1
»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte das Mädchen völlig fassungslos. »Bitte, lies das noch einmal, James.«
Ihr Rechtsanwalt und gleichzeitig Vetter zweiten Grades zog gequält die Augenbrauen hoch.
»Jetzt habe ich es dir bereits zweimal vorgelesen. Langsam mußt du ja die Worte auswendig können... Also gut, hör zu: >Ich vermache hiermit meiner Freundin und Sekretärin Pippa Knox die Summe von eintausend Pfund sowie zwölfhundert Bücher aus meiner Bibliothek nach eigener Wahl. Dieses Geschenk soll ein kleiner Dank sein für den lachenden Sonnenschein, mit dem sie — wie weiland Brownings poetische Heldin — sozusagen im Vorübergehen das Leben eines alten Mannes verschönt hat.<«
»Tausend Pfund, James, wie herrlich! Der gute Mr. Murdoch, wie kann er nur von Dank sprechen, wo er immer so rührend zu mir war! Aber was meint er denn mit >Browning< und >Vorübergehen<?«
James Maclean erwiderte ernst: »Vermutlich eine Anspielung auf das bekannte lyrische Drama: >Pippa geht vorüber<. Ich persönlich fand Browning immer reichlich überspannt. Überhaupt Pippa — ein törichter Name. Ich habe mich oft gewundert, weshalb deine Mutter dich eigentlich nicht Philippa nannte.«
»Das wollte sie wohl ursprünglich«, meinte Pippa entschuldigend. »Aber du weißt doch, sie war immer in solcher Hetze, die Arme, und Pippa genügte ja auch vollkommen.«
Echt Pauline Knox, dachte Maclean, der sich an sie nur noch als ein hoffnungslos verschusseltes Geschöpf erinnerte. Auch damals war sie in Hetze gewesen, als sie den großen Wagen ihres Mannes quer über die Eisenbahnschienen vor einen ankommenden Zug gesteuert und dadurch zwei Menschenleben geopfert hatte. An ihm als nächsten Verwandten war dann die unerquickliche Aufgabe hängengeblieben, ihrem einzigen Kind von dem tragischen Ereignis Mitteilung zu machen, ebenso wie er später Pippa von der Tatsache unterrichten mußte, daß Philip Knox trotz seines beträchtlichen Gehaltes fast nichts auf die hohe Kante gelegt hatte und sie daher arm wie eine Kirchenmaus zurückgeblieben war.
Pippa, damals achtzehn Jahre alt, brach darauf ihre — wenn auch nicht im pädagogischen Sinne, so doch in mancherlei anderer Hinsicht — bedeutsame Laufbahn an einer der teuersten Mädchenschulen ab und fügte sich klaglos in das Unvermeidliche, wie sie sich ja überhaupt in den folgenden acht Jahren während seiner Vormundschaft, das mußte er anerkennend zugeben, von keiner Schwierigkeit unterkriegen ließ.
Er hatte darauf bestanden, daß sie einen Sekretärinnenkurs absolvierte, und seither verdiente sie sich selbständig ihren Unterhalt. Die lächerlich kleine Summe, die er aus ihres Vaters Hinterlassenschaft hatte herausschlagen können, reichte gerade für zwei bescheidene Räume anstatt eines möblierten Couchzimmers. Wahrhaftig ein dürftiges Leben, aber Pippa beschwerte sich nie.
Gelegentlich, wenn sie ihr Sekretärinnendasein satt hatte, verschaffte sie sich etwas Abwechslung, indem sie eine Stellung als Kellnerin oder als Empfangsdame in einem Hotel annahm, und während einer dieser in James’ Augen so bedauerlichen Eskapaden war sie eines Tages Mr. Murdoch über den Weg gelaufen. Der alte Gelehrte suchte gerade verzweifelt eine Sekretärin, die ihm seine wissenschaftlichen Manuskripte tippen konnte, ohne dabei mehr als einen Schnitzer pro Zeile zu machen, die den Mund halten konnte, wenn er nachdenken mußte, und ihn aufheiterte, wenn er Zerstreuung suchte. Alle diese Eigenschaften fand er in Pippa vereint, sie dagegen fand in ihm einen väterlichen Freund. Vor einem Monat nun hatte diese ersprießliche Zusammenarbeit durch seinen plötzlichen Tod ein jähes Ende gefunden. Ja, und hier war also sein Testament.
