10
Es war fast dunkel, als sie daheim ankamen, und das Haus lag still und leer. Pippa schob das traurige Gefühl, das sie bei diesem Gedanken beschleichen wollte, von sich, gab Mohr sein Fressen, aß selbst zu Abend und ließ sich dann mit einer Zigarette vor dem bescheidenen Stapel neuer Bücher nieder. Sie wollte sie in Schutzhüllen einschlagen, stempeln und die Datumskarten einkleben, einen flüchtigen Blick hineinwerfen und sich ein paar Notizen dazu machen, die sie heimlich benutzen konnte, wenn jemand eine Auskunft darüber verlangte. Sie wußte schon im voraus, was die Leute fragen würden.
Sind viele Unterhaltungen drin, Miss Knox? Ich mag gern, wenn immerzu gesprochen wird.
Meine Liebe, ich möchte, daß es gut endet. Kriegen sie sich am Schluß?
Sie kennen doch meinen Geschmack. Ist dies wohl das richtige?
Hoffentlich kommen nicht so viele Landschaftsbeschreibungen darin vor, was? Die sind so langweilig.
Sie würde alles mit überlegener Sachkenntnis beantworten, so daß sie beim Weggehen wieder untereinander lobend konstatieren würden, was für eine umfassend gebildete und belesene Person sie sei. Empört über sich selbst schob sie die Bücher zur Seite und nannte sich eine gewissenlose Schwindlerin. Machte ihr das wirklich alles so viel Spaß?
Aber schon im nächsten Moment machte sie sich wieder an die Arbeit. Sie verachtete Menschen, die ihren Launen nachgaben oder die eine Arbeit anfingen und ihrer dann überdrüssig wurden. Einfach müde war sie, weiter nichts, und nach den beiden letzten Tagen, an denen sie immer so spät zu Bett gekommen war, war das auch kein Wunder. Neun, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest. Sie wollte für heute Schluß machen und sich die restlichen Bücher morgen vornehmen.
Mohr, der wie gewöhnlich mit dem Kopf auf ihrem Fuß gelegen hatte, erhob sich mit einem Seufzer der Erleichterung. Aber plötzlich stutzte er, lauschte und stieß ein dumpfes, drohendes Knurren aus. Gleich darauf hörte sie einen Schritt auf der Veranda und dann ein leises, eiliges Klopfen.
Im ersten Moment überfiel sie eine dumme Nervosität, und sie war froh, Mohrs Kopf unter ihrer Hand zu spüren, als sie in die Bibliothek ging und das Licht anknipste. Das Pochen wiederholte sich, gedämpft, aber dringlich.
»Nieder, Mohr, sofort nieder!«
Wie immer gehorchte er aufs Wort, aber sie sah, wie sich seine Rückenhaare sträubten.
Sie öffnete die Tür und rief aufatmend aus: »Oh, Sie sind’s«, als Dr. Horton rasch über die Schwelle trat.
Er erwiderte beruhigend, aber in auffallend vorsichtigem Ton: »Ziemlich spät für einen Besuch, aber ich möchte Freddy sprechen. Darf ich die Tür zumachen?«
Verwundert über seine geheimnisvolle Art folgte sie ihm ins Wohnzimmer.
»Freddy ist nämlich nicht zu Hause«, fuhr er fort. »Könnte er bei Ihnen im Garten sein?«
»Ich glaube nicht, denn Mohr knurrt sonst immer, sobald er seine Nähe wittert, und Amanda meckert nach ihm, weil er ihr oft Biskuits mitbringt. Wollen Sie etwas Bestimmtes von ihm?«
»Ja«, antwortete er nur und verschwand durch den Hinterausgang. Aber im Schuppen war nichts zu sehen. Er kam wieder zurück und schloß die Tür sorgfältig hinter sich.
