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»Was bedeutet eigentlich Rangimarie?« fragte Pippa am nächsten Morgen, als sie an dem Ortsschild vorüberfuhren.

»Das ist Maori und heißt >friedliches Paradies<«, lispelte Kitty. »Hübsch, nicht? Ich finde immer, Namen sind so entscheidend.«

Pippa hatte mittlerweile entdeckt, daß ihre junge Gastgeberin, wie alle Leute, die sich keine eigene Meinung bilden, die Angewohnheit besaß, ihre Sätze mit >ich finde immer< anzufangen.

Ja gewiß, friedlich sah das Dorf aus, dachte sie, aber es entsprach auch nicht im entferntesten dem, was sie sich unter einem Paradies vorstellte. Sie war bitter enttäuscht. Es schien nur aus einer einzigen, langen, ungeordneten Reihe armseliger kleiner Kramläden zu bestehen, zwischen denen hin und wieder einmal ein altes, vergessenes und dem Verfall überlassenes Haus stand. Die Straße wand sich bald hierhin, bald dorthin, anscheinend nur mit dem einen Ziel, möglichst jeden schönen Ausblick oder die Nähe der See zu meiden.

Aber Kitty sagte verheißungsvoll: »Das ist noch nicht alles. Achten Sie nicht auf diese häßliche Dorfgasse, sondern passen Sie auf, wenn wir erst zum Strand kommen mit hübschen, bunten Häuschen.«

»Was Sam West unser hochherrschaftliches Villenviertel nennt«, ergänzte Alec. »Jetzt schläft hier in der Gegend natürlich noch alles und wartet auf den Sommer, aber dann sieht’s ganz anders aus. Wahre Völkerwanderungen, sage ich Ihnen. Ihre Bibliothek wird während der Saison ein Riesengeschäft werden und die Feriengäste werden Schlange stehen.«

Nur einen einzigen Vorzug konnte Pippa an diesem >friedlichen Paradies< entdecken: Es besaß keine Leihbücherei. Dagegen zählte sie drei Kolonialwarenhändler, einen Bäcker, einen Metzger, vier Milchbars, einen Gemüseladen, ein uraltes, baufälliges Postamt, eine muffige, wenig vertrauenerweckende Billarddiele und verschiedene, nicht näher zu unterscheidende Verkaufsbuden, die momentan leer standen, aber wahrscheinlich in der >Saison< von Postkarten bis Andenkenmuscheln alles feilboten, woraus sich Geld schlagen ließ. Ein paar Männer lungerten pfeifenrauchend herum, und Pippa wunderte sich, daß keiner von ihnen einen Kragen trug und die meisten in schmutzigen, ausgetretenen Strandsandalen einherlatschten. Anscheinend warteten auch sie auf den Sommer.

Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, steuerte Alec um eine rechtwinklige Kurve einen kurzen Weg hinunter, an einer von lärmender Betriebsamkeit erfüllten Molkerei und zwei breiten, geduckten Bungalows vorbei, von denen jeder eine Schar kleinerer Hütten um sich geschart hatte wie eine fette Glucke ihre Kücken.

»Ferienpension«, erläuterte Alec. »Sechs Wochen lang im Sommer gesteckt voll.«

Nur wenige Meter dahinter gelangten sie wieder an die Küste, und vor ihnen lag dieselbe breitgeschwungene, schöne Bucht, an die Pippa schon gestern ihr Herz verloren hatte. Aber hier drängten sich auf fast einen Kilometer Länge kleine Häuser, Strandhotels, Parkplätze und helle Badehütten aneinander, die, obwohl jetzt unbenutzt und leer, Alecs Worte bestätigten. Im Sommer mußte dieser Ort eine wahre Goldgrube sein.

Aber sogar diese zusammengewürfelte Häuseransammlung konnte die herrliche Aussicht über die Bucht nicht beeinträchtigen, denn sie befand sich nur auf der Landseite der breiten Strandpromenade. Zum Meer hin sah man nichts als Dünen und eine lange Allee von Pohutukawa-Bäumen. Hinter dem letzten Haus hielt Alec an, und vor ihnen erstreckte sich meilenweit die flache Küste. Pippa holte tief Luft.