Kein Testament übrigens, das James Macleans Beifall fand. Seiner Ansicht nach zu unsachlich, fast frivol. Zum Beispiel diese Bemerkungen über seine Nichten konnte man nur als höchst unglückliche Entgleisungen bezeichnen. Gewiß, er war ein reicher Mann gewesen, und seine beißende Ironie wurde zweifellos durch die recht ansehnlichen Legate, die sie erhielten, erheblich gemildert, trotzdem empfand er derartige Späße einer offiziellen, noch dazu letztwilligen Verfügung als äußerst unpassend. Und dann diese Worte über Pippa, diese Anspielung auf Browning und den lachenden Sonnenschein im Vorübergehen! James schnaubte vor Entrüstung und nahm ziemlich abrupt den geschäftlichen Teil in Angriff.
»Selbstverständlich wirst du diese Erbschaft vernünftig investieren«, bestimmte er mit gewohnter Autorität.
»Warum?« Pippa guckte mit ihren großen blauen Augen erstaunt zu ihm auf.
James raschelte mit verständlicher Gereiztheit in den Papieren auf seinem Schreibtisch. Wirklich, eine unglaublich naive Frage!
»Nun, ich nehme an, du willst sie nicht zum Fenster hinausschmeißen«, entgegnete er in der Hoffnung, diese Annahme bestätigt zu hören.
»Nicht zum Fenster hinausschmeißen — nein, ausgeben. Dafür ist Geld doch da«, verkündete das Mädchen mit überwältigender Unkompliziertheit. »Natürlich klug ausgeben. Weißt du, ich habe es mir genau überlegt, als du vorhin draußen warst, und bin zu einem Entschluß gekommen. Ich werde tatsächlich das tun, was du investieren nennst.«
In James regten sich berechtigte Zweifel, ob er jemals einen ihrer Pläne mit diesem Begriff bezeichnen würde.
»So — und in was, wenn ich fragen darf? In irgendeine verrückte Phantasterei vermutlich, wie?«
»Also hör mal, James«, erwiderte das Mädchen mit einer geradezu entwaffnenden Miene sachlicher Überlegenheit, »nur weil du vierzehn Jahre älter und mein Vormund bist, brauchst du mich nicht immer gleich so anzubellen. Du weißt ganz genau, daß ich eine gute Portion gesunden Menschenverstand besitze.«
Sein Schweigen war beredter als jede Antwort, und eilig fuhr sie fort: »Ich habe eine glänzende Idee, eine Inspiration sozusagen. Ich werde das Geld nämlich in einer eigenen kleinen Leihbibliothek anlegen, denn das schwebte Mr. Murdoch bestimmt vor, als er mir die vielen Bücher vermachte.«
»Eine Leihbibliothek? Eins von diesen armseligen Fünf-Penny-Unternehmen, schätze ich.«
»Fünfzig bis sechzig«, berichtete sie ihm ernsthaft, aber ihr hübscher Mund zuckte verräterisch in den Winkeln. »Meistens sogar mehr.«
»Reiner Blödsinn. Die Stadt wimmelt von solchen kümmerlichen Bücherstuben. Und aus welchem unerfindlichen Grund willst du das tun?«
Sie dachte einen Moment nach und antwortete dann: »Weil’s Spaß macht, und weil ich glaube, daß es so gemeint war.«
Er seufzte aufreizend nachsichtig. Pippa pflegte immer dann zu behaupten, es sei etwas so gemeint, wenn sie es zu tun wünschte, und in solchen Momenten berief sie sich obendrein noch auf ein inneres Gefühl, was James erst recht nicht leiden konnte.
»Das hast du in den letzten Jahren fortwährend gesagt, und was hat es dir eingebracht?«
»Tausend Pfund und zwölfhundert Bücher«, erwiderte sie schlagfertig und absolut der Wahrheit entsprechend.