»Miss Knox, ich fürchte, Freddy hat krumme Sachen gemacht. Treibt Alkoholschleichhandel in Ihrem Schuppen.«
»Alkoholschleichhandel? Wie meinen Sie das?«
»Kauft unterwegs auf seinen Fahrten Schnaps auf und verhökert ihn hier wieder mit Profit. Und wo keine Gastwirtschaft ist, besteht ja immer Nachfrage, leider.«
»Aber so was würde Freddy doch nie tun.«
»Alte Gewohnheit von ihm, und jetzt hat er wieder damit angefangen. Die Polizei war ihm schon eine ganze Weile auf der Spur, nur hat der Dorfpolizist, der ein Freund von ihm ist, meistens ein Auge zugedrückt. Aber jetzt machen sie eine überraschende Suchaktion und stöbern überall nach der Schleichware herum. Freddy scheint sich verduftet zu haben, ich kann ihn nicht auftreiben; den Schnaps werden sie bestimmt hier finden, wahrscheinlich hat man ihnen sogar einen Wink gegeben. Natürlich wird niemand annehmen, daß Sie etwas damit zu tun haben, aber es würde Staub aufwirbeln, Sie müßten womöglich als Zeuge vor Gericht erscheinen, und das wäre alles sehr unerfreulich.«
Eine lange Rede für den sonst so schweigsamen Doktor, die deshalb auch nicht ihre Wirkung auf Pippa verfehlte.
»Oh, aber Sie müssen sich irren. Freddy würde mir das nie antun.«
»Ich gebe zu, es paßt nicht zu seinem Charakter, obwohl er manchmal schon ein bißchen skrupellos ist. Diesen Handel betreibt er schon geraume Zeit, aber er war immer gezwungen, sein Zeug hin- und herzutransportieren. Ihr Schuppen dürfte ihm für seine Zwecke sehr dienlich gewesen sein.«
»Aber wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
Er wich ihrer Frage aus, und sie erinnerte sich, daß sein Faktotum Bates für seine gelegentlichen Sauftouren bekannt war.
»Ein Arzt erfährt beinah alles, aber von dieser Sache hörte ich erst heute nachmittag. Da bin ich sofort zu ihm gegangen, um ihm zu sagen, er solle seinen Kram wegschaffen, aber er ist verschwunden.«
»Sie tun ihm bestimmt unrecht. Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.«
Pippa bewaffnete sich mit einer Taschenlampe, und sie gingen in den Garten. Im Hintergrund des Schuppens stand der große Lastwagen, gegen den sich der kleine Balduin in seiner Ecke wie ein Zwerg ausnahm, und verdeckt von ihm, in dem Teil, der für Freddys Frachtgut reserviert war, und daher Pippa stets als >tabu< gegolten hatte, fanden sich tatsächlich Kisten, bedeckt mit Säcken, Stroh, Brettern und alten Segelplanen. Sie enthielten alle Mengen von Alkohol, wie Dr. Horton rasch feststellte. Pippa war entsetzt.
»Ach, deshalb hörte man hier so oft nachts Stimmengemurmel, und einmal war er auch betrunken... Oh, wie gemein von Freddy. Ich dachte immer, er sei mein Freund.«
»Ein verdammter Spitzbube ist er. Und ich kann ihn nicht ausfindig machen, so sind uns leider die Hände gebunden.«
»Aber wieso denn! Sehen Sie doch, er hat ja den Schlüssel am Lastwagen steckenlassen. Ich glaube, ich könnte mit so einem Ungetüm fertig werden, jedenfalls versuchen kann man’s. Wir laden den ganzen Alkohol auf und fahren ihn weg, bevor die Polizei anrückt.«
»Wäre es nicht klüger, wir warten, und ich spreche mit den Beamten? Ich kenne den Inspektor.«
»Nein, ich fände es fürchterlich, wenn Freddy ins Gefängnis müßte. Und mich würden sie dann auch holen, damit ich aussage, und in allen Zeitungen würde es stehen. Lieber Gott, denken Sie nur an James«, und plötzlich mußte sie höchst unpassenderweise schrecklich lachen.
