachtete die Herden von winzigen Krabben, die über den Schlamm wimmelten. Wieder befielen sie Zweifel. Würde sie wirklich das kleine Paradies finden, das sie sich in ihrer Phantasie ausgemalt hatte? Vorläufig sah es nicht danach aus.

Sie wußte ganz genau, was sie suchte. Nichts Idyllisches, nicht das >Eldorado<, über das James sich so mokiert hatte, nur ein anspruchsloses Landstädtchen am Meer, wo die Wogen sanft über den goldenen Sand rollten und in der Frühe und am Abend jener schwache, exotische Geruch in der Luft lag, der in ihrer Vorstellung etwas >Tropisches< hatte. Es brauchte auch nicht viele Einwohner zu haben, nur gerade so viel, daß sie ihr bescheidenes Auskommen fand, nicht Leute wie Margaret und Mark Marvell, nein, das erwartete sie gar nicht. Nette, freundliche Menschen, die hart arbeiteten und Entspannung nötig hatten, die sie gern in ihre Mitte aufnehmen würden, weil sie frischen Wind mitbrachten. Und dafür wollte sie schon sorgen, dachte Pippa mit kühnem Unternehmungsgeist, was, wie man leider befürchten muß, auf Mr. Brownings Einfluß zurückzuführen war.

Als sie wieder einstieg und weiterzufahren begann, merkte sie, daß sie müde wurde. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, und sie hatte viele Stunden am Steuer gesessen. Niemals hätte sie sich träumen lassen, daß sie mit Balduin eine so weite Reise unternehmen würde. Ihr ursprünglicher Plan, im Wagen zu übernachten, erschien ihr jetzt doch immer weniger verlockend, und sie beschloß, heute abend noch einmal großzügig zu sein und im ersten hübschen, kleinen Hotel zu bleiben, an dem sie vorüberkommen würde. Morgen war immer noch Zeit, zu sparen und im Auto zu kampieren.

Um sechs Uhr erblickte sie ein großes Schild mit der Aufschrift >Hotel Wardville, 1 km<. Sie bog in den Seitenweg ein und gelangte an ein schäbiges, einstöckiges Gebäude, das auf seinen hochtrabenden Namen auch nicht den geringsten Anspruch erheben konnte. Von einem Dorf war fast überhaupt nichts zu entdecken, ein Kramladen, ein Postamt, eine Tankstelle, ein zerfallenes Gemeindehaus und dann dieser Gasthof, das war alles. Sie zögerte, stieg aber schließlich doch aus. Zumindest bedeutete es ein Bad, etwas zu essen und ein Bett für die Nacht, dachte sie.

Doch bei näherer Betrachtung erwies sich das Ganze als alles andere als einladend. Die Eingangshalle lag dunkel und verlassen da, und durch eine offene Tür blickte sie in die qualmige, überfüllte Gaststube, in der ein schmierig aussehender Mann Biergläser über die schmutzige Theke schob. Nachdem sie einen Moment unschlüssig gewartet hatte, machte sie entschlossen wieder kehrt. Nein, dann wollte sie doch lieber im Wagen schlafen, da atmete sie wenigstens frische, saubere Luft. Sie erstand im Dorfladen eine Büchse geräucherte Zunge und ein paar Salzkekse und erfuhr dabei, daß sie den falschen Weg genommen und etwa dreißig Kilometer vorher von der Hauptstraße abgekommen sei. Aber die Richtung stimmte, versicherte ihr der Jüngling, der sie bediente, und bis zur Küste sei es nicht mehr weit.

Sie war erst ein kurzes Stück wieder über den Wegweiser hinaus, als sich die Umgebung abermals zu verändern begann, und zwar sehr zu ihrem Vorteil. Die Sümpfe und zerklüfteten Berghänge blieben ebenso plötzlich zurück, wie sie vorhin aufgetaucht waren, und sie fuhr mitten durch fruchtbares Wiesen- und Ackerland. An den Hügeln blühten dichte Büschel von Kauris und Puriris, und aus einer grünen Schlucht unter ihr ertönte das heitere Abendlied eines Tui-Vogels. Sofort begann sie wieder froh und vergnügt zu werden. Ja, das sah wirklich vielversprechend aus.

Nach etwa sieben Kilometern fiel die Straße plötzlich steil ab und kam unmittelbar an der Küste heraus. Das Meer! Pippa hielt an, blieb still sitzen und staunte.