»Das war ein einmaliger Glückszufall. Weshalb willst du also das Erbe, das dir, meiner Ansicht nach gänzlich unverdientermaßen, in den Schoß gefallen ist, gleich wieder verschleudern?«
Pippa schaute gekränkt auf. »Du redest ja, als sei ich eine Erbschleicherin. Glaub mir, ich habe nie an so etwas gedacht.«
»Den Vorwurf, daß du an etwas denkst, würde ich dir wohl zuallerletzt machen.«
»O James, du bist heute richtig ekelhaft, dabei müßtest du dich eigentlich mit mir freuen. Es ist doch alles so herrlich, daß es schon fast gar nicht wahr sein kann... Wenn du es mir vielleicht noch einmal vorlesen könntest-«
»Ich weigere mich entschieden. Alles hat seine Grenzen. Außerdem ein sehr frivoles Testament. Dabei schien er mir immer so ein vernünftiger Mann gewesen zu sein.«
»Vernünftig? Viel, viel mehr als das. Er war weise und lieb und gütig.«
Pippa schwieg und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ein Anblick, der James veranlaßte, sich zu räuspern und angelegentlich aus dem Fenster zu schauen. Er versuchte immer, sich ihre plötzlich ausbrechenden Tränen und ihr ebenso schnell bereites Lachen von ihrer irischen Abstammung her zu erklären, nichtsdestoweniger brachte es ihn jedesmal in peinliche Verlegenheit. Auch jetzt dauerte es kaum eine Minute, da lächelte sie schon wieder. Natürlich, als ob er es nicht gleich gewußt hätte! Ihr unberechenbares Temperament!
»James, ist es nicht wundervoll, einem Menschen allein deshalb im Gedächtnis zu bleiben, weil man lustig ist?«
»Scheint mir kein hinreichender Grund dafür, jemandem tausend Pfund zu vermachen. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Lachen.«
»Im Gegenteil, nichts ist wichtiger als Lachen«, widersprach Pippa ernst, und James kam in einer seiner seltenen intuitiven Anwandlungen der Gedanke, daß sie wahrscheinlich sehr oft lachend mit etwas fertig geworden war, worüber andere geweint hätten. Ja, vielleicht war das sogar der Grund, weshalb sie so jung und frei von Bitterkeit geblieben war, räumte er innerlich widerstrebend ein.
»Ich wollte, er hätte noch nicht sterben müssen«, sagte sie wehmütig.
»Aber sein Ende kam so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er saß in seinem Lehnstuhl, plauderte mit mir und scherzte... und er war ja auch zweiundachtzig. Er hätte nie ertragen, nach und nach schwächer und schließlich gänzlich hilflos zu werden... Ach, und tausend Pfund sind auch nicht zu verachten!«
»Dann verpulvere sie nicht leichtsinnig. Klug angelegt können sie dir auf Lebenszeit jährlich vierzig Pfund Zinsen einbringen, und das würde zusammen mit dem kleinen Betrag aus dem Nachlaß deines Vaters — «
»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach ihn Pippa und nickte bedächtig mit ihrem braunen Lockenkopf, »und das würde Sicherheit bedeuten, >Sicherheit< groß geschrieben. Ich könnte dann noch ungefähr vierzig Jahre lang Sekretärin bleiben... Warte mal, Sozialrente bekommt man, wenn man sechzig ist, nicht wahr? Wieviel macht sechzig minus sechsundzwanzig, James?«
»Vierunddreißig«, antwortete er automatisch und ärgerte sich sofort, als er merkte, wie ihre Mundwinkel zuckten und ihre Augen sprühten. Sie machte sich tatsächlich über ihn lustig, weil sie ganz genau wußte, wie sie immer wieder den Schulmeister in ihm herausfordern konnte. Und es gelang ihm einfach nicht, zu widerstehen, er mußte sie stets belehren.