Er warf ihr einen scharfen, forschenden Blick zu. Dem Himmel sei Dank, nein, sie hatte keinen hysterischen Anfall. Dieses seltsame Geschöpf amüsierte sich tatsächlich auch noch, trotz der verzwickten Klemme, in der sie saß.
Es folgten Minuten fieberhafter Tätigkeit. Um neun Uhr war Pippa noch müde gewesen, um halb zehn hatte sie mindestens ein Dutzend Schnapskisten in den Lastwagen laden helfen sowie unzählige Flaschen gefunden und zugereicht, die Freddy an den unwahrscheinlichsten Plätzen versteckt hatte, genau wie Mohr seine Knochen vergrub, unter Strohhaufen, in den entferntesten Ecken und Winkeln, ja, sogar hinter den klaffenden Ritzen der Wände. Sie scharrte sie überall heraus, der Doktor nahm sie ihr ab; beide arbeiteten schweigend und emsig.
Als sie fertig waren, machte sie Anstalten, in den Führersitz zu klettern, aber Horton kam ihr zuvor.
»Jetzt bin ich dran. Gehen Sie zu Bett.«
»Aber ich kann Sie doch nicht allein mit der Ladung losfahren lassen. Was ist, wenn Sie erwischt werden? Was sollen Sie sagen?«
»Warten wir’s ab. Sie jedenfalls steuern den Lastwagen nicht. Womöglich schmeißen Sie die ganze Fuhre um, und die Polizei fischt Sie nachher bewußtlos aus einer Ginpfütze. Das würde James den Rest geben.«
Sie lachte, bettelte aber trotzdem: »Ach bitte, lassen Sie mich mit. Hier würde ich sowieso keine Ruhe haben, und zu zweien macht es doch viel mehr Spaß.«
Spaß! Einen Augenblick hatte er flüchtiges Verständnis für James. Dann sagte er: »Also meinetwegen, wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie in Ihrem eigenen Wagen mit, den können wir hinterher gleich zur Rückfahrt benutzen, wenn wir die Ladung ausgekippt haben. Ich möchte Sie nicht auf dem Lastwagen haben, falls es Schwierigkeiten gibt.«
»Wo wollen wir’s denn hinkippen?«
»Irgendwo bei seiner Hütte. Ganz gleich, die Hauptsache, es ist von hier weg. Wenn die Polizei das Zeug findet, geschieht’s ihm recht.«
»Oh, das dürfen Sie nicht sagen. Wir können ihn doch nicht ins Gefängnis bringen. Ich weiß, es war sehr schlecht von ihm, aber Gesetze sind auch so lästig, und irgend jemand bricht sie immer. Ich glaube nicht, daß er mir Böses zufügen wollte. Wir werden es einfach wegschaffen.«
Ein verblüffender Standpunkt, aber jetzt war keine Zeit, darüber zu streiten.
»Na schön, aber beeilen Sie sich, öffnen Sie das Tor und holen Sie Ihren Wagen. Die Polizei kann nicht mehr weit sein. Halten Sie sich dicht hinter mir und achten Sie auf scharfe Kurven, denn ich fahre vielleicht Wege, die Sie noch nicht kennen.«
Sie ließ ihn zum Tor hinaus, packte Mohr auf Balduins Rücksitz und war froh, daß der Motor ansprang. Ja, das mußte man Freddy lassen, er hatte immer für alles gesorgt und sie mit seinen harmlosen Witzen auch oft zum Lachen gebracht. Er sollte nicht ins Gefängnis kommen, wenn sie es verhindern konnte. Sie trat kräftig aufs Gas, flitzte aus dem Gartentor und sah die Scheinwerfer eines schnellen Wagens die Straße herunterkommen. Es schien, als hätten sie sich wirklich gerade noch im letzten Moment aus dem Staub gemacht.