»Wundervoll. Warum hat sich das Dorf nicht hier angesiedelt, statt da unten in der häßlichen engen Straße?«

»Der Hauptverkehrsweg führte immer dort entlang, und die Läden stehen schon seit Jahrzehnten an ihren Plätzen, um vor allen Dingen die Farmer und die Maoris zu versorgen. Dieser Strand entwickelte sich erst in den letzten fünf Jahren. Ein Syndikat reicher Geschäftsleute aus der Stadt kaufte das Land den Eingeborenen ab und legte die Promenade an. Und sie erlauben hier keine Läden.«

»Aber ich muß hier wohnen. Schließlich ist eine Leihbücherei ja ein Haus und kein Laden.«

Doch ihre Hoffnungen wurden sehr rasch zerstört, als sie den einzigen Häusermakler des Distrikts, Sam West, aufsuchten, der zugleich als Vorsitzender des Kreisausschusses eine bedeutsame Rolle in der Gemeinde spielte. Er war ein großer, wohlbeleibter Spießbürger voll wichtigtuerischem Stolz und mit lüstern vorquellenden Schweinsäuglein, die sich sogleich wohlgefällig an Kittys Figur festsaugten, während er von Pippa gänzlich unbeeindruckt schien, weshalb diese ihn ihrerseits als widerlichen alten Kerl abtat.

»Eine Leihbücherei? Nicht schlecht. Keine alltägliche Sache wie ein gewöhnlicher Laden.«

»Nicht schlecht?« echote Alec streitlustig. »Das will ich meinen! Ein Segen, wollten Sie wohl sagen. Ein Seebad wie Rangimarie, und kein Buch zu lesen kriegen! Wirklich, wie hinterm Mond.«

Mr. West wollte etwas entgegnen, aber Kitty schlug die graugrünen Augen sehr groß auf und antwortete honigsüß: »Aber genau das meinte ja Mr. West, Alec. Er fördert doch in so vorbildlicher Weise alle fortschrittlichen Ideen und ist bestimmt der erste, der den Plan, hier eine hübsche kleine Leihbücherei aufzuziehen, mit Freuden begrüßt. Ich finde immer, es ist keine vorteilhafte Reklame für einen Ort, wenn man nirgends ein gutes Buch bekommen kann, meinen Sie nicht auch, Mr. West?«

Sie hatte ihn schon vollständig eingewickelt, er glubschte sie nur noch stumpfsinnig an und willigte ein. Aber dann kam die Preisfrage zur Sprache, und das war eine harte Ernüchterung. Alles, was in der Nähe der Küste lag, erwies sich als unerschwinglich teuer.

»Ich möchte nur eine ganz winzige Behausung. Drei Räume würden vollauf reichen, wenn einer davon groß genug für die Bücherei ist«, drängte Pippa hoffnungsvoll.

Aber drei Räume am Strand kosteten mindestens achtzehnhundert Pfund.

Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Unmöglich. Es würde schon schwierig genug sein, James den Hauskauf schmackhaft zu machen, aber ihm auch noch beichten zu müssen, daß sie eine Hypothek aufgenommen hatte — nein, nicht auszudenken.

»Das kommt nicht in Frage. Ich könnte mich auch nicht wohl fühlen, wenn es nicht ganz und gar mir gehörte.«

Von soviel übertriebener Empfindsamkeit schien Mr. West einen Moment wie vor den Kopf geschlagen zu sein, dann aber sagte er zögernd: »Da wäre ja noch ein Haus, gerade fällt mir’s ein. Ein billiges noch dazu. Alt ist es allerdings, zugegeben, und nicht am Wasser. Es liegt im Geschäftsviertel. Aber vielleicht um so besser, da zieht’s mehr Kunden an.«

»Welches?« fragte Alec ungeduldig. »Etwa das vom alten Mahoney?«

»Ja — doch, genau das meinte ich. Ist lange nichts dran repariert worden, das stimmt, und alt, wie gesagt. Man muß ein bißchen Geld ‘reinstecken, ‘n neuen Anstrich — ne hübsche, helle Tapete, und da sollen Sie mal sehen. Kleine, fleißige Händchen können da Wunder vollbringen.« Dabei grinste er Kitty an und rieb sich die eigenen dicken Wurstfinger mit öligem Behagen.

Pippa fand ihn abscheulich und verspürte wenig Interesse für das alte Haus. Das >Geschäftsviertel<, das war diese häßliche, enge Dorfgasse, und sie zog es doch mit aller Macht an die Küste.