»Ja, eine glorreiche Aussicht, aber sie gefällt mir trotzdem nicht, und ich bin überzeugt, Mr. Murdoch hätte sie ebensowenig zugesagt. Er fand es großartig, wenn jemand etwas riskierte, und schließlich ist es ja sein Geld, deshalb sollte ich doch in seinem Sinne handeln.«
Ein Musterbeispiel von Pippas Logik, dachte James mit saurer Miene und wollte eben seine Gedanken laut äußern, als sie auch schon weiterredete: »Bestimmt wollte er, daß ich mit dem Geld eine Leihbibliothek aufmache, und dafür schenkte er mir auch die vielen Bücher. Wir haben uns so oft über diese komischen kleinen Bücherstuben unterhalten, und einmal sagte er zu mir: >Das wäre später eine Aufgabe für Sie, mein Kind. Da könnten Sie das Leben studieren<.«
»Ich sollte meinen, du hättest genug Leben studiert und trügst kein weiteres Verlangen danach.«
»Leben?« echote Pippa, und ihr Gesicht überflog ein flüchtiger Schatten. »Glaubst du wirklich, daß ich das Leben kennengelernt habe, James?«
Er rückte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, woraus ihr Dasein bisher bestanden hatte, trotz ihrer stets strahlend fröhlichen Miene. Das phantasielose Einerlei im Büro, Tag für Tag, und Pippa haßte Eintönigkeit. Die einsame kleine Wohnung, in die sie abends heimkam, ein neues Kleid, das sie sich nur durch monatelanges Sparen erstehen konnte, in ständiger Ungewißheit, ob ihr für den kurzen jährlichen Urlaub auch noch genug übrigblieb. Allerdings, er hatte sich nach besten Kräften um sie gekümmert, ihr bißchen Geld verwaltet, dafür gesorgt, daß sie sich weiterbildete und sich nicht einfach treiben ließ, sie abends manchmal ausgeführt, wenn ihn gerade nichts Dringendes abhielt, sich ihre kleinen Beichten angehört und vor allen Dingen versucht, ihr nützliche Hinweise zu geben. Aber sie hatte über seine Belehrungen immer gelacht, genau wie jetzt auch.
»Stell dir nur vor, wieviel Spaß es machen wird, ständig neue Menschen kennenzulernen, zu erfahren, was sie bedrückt, und ihnen dann mit Rat und Tat beistehen zu können!«
»Davon wirst du hoffentlich die Finger lassen«, mahnte James streng. »Eine Groschenbibliothek ist nicht dazu da, Unheil zu stiften.« Worauf er mit beharrlicher Zähigkeit wieder zum Geschäftlichen zurückkehrte. »Das Ganze ist überhaupt eine hirnverbrannte Idee. Diese kleinen Leihbüchereien schnüren sich gegenseitig die Luft ab, in jeder Vorstadt gibt’s Dutzende von der Sorte. Du wirst damit nie auf einen grünen Zweig kommen.«
»Mag ja sein, aber ich gehe auch nicht in eine Vorstadt, sondern in ein nettes kleines Dorf irgendwo auf dem Lande.«
»Auf dem Lande?« Jetzt war er völlig sprachlos. Pippa, die genau wie er in der Großstadt aufgewachsen war, was in aller Welt wollte ein Mädchen wie sie auf einem Dorf anfangen? Und zu seiner eigenen Überraschung mußte er feststellen, daß ihm dieser Gedanke ganz und gar nicht behagte, mochte auch die Sorge um sie oft ermüdend und lästig sein. Aber das Gefühl, sie ständig am Gängelband zu haben, sie ermahnen und kritisieren zu können, wollte er doch nicht missen.
»Richtig mitten auf dem Lande«, bekräftigte sie mit trotziger Entschiedenheit. »Nur eine einzige Straße mit ein paar Läden, einer Milchbude und einem Postamt.«
»Und die Dorfkneipe nicht zu vergessen«, ergänzte James trocken. »Damit dürfte die Sache für dich schon schwieriger aussehen.«
»Wieso?« fragte sie verwundert.
James versank in Schweigen und überlegte. Er konnte ihr schlecht sagen, daß ein hübsches, alleinstehendes Mädchen von sechsundzwanzig Jahren die angeheiterten Besucher eines Dorfausschanks auf dumme Gedanken bringen konnte. Hübsch? Er musterte sie unter gerunzelten buschigen Brauen. Nein, das war sie wirklich nicht, obwohl ihre blauen Augen und braunen Locken auf manche Männer reizvoll wirken mochten. Ihr Mund war entschieden zu üppig geraten und die Nase alles andere als klassisch. Sie hatte nichts von der hohen Gestalt und würdevollen Haltung, die James an Frauen so bewunderte. Trotzdem, irgend etwas ging von ihr aus...
Schließlich sagte er: »Mädchen in deinem Alter leben für gewöhnlich nicht mutterseelenallein, zumal nicht an solchen Orten, wo das Geld locker sitzt und infolgedessen oft schwer gezecht wird.«
»Dann gehe ich eben irgendwohin, wo keine Kneipe ist, ganz einfach«, verkündete sie, als setze sie damit endgültig einen Schlußpunkt hinter die Angelegenheit. Aber das erwies sich sogleich als eine verhängnisvolle Fehlrechnung.