Es war eine seltsame und aufregende Fahrt. Der Lastwagen holperte eilig über fremde, schmale Wege und kam dann in eine mehr hügelige Gegend. Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie an einen Streifen Buschland, der Doktor fuhr langsamer, hielt schließlich und kam dann an ihr Fenster.
»Da geht ein Pfad ins Unterholz, ich werde die Fuhre hineinbugsieren und zwischen den Bäumen verstecken. Warten Sie hier auf mich.«
Nach fünf Minuten kam er wieder zurück, sie rutschte auf den anderen Sitz hinüber, er stieg rasch ein und wendete. Pippa sprach nicht, aber er fühlte, wie sie am ganzen Körper bebte, und sagte tröstend: »Gleich sind wir zu Hause.« Ein ersticktes Japsen war die einzige Antwort. Verdutzt blickte er zu ihr hinüber und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Dieses unverantwortliche Wesen schüttelte sich vor Lachen! Ja, tatsächlich, er konnte James von Minute zu Minute besser verstehen.
»Verzeihen Sie«, würgte sie hervor, »aber ich kann einfach nicht mehr. Wissen Sie übrigens, daß wir nur mit knapper Not davongekommen sind? Als ich aus dem Garten fuhr, tauchte gerade ein Wagen auf. Stellen Sie sich vor, die hätten uns gejagt. Ist das nicht unbezahlbar?«
»Unbezahlbar«, wiederholte er grimmig. »Beihilfe und Begünstigung. Ich weiß nicht genau, was darauf steht. Wir müssen James fragen.«
»Wegen James ist es ja eben so wahnsinnig komisch. Er hält Sie doch für ein Muster von Tugend, und ich glaube, er hofft im stillen, Sie würden einen guten Einfluß auf mich ausüben.«
Zu seiner Überraschung stimmte er jetzt ebenfalls in das Gelächter ein. Und er hatte immer gedacht, er sei zu alt und gesetzt, um an solchen Streichen Gefallen zu finden.
Pippas Vermutung erwies sich als zutreffend. Der große Wagen parkte vor dem Eingang.
»Ich werde das erledigen«, sagte der Doktor kurz, denn ihm schwante mittlerweile, daß der Spaß doch nicht mehr ganz so unbezahlbar sein könnte.
Der Inspektor erklärte, sie hätten auf Miss Knox’ Rückkehr gewartet, da sie eine Suchaktion nach illegalem Alkohol durchzuführen hätten. Er hoffte, sie würde ihnen gestatten, der Form halber auch in ihrem Garten nachzusehen, denn wie der Polizei bekannt sei, habe sie dem Spediteur erlaubt, seinen Lastwagen dort unterzustellen, und gegen ihn richte sich ein gewisser Verdacht.
Aber er war schon nach fünf Minuten wieder zurück.
»Nicht die kleinste Spur. Komisch, wie solche Gerüchte aus dem Boden schießen. Wir vermuteten, er hätte Ihnen da einen Schabernack gespielt, Miss Knox. Erfreulicherweise haben wir uns geirrt. Immer ein unangenehmes Geschäft. Also dann gute Nacht und vielen Dank. Gute Nacht, Doktor.«
Als sie gegangen waren und Pippa Dr. Horton im Wohnzimmer gegenüberstand, merkte sie voller Zorn, daß sie wirklich zitterte.