Kitty kokettierte unterdessen schamlos weiter. »O ja, ich finde es auch, es macht so viel Spaß, ein altes Haus neu herzurichten, Mr. West. Sie haben vollkommen recht, nur — «

Der Rest des Satzes entging Pippa, weil Alec ihr von der anderen Seite her ins Ohr flüsterte: »Kein schlechter Kauf, falls der Preis einigermaßen diskutabel ist. Geben Sie’s nicht auf, ich mach’ das schon«, und in seinen Augen glomm jenes unternehmungslustige Licht auf, das Pippa im Laufe der Zeit als untrügliches Zeichen bei jedem Farmer kennenlernen sollte, der Gelegenheit wittert, einen Preis zu drücken oder etwas wohlfeil einhandeln zu können, selbst wenn er keine Verwendung dafür hat.

Schließlich entschied man sich, das Objekt gemeinsam zu besichtigen, aber dann schaute sich Pippa mit enttäuschtem Blick um... Es war eines jener verfallenen Häuser, die sie anfangs gesehen hatte, und stand offenbar seit längerem unbewohnt und leer. Vorn klebte eine kleine Veranda, und das Ganze lag nur etwa dreieinhalb Meter von der Straße zurück, durch einen morschen Zaun mit teilweise zerbrochenen Latten abgegrenzt. Nicht das kleinste Stückchen Garten war vorhanden, und Leute mit recht sonderbarem Schönheitsempfinden hatten den Vorplatz offenbar als Abladestelle für Glasscherben, alte Blechbüchsen und leere Zigarettenschachteln benutzt. Mr. West holte einen Schlüssel hervor, und sie betraten das Innere, während Alec wie aufgezogen redete.

»Lieber Himmel, wer soll denn diesen alten Kasten noch kaufen! Der hätte ja schon längst abgerissen werden müssen. Ich staune bloß, weshalb Ihr komischer Bezirksausschuß da keine Hand rührt. Eine dreckige Ruine ist das, weiter nichts.«

West hob in schwachem Protest die Hände. »Bitte schön, keine Kraftausdrücke in Gegenwart von Damen«, brummte er vorwurfsvoll.

»Na, sagen wir schlicht, ein Schandfleck Ihrer Gemeinde. Kein Wunder, daß die Badegäste behaupten, in der hiesigen Verwaltung säßen lauter Holzköpfe.«

Tief gekränkt beeilte sich Mr. West zu versichern: »Das Haus ist stabil und solide. Es wird noch stehn, wenn diese ganzen fadenscheinigen Neubauten längst zusammengefallen sind.«

»Schade«, bemerkte Alec unfreundlich.

Pippa überließ die beiden sich selbst und unternahm auf eigene Faust einen Rundgang. Durch die Haustür gelangte man unmittelbar in einen großen Raum mit Kamin und drei Fenstern. Die Tapete hing in Fetzen herab, Boden und Wände starrten von Schmutz. Dahinter, durch einen engen Gang abgeteilt, lagen zwei weitere Zimmer, ebenfalls nicht klein, die durch die vordere Feuerstelle mitgeheizt werden konnten. Die Nebengelasse bestanden aus einer winzigen Küche und einer handtuchschmalen Abstellkammer, beide ohne jeglichen Anstrich und mit spinnwebverklebten Fenstern.

Auch eine primitive Badestube entdeckte sie nach längerem Suchen, und zwar in dem weitläufigen rückwärtigen Garten. Hier befand sich ein Schuppen, groß genug, um drei Wagen von Balduins Kaliber bequem aufnehmen zu können, eine Ecke war durch einen rohen Bretterverschlag abgeteilt, hinter dem sich verschämt eine rostige Zinkwanne mit melancholisch tropfendem Wasserhahn verbarg. Ein durchlöcherter Kochtopf und verschiedene Kübel versperrten den Weg, und nachdem sie sie überklettert hatte, fand Pippa noch ein stilles Örtchen, bei dessen Anblick ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.

»Wie Sie gesehen haben werden«, erläuterte der fette Mann gewichtig, »gibt es bei uns sogar Wasserspülung, und ich darf mich rühmen, zu ihrer allgemeinen Einführung ein entscheidendes Wort mitgeredet zu haben«, und wies mit Genugtuung auf die Zeiten vor seinem Amtsantritt hin, in denen zu verschwiegener, mitternächtlicher Stunde ein Tonnenwagen durch das Dorf gerumpelt sei. Pippa traute ihren Ohren kaum. Sie hatte geglaubt, derartig altertümliche Einrichtungen gehörten selbst im letzten hinterwäldlerischen Dorf endgültig der Vergangenheit an.