»Lassen wir den Ort einmal ganz aus dem Spiel. Du bist charakterlich völlig ungeeignet, ein selbständiges Geschäft zu leiten. Erstens hast du keine blasse Ahnung von Geld, zweitens verstehst du es nicht, vor den Leuten zu katzbuckeln, wozu du in einem Laden natürlich gezwungen bist, und drittens besitzt du ein sehr taktloses Mundwerk, besonders wenn du witzig sein willst.«
Anstatt über diese geharnischte Kritik beleidigt zu sein, warf Pippa den Kopf zurück und lachte laut heraus.
»Ach, armer James, wie gut du mich kennst, und was für eine lästige Plage ich für dich gewesen sein muß. Paß nur auf, wie herrlich du dich fühlen wirst, wenn du mich endlich los bist.«
Aber James war noch nicht zu Ende. »Und vor allen Dingen dein unmögliches Gekicher«, fügte er philisterhaft hinzu.
Das traf sie wie eine kalte Dusche, denn darin mußte sie ihm recht geben. Sie kicherte. Sehr selten zwar, aber immerhin hatte es schon die verheerendsten Folgen gehabt, und sie schämte sich ehrlich deswegen. Kichern, das hielt sie sich oft vor, konnte bei einem Kind reizend wirken, einer Sechzehnjährigen würde man es auch noch verzeihen, aber für ein Mädchen von sechsundzwanzig war es einfach unmöglich. Unglücklicherweise nützte das wenig, denn wenn es sie überkam, war kein Kraut dagegen gewachsen, und alle ihre Versuche, es sich abzugewöhnen, waren bisher gescheitert.
»Aber ich kichere sehr, sehr selten, vielleicht einmal im ganzen Jahr«, verteidigte sie sich und setzte mit plötzlich aufloderndem Trotz hinzu: »Jedenfalls kannst du mich nicht hindern zu tun, was ich will. Ich weiß, du hast dir Mühe mit mir gegeben, mich Stenographie und Schreibmaschine lernen lassen, aber damals war ich achtzehn und du mein Vormund. Du kannst mir doch die tausend Pfund nicht vorenthalten, nicht wahr?«
»Leider nein. Das Geld steht dir jederzeit zur Verfügung. Ich möchte dich nur dringend vor einem solchen Schritt warnen. Hast du an die Kosten gedacht? Und zuallererst wirst du eine geeignete Behausung mieten müssen.«
»Kaufen«, verbesserte sie freudestrahlend. »Ich will endlich ein eigenes Dach überm Kopf haben.«
»Kaufen? Und welche Bruchbude, stellst du dir vor, kannst du für tausend Pfund kriegen? Gar nicht zu reden von der lächerlichen Bibliothek, die eingerichtet werden muß.«
»Na, siehst du, diese Frage ist durch die zwölfhundert Bücher von Mr. Murdoch bereits gelöst. Deshalb bin ich doch so sicher, daß er gerade das gewollt hat. Ich weiß auch schon genau, was ich mir davon aussuchen werde. Er besaß ja Hunderte von Büchern — außer seinen wissenschaftlichen natürlich — und kannte jedes einzelne davon, aber ganz besonders liebte er Kriminalschmöker. Ich glaube, das tun alle wirklich gescheiten Leute. Ich las sie ihm immer vor, und dann wetteten wir, wer zuerst den Mörder erraten könnte.«
Der alberne feuchte Schimmer erschien wieder in ihren Augen, und der Rechtsanwalt lenkte hastig ab, aus Angst, Pippa würde sich im nächsten Augenblick in einer Flut von Tränen auflösen. Und das in seinem Büro.