»Nur weil ich müde bin«, verteidigte sie sich. »Pam und ich sind immer zu lange aufgeblieben und haben so viele Zigaretten geraucht.«
Er quittierte ihre tapfere Haltung mit einem anerkennenden Lächeln, sagte aber nur: »Ich an Ihrer Stelle würde jetzt zu Bett gehen.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie machte eine ungeduldige Bewegung und erwiderte trotzig: »Es ist nur, weil — weil ich Freddy vertraut habe. Er war immer so nett zu mir. Daß er gegen das Gesetz verstoßen hat, stört mich kein bißchen, aber er hätte das Zeug wegschaffen können, als er wußte, daß ihm die Polizei auf der Spur war.«
»Darüber würde ich mich nicht weiter grämen. Wie Sie schon sagten, es mag ja tatsächlich ein Grund vorliegen.«
»Ich gräme mich nicht, nur...« Sie konnte die richtigen Worte nicht finden, und er fuhr ruhig fort: »Ihr Hund möchte, daß ich jetzt verschwinde. Er wird Sie zu Bett bringen. Ja, kluges Tier, Mohr. Du hattest einen finsteren Verdacht gegen Freddy, nicht wahr? Und doch trumpfst du hinterher nicht auf: >Ich hab’s dir ja gleich gesagt!< Nehmen Sie ein Aspirin, trinken Sie etwas Heißes und denken Sie nicht mehr an Freddy.«
»Ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt, obwohl ich weiß, daß es Sie große Überwindung gekostet hat. Es war nett von Ihnen.«
Sie sah so klein und rührend aus, wie sie dastand, ihre Hand auf dem Kopf des riesigen schwarzen Hundes. Wie wenig verdiente doch der undankbare Freddy, daß sie so unbeirrt zu ihm hielt, dachte er und antwortete leichthin: »Ich wollte verhüten, daß unsere Leihbibliothek in einen Skandal verwickelt wird und James sich die Haare raufen muß. Gute Nacht.« Und fort war er.
Am nächsten Morgen lag sie länger im Bett als sonst und ließ sich die Ereignisse der Nacht durch den Kopf gehen. Ach, es war zu schade, daß Pam das alles nicht miterlebt hatte. Aber ihre Ansicht über den Doktor war richtig gewesen. In kritischen Momenten konnte man sich auf ihn verlassen, und würdevoll oder steif fand sie ihn jetzt auch nicht mehr. Sie wußte, wie sehr ihm die Geschichte gegen den Strich gegangen war, und doch hatte er nicht gebrummt, im Gegenteil, mitgelacht hatte er. Sie war froh, daß Freddy nun nicht ins Gefängnis mußte. Wenigstens ein Leben, dem sie durch ihren Einfluß eine Wendung zum Guten gegeben hatte, seit sie nach Rangimarie gekommen War.
Als die Bibliothek geöffnet wurde, standen bereits ein Dutzend Kunden auf der Veranda, jeder grimmig entschlossen, mit einem neuen Buch, ganz gleich welcher Art, nach Hause zu gehen. Pippa fertigte sie in wenigen Minuten ab und war glücklicherweise allein, als der Wagen aus Warrenmede vorfuhr und Douglas hereinkam. Er lud einen Packen Bücher ab und sagte entschuldigend: »Mir haben sie alle sehr gut gefallen, aber mein Bruder... Also, um es kurz zu machen — er möchte Sie sprechen.«
Nelson Warren empfing sie schon mit einem Blick, wie ihn vielleicht in früheren Zeiten eine zürnende Lady ihrem liederlichen Dienstmädchen zugeschleudert haben würde, wenn es vergessen hatte, die Palme im Wohnzimmer abzustauben.
»Guten Morgen. Wenn ich für ein Buch bezahle, dann erwarte ich, es dafür in einem lesbaren, sauberen Zustand vorzufinden. Dafür zu sorgen, dürfte doch wohl Ihre verdammte Pflicht sein.«
Innerlich prallte sie zurück, entgegnete aber ruhig: »Ja, ich bemühe mich, sie in Ordnung zu halten, aber manchmal ist ein Buch so schnell wieder weg, daß ich keine Zeit habe, es nachzusehen. War an Ihrem etwas zu beanstanden?«
»In einem fehlen drei Seiten, noch dazu an einer besonders wichtigen Stelle, und über ein anderes hatte irgendein Schmutzfink seinen Frühstückskakao geschüttet. In diesem waren außerdem fettige Eselsohren. Ekelerregend.«
»Gewiß, aber ich sehe nicht, wie ich es ändern kann. Wenn ich eine Beschwerde bekomme, gehe ich der Sache natürlich nach. Ich versichere Ihnen, die Bücher waren alle sauber, als ich sie in die Bibliothek nahm.«
»Sie sind dafür verantwortlich, daß sie auch so bleiben.«
Ihr Temperament ging mit ihr durch.