Aber der Garten war eine Überraschung. Er erstreckte sich, vom Haus leicht schräg abfallend, weit nach rückwärts bis zu einer niedrigen Mauer, neben der ein Pohutukawa-Baum seine gewundenen Äste ausbreitete und sich zwei große Büsche Trompetenblumen trotz des dürren Bodens tapfer behaupteten. Trompetenblumen! Pippa stand ganz still und schaute auf die schweren weißen Blüten, die beinah bis auf die Erde herabhingen. Es waren die ersten Blumen, die sie auf ihrer Fahrt sah, und hier schienen sie auf sie gewartet zu haben. Ihr Herz schlug ihnen sofort entgegen. Vielleicht war dieses Haus wirklich für sie bestimmt? Nein, sie wollte es nicht hoffen.

Alec kam ihr nach, während Mr. West von den Reizen der skrupellos flirtenden Kitty abgelenkt war, und benutzte die Gelegenheit, sie eilig zu fragen: »Na, was sagen Sie? Könnten Sie sich dazu entschließen? Wissen Sie, vieles könnte man ja wieder instand setzen«, er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der auch die dürftige Badebaracke mit einschloß. »Scheint doch die einzige Chance zu sein. Und in einem Punkt hat der alte Knacker recht, hier mitten zwischen den anderen Läden wäre es natürlich für Kunden günstiger. Zugegeben, es sieht ziemlich übel aus, aber — «

Pippa hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie lächelte versonnen und sagte: »Sehen Sie doch, Alec, Trompetenblumen. Ich liebe sie so. Sie erinnern mich an die Ferien, die ich mal im Norden verlebte. Glauben Sie, daß man ihren Duft bis ins Haus riechen kann?«

»Wenn Sie vorher das andere Stinkzeug wegschaffen, vielleicht«, meinte er prosaisch und hielt sie im stillen für reizend, aber verrückt. »Könnte am Ende doch ein ganz guter Kauf sein. Immerhin eigener Grund und Boden, das ist auch was wert. Und keine schlechte Lage, vor allen Dingen.«

»Keine schlechte Lage? Mit der Billarddiele gegenüber und dem Metzgerladen in nächster Nähe? Und wahrscheinlich ist auch noch die Dorfkneipe gleich um die Ecke.«

»Gibt’s hier nicht. Der nächste Ausschank ist das >Wardville<. Das einzige Lokal von Rangimarie brannte schon vor ein paar Jahren ab, und seitdem haben sie die Lizenz nicht wieder bekommen.«

»Keine Kneipe?« Pippa war einen Augenblick sprachlos vor Verblüffung. Sie hatte doch James erklärt, sie würde sich ein Dorf aussuchen, in dem es keine Kneipe gab. Jetzt sah es tatsächlich wie Vorbestimmung aus, daß sie gerade hier gelandet war.

»Was sagte Kitty doch, was Rangimarie bedeutet?« fragte sie Alec abrupt. »Paradies, nicht wahr? O lieber Himmel, dann soll ich wohl doch hier hängenbleiben. Wie schade.«

Zweifellos ein bißchen überkandidelt, dachte Alec. Trotzdem mochte er sie ausgesprochen gern, und bei Kitty hatte er bisher auch noch nie erlebt, daß sie sich zu einem Mädchen so stark hingezogen fühlte, denn mit den Nachbarinnen stand sie nicht auf gutem Fuß und lehnte sie als spießig ab, obwohl sie alle tüchtige, brave Landfrauen waren. Aber Pippa hatte ihr sofort gefallen. Ein Segen wäre es, wenn sie sich endlich mit jemandem anfreundete, der einen vernünftigen Einfluß auf sie ausübte. Er wollte Sam West gleich noch einmal auf den Pelz rücken, und sollte es ihnen gelingen, ihr das Haus zu verschaffen, dann würde er schon dafür sorgen, daß alle bei der Arbeit mit Hand anlegten, denn viel Geld würde sie dann wohl nicht mehr übrig haben.