»Aber er besaß doch wohl keine zwölfhundert Kriminalschmöker, wie du es nennst?«
»Nein, er kaufte genausooft leichte Romane, die er selber allerdings nicht las. Er hielt sie sich nur, um seine Nichten am Schwatzen zu hindern, wenn sie ihn besuchten, sagte er. Und dann hatte er außerdem noch viele gute Bücher, zum Beispiel von Elizabeth Bowen und Joyce Cary und so, also du siehst, für jeden Geschmack etwas. Hinzu kommen noch die von Vater, die du damals an dich nahmst, denn du hast doch nur die wirklich wertvollen verkauft, nicht wahr?«
»Ja«, gab er widerwillig zu. »Da ist noch ein ganzer Haufen vorhanden. Deine Mutter scheint eine leidenschaftliche Vorliebe für Reisebeschreibungen und Biographien gehabt zu haben.«
»Ich weiß. Eigentlich komisch, daß ich von keinem von beiden den Verstand geerbt habe, nicht? Na, und dann nicht zu vergessen meine eigenen vielen Bücher, die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Jetzt brauche ich nur noch ein paar Wildwestgeschichten, und der Laden ist komplett.«
»Wildwestgeschichten?«
»Ja, du kennst das doch — mit Cowboys und Indianern und viel Schießerei.«
»Der Himmel bewahre mich! Aber solches Zeug liest doch kein Mensch!«
»Mr. Murdoch erzählte, als er mal in einer Leihbibliothek angestellt war, habe er beobachtet, daß sie gerade von alten Damen und zartbesaiteten jungen Mädchen mit wahrer Wonne verschlungen würden. Aber die kann ich auch antiquarisch erhandeln, wieder zusammenflicken und in Ordnung bringen, das macht erst recht Spaß.«
»Und wird dir ein schönes Loch in deine Erbschaft fressen.«
»I wo, nicht die Spur. Ich wette, ich kriege alle Bücher, die ich brauche, und die Regale noch dazu, für — na, vielleicht hundert Pfund. Da bleibt immer noch eine ganze Masse, um ein Haus zu kaufen.«
»So, und wo glaubst du, heutzutage auch nur eine Bretterscheune für neunhundert Pfund erstehen zu können?«
»Ich werde schon was finden, wenn ich abseits der zu sehr überlaufenen Gegenden suche. Es wird windschief und baufällig sein, das ist klar, aber warte nur, was ich mit ein paar Töpfen Farbe alles zustande bringe.«
»Zuzutrauen wär’s dir glatt... Und wo willst du dieses Paradies aufstöbern?«
»Ich weiß noch nicht, aber es muß am Meer liegen.«
»Seebäder sind teuer, besonders im Vergleich zu einer Barschaft von sage und schreibe tausend Pfund.«
»Ich wünschte, du würdest manchmal wie ein Vetter und nicht wie ein Rechtsanwalt zu mir reden«, schmollte sie. »Und du brauchst auch gar nicht so verächtlich die Nase zu rümpfen über meine Erbschaft bloß weil du so gräßlich reich bist.«
Er errötete flüchtig und antwortete: »Nun gut, ich hoffe, du wirst wenigstens deine Stellung beibehalten, bis sich etwas Passendes findet.«
»Meine Stellung?« Sie fiel aus allen Wolken. »Aber die habe ich doch schon gekündigt.«
»Da du erst vor einer knappen Stunde hier in meinem Büro von der Erbschaft erfuhrst, ist das wohl kaum möglich.«
»Meinst du? Ich wartete eben ab, bis du aus dem Zimmer gingst, um mit dem Klienten draußen zu sprechen, und dann rief ich einfach von deinem Apparat aus an. Ich find’s herrlich, zu kündigen.«
»Hast ja mittlerweile auch einige Übung darin, obwohl ich allerdings nicht annehmen konnte, daß du derart prompt handeln würdest.«
»Die Arbeit gefiel mir sowieso nicht. Ich hatte das erste beste angenommen, was sich bot, als der gute Mr. Murdoch starb, aber drei Wochen sind lang genug. Ich bin bestimmt nicht wählerisch, aber die Art vom Juniorchef, mir seinen Arm um die Taille zu legen und die Zigarette dabei schnoddrig im Mundwinkel, das paßte mir schon gar nicht.«
James runzelte die Stirn. Unter diesen Umständen war es allerdings besser, zu kündigen, sogar über sein geheiligtes Telefon. »Und was wirst du jetzt tun?«
»Ich will ‘rauf nach dem Norden, denn da möchte ich wohnen. Die Ferien, die ich damals mit Mutter dort oben verbrachte, habe ich nie vergessen können. Jeden Morgen, wenn wir früh genug aufstanden, war die Luft von einem so wunderbaren, fast tropischen Duft erfüllt — von Teebäumen und Trompetenblumen — und das Meer schimmerte seidig blaßblau. Und da habe ich mir gedacht, ich mache mit Balduin eine gemütliche Spritztour — das heißt, wenn er fährt. Wie steht’s eigentlich mit ihm?«
Balduin war der kleine Wagen ihrer Mutter, den diese so geliebt hatte und den James nach ihrem Tod auf Pippas inständige Bitten hin nicht verkauft, sondern in seiner eigenen Garage untergestellt hatte. Er ließ ihn in regelmäßigen Abständen überholen und die Zulassung erneuern, aber die meiste Zeit stand er dort unbenutzt, und nur ganz selten einmal — das waren immer große Festtage in Pippas Leben — holte sie ihn heraus und gondelte mit ihm kreuz und quer in der Gegend herum, bis der letzte Tropfen Benzin verbraucht war.