Eine zauberhafte Abendstimmung lag über der Weite, die sich vor ihr ausbreitete. Die Sonne sank am rosig-goldenen Himmel und betupfte die Schaumkronen der Wellen mit farbigem Glanz. Kein Haus war zu sehen, so weit das Auge reichte, und die Straße schien kilometerweit dem flachen Bogen des Strandes zu folgen. Darüber erhoben sich sanfte grüne Hügel, hier und da dunkler gefleckt von einheimischem Baumbestand, kein krüppeliges Unterholz, sondern richtiger Busch, wie sie ihn aus Schilderungen vom Norden kannte. Dies war das Fleckchen Erde, das sie sich erträumt hatte.

Aber nirgends gab es Anzeichen einer menschlichen Siedlung, nicht einmal eine Hütte oder Scheune war zu entdecken, was sie um so mehr verwunderte, als der Boden offensichtlich seit langem nutzbar gemacht und kultiviert worden war. Frischgeschorene Schafe und wohlgenährte schwarze Rinder weideten auf solide eingezäunten Koppeln, ein Anblick, der ihr das Herz im Leibe lachen ließ. Die Menschen, denen dieses Land gehörte, mußten sorglos und glücklich sein und daher auch Zeit für Bücher haben. Einstweilen wollte sie sich, wenigstens für heute abend, in dem freundlichen, sauberen Hotel einquartieren, das sich sicherlich hier ganz in der Nähe befand. Sie konnte es sich deutlich vorstellen: ein von breitästigen Bäumen beschattetes, altertümliches Haus am Strand, wo die sonnengebräunten Fischer abends auf ein Gläschen und ein herzhaftes Essen einkehrten und wo es lustig und urgemütlich zuging.

Allmählich fühlte sie sich recht schläfrig, und wie von ungefähr fielen ihr die Zeilen eines Gedichtes ein, das sie einmal gelesen hatte. »Gott lächelt von seinem Thron«, murmelte sie. »Und siehe, die Welt ist gut«, und fügte mit einem glücklichen Seufzer hinzu: »Ich bin frei — frei — frei!« Die Melodie der Worte schmeichelten sich in ihr Herz und ihre Sinne ein, bis ihr schien, als ob die Wellen sie nachraunten und selbst Balduin den Rhythmus aufnahm >frei — frei<, während seine Räder mit leisem Zischen den sandigen Weg entlangknirschten.

Zischen! Pippa kehrte mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück und merkte zu ihrem Entsetzen, daß da tatsächlich etwas zischte. Es kam vom linken Hinterreifen und kündete keineswegs die Morgenluft der Freiheit an, sondern Luft, die sich befreite — kurz, einen Plattfuß. Mit einem höchst unzarten Ausruf hielt sie an und stieg aus.

Eine halbe Stunde später gebrauchte sie einen noch derberen Ausdruck, schmiß sämtliche Werkzeuge wieder in den Kasten zurück und manövrierte Balduin mit seinem platten Hinterrad seitwärts auf den Grasstreifen. Es hatte keinen Zweck. Sie konnte das Unglücksgefährt nicht einmal heben, und einen Reifen hatte sie in ihrem Leben auch noch nicht ausgewechselt, trotz James’ wiederholter Ermahnungen, sich die nötigen Handgriffe anzueignen, bevor sie der Zivilisation mit ihren Reparaturwerkstätten den Rücken kehrte. Sie schnitt in Erinnerung an ihn eine Fratze und kramte den Primuskocher wieder hervor. Wie gut, daß sie sich noch Proviant gekauft hatte, denn mit dem Übernachten in einem freundlichen, sauberen Hotel war es für heute Essig.

Die Dunkelheit senkte sich herab, als sie sich in ihre Decken wickelte und auf dem Rücksitz zusammenrollte. Ein Glück, daß ihre Beine nicht sehr lang waren. Sie ließ die Tür offen, denn die Nacht war schwül, und lauschte dem Gemurmel der Wellen. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel, und ein einzelner Stern spiegelte sich zitternd auf der Wasserfläche. Ein idealer Campingplatz. Morgen früh würde schon irgendein hilfsbereiter Farmer oder ein netter Lastwagenfahrer vorbeikommen und ihr den Reifen auswechseln. Währenddessen glitt sie langsam in einen sanften Traum hinüber.