»Ich rede mit dem alten Schlawiner. Der weiß natürlich ganz genau, daß er es sonst nicht los wird. Die Feriengäste wollen nur am Strand wohnen, und als Laden würde es niemand mieten, weil schon zu viele hier auf einem Haufen hocken, die sich im Winter mühsam durchhelfen müssen. Ich nagele ihn auf eine einigermaßen annehmbare Summe fest und... heiliger Strohsack, jetzt sehen Sie sich doch nur dieses Frauenzimmer an. Manchmal denke ich, sie würde sogar noch nach einem Rollmops die Augen schmeißen. Geschmacklos kann ich das nur nennen... wetten, daß sie sich wieder haarklein den Besuch der Königin erzählen läßt. Das wäre dann das zehnte Mal, daß ich es mir mitanhören müßte.«

»Aber die Königin ist doch nicht bis hierher gekommen?«

»Nein, das hat man ihr glücklicherweise erspart. Aber jeder, der was auf sich hielt, fuhr in die nächste Stadt und wurde ihr vorgestellt. Das hat Sam nun vollends den Kopf verdreht. Seitdem ist es schlimmer mit ihm als je vorher. Jetzt kommt er sich so fein vor, daß er kaum noch mit den einfachen Leuten im Dorf sprechen mag.«

Als sie näher kamen, schloß Sam West gerade seine Geschichte mit den Worten: »Und so huldvoll war sie. Ja, ich darf wohl sagen, sie hat mir ganz besonders zugelächelt.«

»Nicht zu fassen«, bemerkte Alec, aber Kitty lenkte schnell ein: »Oh, Mr. West, wie aufregend! Aber Sie verdienen es auch nach allem, was Sie für den Distrikt getan haben. Pippa, Mr. West ist richtig begeistert von der Idee mit der Leihbücherei und fände es großartig, wenn dies alte Haus zum Schmuckstück der ganzen Gemeinde würde. Deshalb will er auch versuchen, es so billig wie nur möglich für Sie zu bekommen. Nicht wahr, das stimmt doch, Mr. West?«

»Aber Kitty, es ist so schauderhaft häßlich und hat überhaupt keine Aussicht. Das einzige sind die Trompetenblumen, die liebe ich ja sehr«, erwiderte Pippa, aber Alec schaltete sich eilig ein, bemüht, diese seiner Ansicht nach peinliche Dummheit zu überbrücken.

Unterdessen schlenderte Pippa wieder zurück, um sich noch einmal alles anzusehen. Wenn wenigstens ein Ausblick auf das Meer vorhanden gewesen wäre, mit dem übrigen würde sie sich vielleicht abgefunden haben. Sie ging durch die muffig riechenden, dumpfen Räume in den Garten und weiter bis ans äußerste Ende zu der niedrigen Mauer, wo der Pohutukawa stand. Seine tief herabhängenden Zweige waren schon über und über mit kleinen, harten Knospen bedeckt, die bald in ein Meer von rosa Blüten aufspringen würden. Auf Pippa hatten Bäume von jeher große Anziehungskraft ausgeübt, und schon seit ihrer Kindheit konnte sie nie der Versuchung widerstehen, ihre Kletterkünste zu erproben. Hier war sie allein, und niemand sah sie. Flink schwang sie sich an einem der Äste hoch und blickte über die Mauer. Und da machte sie eine überwältigende Entdeckung. Die ersehnte Aussicht — da war sie!

Der Glückszufall wollte es, daß die angrenzenden Grundstücke alle unbebaut waren und dahinter nur ein Garten lag. Kein Haus hinderte den Blick auf die Küste, und über den allmählich abfallenden Hang konnte sie geradewegs auf das glitzernde Wasser schauen. Ihre Privataussicht!

Sie hockte in Betrachtung versunken da und träumte. Als Kind war sie mit Pam während der Pausen immer in die Eichen auf dem Schulhof geklettert, dort hatten sie in ihrem Laubversteck gesessen und das bunte Gewimmel unter sich beobachtet. Ob Pam auch hier eines Tages neben ihr sitzen würde? Sie sah sie deutlich vor sich, wie sie mit ihren hübschen Beinen baumelte, die braunen Augen aufs Meer hinaus gerichtet, wie sie sprach und lachte... Und der zarte Duft der Trompetenblumen schwebte durch ihre Zukunftsphantasien. Das gab den Ausschlag. Ja, sie würde das Haus kaufen, wenn es ging.