Balduin befände sich in bester Verfassung, mußte James zugeben.
»Aber du kannst doch nicht allein in dieser Karre loskutschieren«, fuhr er mißbilligend fort. »Sie ist zehn Jahre alt, und deinen Fahrkünsten traue ich auch nicht übermäßig. Nebenbei bemerkt geht das Übernachten in Hotels auch ganz schön ins Geld.«
Einen Moment lang sah Pippa ziemlich niedergeschmettert aus, aber dann kam ihr eine großartige Idee. »Ich werde gar nicht ins Hotel gehen. Ich rolle mich auf dem Rücksitz zusammen und schlafe irgendwo am Straßenrand.«
James betrachtete sie voll ehrlicher Besorgnis. Die Vorstellung, daß dieses Mädchen Pippa, sechsundzwanzig Jahre alt, ein Meter zweiundsechzig groß und knapp fünfzig Kilo wiegend, nachts allein in wildfremder, verlassener Einöde kampierte, entsetzte ihn geradezu, aber ein beinahe noch größerer Schrecken fuhr ihm in die Glieder, als er seine eigene Stimme sagen hörte: »Du scheinst mir völlig außer Rand und Band zu sein. Das gefällt mir gar nicht. Könntest du dich statt dessen eventuell entschließen, mich zu heiraten? Ich würde dir alles bieten, was du brauchst.« Und mit plötzlich wiederkehrender Vernunft fügte er hinzu: »Das heißt natürlich, in angemessenen Grenzen.«
Pippa jedoch schien weder überrascht noch erschrocken oder gar geschmeichelt zu sein, wie er leider feststellen mußte. Sie blickte ihn nur groß an und schüttelte, wenn auch mit einem leise bedauernden Lächeln, den Kopf.
»Nein, James, ich danke dir von ganzem Herzen. Schrecklich lieb von dir, aber das meinst du ja nicht im Ernst, du würdest es nur aus Güte tun.«
Die Last, die sich ihm von der Seele wälzte, war so groß, daß er sich um ein Haar hinreißen ließ, gegen diese Unterstellung zu protestieren, aber Pippa gab ihm keine Zeit dazu.
»Und du weißt genau, es würde ein Fiasko werden«, fuhr sie fort. »Du würdest dich den lieben langen Tag über mich grün und blau ärgern, mich zu ändern und zu erziehen versuchen, und das wäre doch gräßlich fad — für uns alle beide, meine ich«, fügte sie rasch hinzu, um den Taktfehler wieder gutzumachen. »Ich will aber keinen haben, der mich dauernd veredeln und verbessern möchte. Ich wünsche mir jemanden, mit dem ich lachen kann, wie Mr. Murdoch. Nur natürlich nicht zweiundachtzig Jahre alt.«
Hiermit betrachtete sie offenbar das Thema als erledigt, denn sie ging zu einem anderen Gegenstand über: »Dieses Drama, von dem du sprachst — wie nanntest du es doch? Pippa irgendwas. Na, ich werde es am besten selbst lesen und herausfinden, was Mr. Murdoch meinte. Einmal lachte er sehr über mich und sagte, ich erinnere ihn an Brownings kleine Müllerin. Ob das dieselbe ist?«
James nickte nur und bot ihr an, das Buch auf seine Lesekarte aus der Bibliothek zu holen. Er war immer noch vollständig erschlagen über seine tollkühne Anwandlung.