»Vielleicht möchten Sie in Zukunft lieber keine mehr ausleihen, denn ich kann nicht garantieren, daß so was nicht wieder passiert.«
»Ihre Meinung zeugt von beschämender Unfähigkeit. Wir zahlen genug für die Bücher.«
»Sie sind aber nicht gezwungen, sie zu nehmen, wie Sie wissen.«
Er schielte sie wütend an.
»Geschäftsleute sollten sich eines bescheidenen, höflichen Tones befleißigen. Ich leihe mir Bücher, weil es mir paßt, und Sie sind dazu da, meinen Wünschen nachzukommen.«
»Nur solange es mir paßt. Es wäre besser, wenn Sie...«
Es hätte keiner großen Phantasie bedurft, um zu erraten, was sie im Begriff war, ihm an den Kopf zu schleudern, aber in diesem Moment schaltete sich eine gelassene Stimme in die Unterhaltung ein: »Guten Morgen, Miss Knox. Wie geht es Ihnen, Mr. Warren? Nein, ich komme jetzt nicht in die Bibliothek, weil ich mit Mr. Warren sprechen möchte. Wenn ich darf, gebe ich Ihnen mein Buch, und Sie tauschen es mir um. Ich verlasse mich ganz auf Ihren Geschmack. Sie suchen mir ja immer etwas Interessantes aus.«
Dr. Horton gab Pippa sein Buch und lächelte mild. Trotzdem fuhr sie ihn später aufgebracht an: »Warum haben Sie mich so kurzerhand abgeschoben? Ich wollte diesem greulichen Kerl gerade sagen, er solle verschwinden und nie wiederkommen.«
»Ich merkte, wie Sie dazu ansetzten, und außerdem muß die ganze Straße mitgehört haben. Weshalb wollen Sie sich mit ihm streiten? Er ist ein sehr kranker Mann.«
»Das ist mir egal. Ich lasse mich nicht so anfahren.«
»In Freddys Fall waren Sie toleranter.«
»Das ist ein großer Unterschied, Freddy ist mein Freund.«
»Stehen Sie immer so loyal zu Ihren Freunden, auch wenn der Schein gegen sie spricht? Aber diesmal hatten Sie sogar recht. Sie haben Freddy richtiger beurteilt als ich.«
»Wieso? Sind Sie bei ihm gewesen?«
»Ja, in meiner Eigenschaft als Arzt. Er hatte gestern einen Unfall, irgendwann in den frühen Abendstunden, als er bei Marvells in der Scheune Kunstdünger ablud. Er scheint gestürzt und mit dem Kopf auf den Zementboden geschlagen zu sein. Sie fanden ihn gegen zehn Uhr und brachten ihn ins Krankenhaus.«
»Oh, der Arme... Und er ist nun mal kein schlechter Kerl.«
»Ja. Er bereut es wirklich aufrichtig, und er ist Ihnen ungeheuer dankbar. Er wird bald wieder in Ordnung sein und Sie besuchen.«
»Was ist aus dem Lastwagen und all dem Schnaps geworden?«
»Er schickt einen Freund hin, um die Fuhre zu holen; den Namen verschwieg er schamhaft. Mir hat er hoch und heilig versprochen, den Schleichhandel mit Alkohol ganz aufzugeben. Ob er’s tut, ist eine zweite Frage.«
»Wie furchtbar wäre es gewesen, wenn Sie nicht rechtzeitig davon erfahren hätten. Er säße jetzt im Gefängnis, und es würde einen mächtigen Spektakel geben — und im Grund hat er ja nichts Böses getan, nur gegen das Gesetz verstoßen, nicht wahr?«
Er lächelte sie verschmitzt an.