In diesem Augenblick sah Pippa ihre Leihbücherei ganz klar vor sich, mit frischen, sauberen Fußböden und Tapeten, hellen Vorhängen, Reihen von interessanten, spannenden Büchern, und sich selbst in einem hübschen, leichten Sommerkleid, wie sie heiter und charmant ihren Kunden bei der Auswahl der Lektüre half, hie und da ein passendes kleines Scherzwort einflocht, überall beliebt und freudig begrüßt, so daß bald ein Badegast zum anderen sagen würde: >Kennen Sie schon die reizende Bibliothekarin? Sie hat eine erstaunlich große Anzahl erstklassiger Bücher und ist außerdem eine richtige Dame.<

Und im Winter, wenn die stille Zeit kam, konnte sie ein lustiges Feuer im Kamin anzünden, alle würden ihre Stühle behaglich zusammenrücken und ihr von ihren Erlebnissen, ihren Problemen und Hoffnungen erzählen. Nicht die Feriengäste oder die Ausflügler, nein, die ernsten, schweigsamen Landleute mit ihren Frauen. Und sie würde zuhören und Rat erteilen, so daß sie immer wieder dankbar versichern würden, wie wohl ihnen eine Aussprache mit ihr täte und wie entscheidend sich ihr Leben gewandelt habe, seit sie bei ihnen sei. Und bei diesem Gedanken bekamen Pippas blaue Augen ein verklärtes Leuchten, das James ohne Zweifel den törichten Anspielungen in Mr. Murdochs Testament zugeschrieben und daher mit tiefstem Mißtrauen beobachtet hätte.

»Ja, Alec, ich kaufe es. Ich habe mich jetzt entschlossen, weil ich zu guter Letzt doch noch eine schöne Aussicht entdeckt habe.«

»Schöne Aussicht?« Er drehte sich um seine eigene Achse und guckte aus dem Fenster auf die Billarddiele, die Berge von alten Blechbüchsen und den Metzgerladen.

»Ja. Ich brauche nur auf den Pohutukawa zu klettern, unten an der Mauer. Von da hat man einen herrlichen Blick über die Bucht.«

»So. Na ja, ich nehme an, dazu werden Sie wenig Zeit haben. Aber auf jeden Fall erwähnen Sie Sam gegenüber nichts davon. Der alte Gauner schlägt sonst gleich noch fünfzig drauf. Bis auf neunhundert Pfund habe ich ihn schon runtergehandelt, aber ich sage ihm, daß ich damit noch nicht zufrieden sei, und nun ruft er heute abend Mahoney noch mal an... Ach, da bist du ja endlich, Kitty. Suchst du schon wieder einen, dem du Augen machen kannst, hm? Daß du dich überhaupt mit so einem alten Ekel abgeben magst, ist wirklich allerhand. Ziemlich billig, noch dazu als verheiratete Frau.«

Kittys Mund rundete sich zu einem empörten >Oh<, und ihre graugrünen Augen blitzten, aber Pippa legte sich rechtzeitig ins Mittel und brachte das Gespräch wieder auf ihre Einrichtungspläne zurück. Sie dachte auch den ganzen Nachmittag an nichts anderes, und als sie und ihre neuen Freunde am Abend endlich das Telefon klingeln hörten, sagte sie schnell: »Alec, versuchen Sie für achthundertfünfzig abzuschließen, aber ich zahle auch neunhundert, wenn’s gar nicht anders geht.«

»Den Teufel werden Sie tun«, antwortete er grob und nahm den Hörer ab.

Die Schlacht wogte mehrere Minuten hin und her, aber am Ende brachte Alec mit triumphierender Siegesmiene den Kauf zu achthundertfünfzig Pfund unter Dach und Fach.

»So, und jetzt werden Sie die Ärmel hochkrempeln müssen. Als erstes morgen früh den Vertrag unterschreiben und dann ran an den Speck. Denn spätestens Mitte Dezember muß die Leihbücherei eröffnen, um das Saisongeschäft noch zu erwischen. Denken Sie daran, daß Sie sich von dem, was Sie die übrige Zeit des Jahres an den Farmern hier verdienen, nur mit knapper Not über Wasser halten können.«

Pippa nickte und war sehr blaß. Ihre schöne Erbschaft war dahin, aber dafür hatte sie ihr Paradies gefunden, und sie brauchte nur auf einen Baum zu steigen, um es in traumhafter Schönheit vor sich liegen zu sehen.