Und noch am Abend, als er sich vor dem Spiegel im Schlafzimmer die Krawatte band, erinnerte er sich nur mit leisem Schaudern daran. Wie hatte er nur auf diese wahnwitzige Idee verfallen können? Gewiß, manchmal fühlte er sich einsam. Er sah wieder das kleine, temperamentvolle Persönchen vor sich, ihr vor Eifer glühendes Gesicht, als sie ihm ihre grotesken Pläne auseinanderlegte. Einen Moment lang wurde er von Gewissensbissen heimgesucht. Hätte er nicht mehr für sie tun müssen? Was würde schließlich ein Pfund wöchentlich für ihn ausgemacht haben? Und er hätte ja vorgeben können, daß das Geld aus ihres Vaters Nachlaß stammte, Pippa wäre das bestimmt nicht aufgefallen. James wünschte jetzt, er hätte rechtzeitig daran gedacht, denn im Grunde war er alles andere als schäbig.
Immerhin, ein knappes Entkommen... Gesetzt den Fall, sie hätte ihn ernst genommen! Selbstverständlich mochte er sie gern, aber Liebe — davon konnte keine Rede sein. Geliebt hatte er nur ein einziges Mal, und das war jetzt zehn Jahre her. Leichtgläubiger junger Grünschnabel! Na, vielleicht war das sein Glück gewesen, obwohl es damals höllisch weh getan hatte. James schob die sentimentale Regung energisch von sich und beendete seine Toilette, denn er war zum Abendessen mit einem berühmten ausländischen Juristen verabredet.
Gerade als er fortgehen wollte, rief Pippa an.
»Oh, James, mir fiel noch etwas ein, was ich dir zu deinem Vorschlag von heute morgen sagen wollte.«
James fuhr der Schreck in die Glieder.
»Ich meine, zu deinem Heiratsantrag«, sprach sie weiter. »Du erinnerst dich doch, nicht wahr?«
Erinnern? Das konnte auch nur sie fragen! Er brachte mit Mühe einen unartikulierten Laut aus der Kehle, aber sie wartete keine Antwort ab: »Es wäre mir fürchterlich, wenn du glaubtest, ich hätte dich nicht verstanden. Ich weiß sehr gut, daß du es nur aus Hilfsbereitschaft getan hast und weil du Mitleid mit mir fühlst, aber das brauchst du wirklich nicht.«
Diesen leisen, trotzigen Unterton in ihrer Stimme kannte er aus Erfahrung, aber diesmal wollte es ihm nicht gelingen, ihre Tapferkeit zu bewundern. Worauf wollte sie hinaus? War es möglich, daß sie ihre Meinung geändert hatte? Er zog nervös sein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn, aber schon redete sie wieder: »Bitte denk nicht, daß ich auch nur eine Sekunde annahm, du tätest es wegen meines Geldes.«
James, der bereits genug Scherereien mit seiner eigenen Einkommensteuer hatte, holte tief Luft und bemühte sich, eine passende Antwort zu finden. Schließlich stotterte er hilflos: »Das — ja — ich danke dir, meine Liebe«, und sie plapperte eifrig weiter: »Übrigens, das Gedicht. Ich fand es tatsächlich in dem Buch von Browning. Es ist gar nicht so überspannt, wenn man erst versteht, was er damit ausdrücken will. Weißt du, dieses Mädchen übt auf alle, die ihr begegnen, einen Einfluß aus, auf Bischöfe und Verliebte und alle möglichen Leute. Nur weil sie eben da ist. Das muß es gewesen sein, was Mr. Murdoch meinte.«
»Wieso meinte er das, Pippa? Ich bin nämlich zum Abendessen verabredet.«
»Na, ja, er wollte, daß ich dasselbe tue, und siehst du, in einer Leihbücherei hat man doch haufenweise Gelegenheit, Gutes zu tun, Menschen zu helfen und so, das wird mir einen Riesenspaß machen.«
Aber James sagte gar nichts. Sie hörte nur einen schwachen, gurgelnden Laut als Antwort. Als er den Hörer aufgelegt hatte, brummte er für sich: »Von einem namhaften Wissenschaftler hätte man wahrhaftig etwas mehr gesunden Menschenverstand erwarten können. Der wird sich noch im Grabe umdrehen, wenn er sieht, was sie alles anstellt.«
Womit James größere seelische Einfühlungsgabe bewies als Pippa.