»James hat Sie miserabel erzogen. Ich werde ihm ernsthaft ins Gewissen reden müssen, wenn er das nächste Mal kommt, um Sie aus der Patsche zu ziehen.«
»Ich hoffe, das tun Sie statt James. Sie sind viel netter darin.«
»Da wir gerade von guten Taten sprechen, könnten Sie wohl die Zeit erübrigen und Mrs. West einmal besuchen? Sie liegt zu Bett und fühlt sich sehr elend.«
»Ach, ich wunderte mich schon, daß sie seit einer Woche nicht mehr hier war. Natürlich gehe ich hin. Aber hoffentlich treffe ich ihren gräßlichen Mann nicht an.«
»Schon wieder ein Opfer des Hasses?«
»Sie reden ja, als ob ich von Haß förmlich strotze. Ich mag nur Sam West und Mr. Warren nicht.«
»Also, wenn Sie heute nachmittag gehen, wird Sam bestimmt nicht dasein.«
Um fünf Uhr stieg Pippa den Hügel hinter dem Dorf zu Mrs. Wests Haus hinauf. Es war genauso häßlich und protzig, wie sie erwartet hatte. Die Haustür stand halb offen, und als sie anklopfte, rief Mrs. West aus dem Schlafzimmer: »Wer ist da? Es tut mir leid, aber ich bin im Bett.«
»Nur Pippa Knox. Darf ich hereinkommen?«
»Ach bitte, ja. Wie nett von Ihnen, mich zu besuchen.«
Mrs. West lag in einem geschmacklos eingerichteten Raum zwischen zerknüllten Kissen, und man sah ihr an, daß ihr heiß und unbehaglich war. Sie stritt heftig ab, ernstlich krank zu sein, der Arzt habe nur gesagt, ihr Herz sei überanstrengt, und er wolle sie nicht aufstehen lassen.
»Aber ich mache mir Sorgen, weil es doch für meinen Mann so lästig ist, und Sie wissen ja, wie unbeholfen Männer im Haushalt sind.«
Geschieht ihm ganz recht, dachte Pippa. Sie erbot sich trotz ihres inneren Widerstrebens, sein Bett zu machen, ging danach in die Küche, wusch das aufgetürmte schmutzige Geschirr ab und brühte für Mrs. West Tee auf. Als sie mit dem Tablett wieder hereinkam, fand sie sie zu ihrer Bestürzung in Tränen.
»Kümmern Sie sich nicht weiter darum, liebes Kind. Man fühlt sich ein bißchen einsam, wenn man so daliegt, und wir verkehren nur noch mit wenig Leuten aus dem Dorf, seit es mein Mann so weit gebracht hat und sogar der Königin vorgestellt wurde... Aber ich sehe, Sie haben mir Bücher mitgebracht, wie lieb von Ihnen. Ich frage mich manchmal, was ich nur früher angefangen habe, bevor es Ihre Leihbücherei gab.«
Pippa bettete sie bequem und machte sich flink daran, im Zimmer aufzuräumen. Plötzlich sagte die Kranke: »Ihr Schritt ist so leicht, fast könnte ich glauben, meine Tochter sei zurückgekommen... Ach, sehen Sie, jetzt weine ich schon wieder — zu dumm von mir, aber Sie erinnern mich so an Doris.«
Pippa ermunterte sie zum Reden und erfuhr bald alles über Doris. Über ihre geschickte Hand mit Kleidern, ihre fröhliche Unbeschwertheit, die soviel Leben ins Haus gebracht hatte, ihre Gewohnheit, die kleine Frau in plötzlichem Übermut zu umfassen und sie in einem lustigen Tanz durchs Zimmer zu wirbeln — es war das Bild eines strahlend glücklichen Mädchens, unschuldig und sorglos, ihrer Mutter Einundalles auf der Welt.
Schließlich legte sich Mrs. West wieder in die Kissen zurück.