Zwei Tage später stand sie um neun Uhr früh James Maclean in seinem Büro gegenüber.

»Ich hab’s. Und gekauft auch schon. Es ist alt, aber solide. Und sogar eine schöne Aussicht hat es, man muß nur ein bißchen klettern, und im Garten sind Trompetenblumen, die wundervoll duften.«

James setzte seine nachsichtige Duldermiene auf.

»Vielleicht erklärst du dich etwas deutlicher. Und bitte kurz, ich habe draußen einen Klienten warten, aber du sagtest, es sei wichtig.«

»Das ist es auch. Ich erzähle es dir doch immerzu, wenn du nur zuhören wolltest. Ich habe ein Haus gekauft.«

»Was? Du bist doch erst vor vier Tagen weggefahren. In so kurzer Zeit kannst nicht mal du etwas so Verrücktes anstellen.«

»Es ist gar nicht verrückt, und du wirst es mir auch nicht vermiesen können. Es ist eine solide, vernünftige Geldanlage. Das sagt Alec auch, James, und denk dir, es heißt >Friedliches Paradies<, auf Maori allerdings. Und eine Dorfkneipe ist nicht da, aber es gibt Trompetenblumen. Siehst du nicht, James, daß es wie vorherbestimmt ist?«

Ihre Wangen glühten, und ihre Augen glänzten. Sie sah wirklich bildhübsch aus in diesem Moment, aber James hatte kein Auge dafür. Er fragte nur sehr langsam und jedes Wort betonend: »Willst du mir etwa weismachen, daß du ein Haus gekauft und deine ganze Erbschaft verpulvert hast?«

Das klang so schrecklich, daß ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich, aber sie blickte ihn fest an und antwortete: »Ja, ich habe das Geld ausgegeben, das heißt, ich habe mich verpflichtet, achthundertfünfzig Pfund zu bezahlen, und den Rest werde ich brauchen, um alles in Ordnung zu bringen und die Leihbücherei einzurichten. Aber es ist ein gutes Haus, wenn auch alt und schmutzig und nicht am Strand, weil dort alles zu teuer war. Es liegt mitten zwischen den Läden, so daß alle Leute, wenn sie einholen gehen, vorbeikommen und Bücher ausleihen können.«

»Leute? Welche Leute? Eine Handvoll Farmer vielleicht. Was ist das für ein Ort?«

»Er heißt Rangimarie. Ich kann ihn dir auf der Karte zeigen, wenn du eine hast, die groß genug ist. Und natürlich sind Farmer da und Kaufleute, die hoffentlich alle bei mir ein Leseabonnement nehmen werden, aber vor allen Dingen sind es die Badegäste im Sommer, die soviel Geld einbringen. Über tausend Menschen kommen jährlich für vier bis sechs Wochen hin und viele noch mal über Ostern. Wenn also jeder nur zwei Bücher für Sixpence alle acht Tage holt... O James, du kannst doch so flink mit Zahlen manipulieren. Rechne es mir mal aus. Wieviel würde das geben?«

Die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt, und ihre Mundwinkel zuckten so spitzbübisch wie immer. Aber er wollte nicht rechnen. Er weigerte sich entschieden, seinen Zorn hinunterzuschlucken, und als sie ihm von der Aussicht und dem Pohutukawa-Baum erzählte, entgegnete er sehr schroff, er hoffe, sie wolle nicht auf einem Baum leben wie ein Opossum. Er sei nicht nur überrascht, nein, geradezu befremdet, daß sie diesen entscheidenden Schritt unternommen habe, ohne ihn vorher zu fragen. Er habe sich immer eingebildet, nicht nur ihr Rechtsanwalt, sondern auch ihr Ratgeber zu sein. Aber so, wie die Dinge nun einmal lägen, wasche er jedenfalls seine Hände in Unschuld...

An diesem Punkt unterbrach ihn Pippa und lachte. Ja, sie lachte ihm tatsächlich ungeniert ins Gesicht. Er starrte sie entgeistert an, aber sie erwiderte nur: »Lieber, dummer James, du kannst eben einfach nicht aus deiner Haut... Also gut, geh und wasch dir die Hände, aber wenn du damit fertig bist, dann komm bitte zurück und schreib mir einen Scheck aus. Einen Scheck über tausend Pfund.«