»Wie ich geschwätzt habe! Aber jetzt fühle ich mich viel wohler. Mir drückt es das Herz ab, alles in mir vergraben zu müssen, nie von ihr sprechen zu können und zu tun, als schämte ich mich meines Kindes.«
Pippa faßte tröstend ihre Hand.
»Aber nein, Mrs. West, das glaubt niemand von Ihnen, und Sie haben doch auch gar keine Ursache, sich zu schämen, nur...«
»Nur, daß sie ein Baby hat und nicht verheiratet ist.«
»Na ja, sie war sehr jung damals. Natürlich ist das hart, aber viel schlimmer finde ich, daß man sie von Ihnen getrennt hat, als sie Sie am nötigsten brauchte.«
Aufs neue öffneten sich die Tränenschleusen.
»Oh, Miss Knox, ich sollte gar nicht so sprechen, weil es nicht anständig ist meinem Mann gegenüber. Aber ich vertraue mich nur Ihnen an, denn Sie sind auch ein junges Mädchen wie meine Doris. Nachts denke ich manchmal, ich sterbe, wenn ich sie nie wiedersehen soll.«
»Aber sicher werden Sie sie wiedersehen. Er wird sich mit ihr aussöhnen.«
»Nein, mein Mann nicht. Mir scheint beinah, er haßt sie. Sie hätte ihn vor allen Leuten blamiert, sagte er, und gerade in dem Moment, wo er endlich auf einen grünen Zweig kommen wollte. Doktor Horton hat gut reden von hohem Blutdruck und Herzschwäche, in Wirklichkeit ist es die Trennung von Doris, die mich umbringt.«
»Sie schreibt Ihnen doch gewiß?«
»Ja, aber davon weiß er nichts. Die Briefe gehen alle an Schwester Price, und die gibt sie mir dann. Das werden Sie niemandem weitererzählen, nicht wahr, Miss Knox? Die Schwester mochte Doris von jeher gut leiden und macht ihr auch keine Vorwürfe. Sie sagt, nur die Unschuldigen erwischt es immer. Und mit meinem Mann hat sie deswegen auch sehr geschimpft.«
Pippa hätte große Lust gehabt, dasselbe zu tun, aber sie erwiderte nur: »Er wird sie jetzt kommen lassen, weil Sie krank sind.«
»Nein, er gibt ihr ja die Schuld an meinem erbärmlichen Zustand, Weil es damals anfing. Aber nicht, daß sie das Baby kriegte, machte mich elend, sondern daß ich sie verlor, daß ich mitansehen mußte, wie sie da mutterseelenallein fortging, so ein blutjunges Ding.«
»Sie wird wiederkommen und das Baby mitbringen. Wäre das nicht herrlich?«
»Sie geben mir fast das Gefühl, als könnte es wahr werden. Der Kleine ist jetzt drei Jahre alt. Doris schickte mir vorige Woche ein Foto von ihm. Ich würde Ihnen das Bild gern zeigen, aber Schwester Price hat es, dort ist es sicherer. Ich fürchtete, er könnte es hier finden.«
»Ich würde es schrecklich gern sehen. Sobald es Ihnen besser geht, fahre ich Sie zum Krankenhaus, und dann können Sie’s mir zeigen. Aber ich glaube, für heute will ich lieber verschwinden, Sie sind müde. Morgen besuche ich Sie wieder, und wir sprechen weiter von Doris. Nach Ihren Erzählungen muß sie ja ein reizendes Menschenkind sein.«
»Oh, das ist sie, Miss Knox. Wenn nur mein Mann... Aber verstehen Sie, er war schon immer ein großer Verfechter von Anstand und Moral.«
Das konnte nun Pippa ganz und gar nicht verstehen, weil sich ihr ein anderes Bild vor Augen drängte: ein schmieriger, bekritzelter Zettel, ein schlampiges >Puppchen< und der ehrenwerte Sam West, der verstohlen an ein Fenster klopfte und eingelassen wurde. Anstand und Moral! Sie würde ihm den Wisch mit Wonne unter die Nase gehalten haben.