13
Als Doris fort war, gähnte Pippa herzhaft, rief Mohr und Amanda und lief, wie jeden Morgen, durch die hintere Gartenpforte zur Küste hinunter zum Schwimmen. Fast alle Bungalows waren jetzt leer, nur noch einige Gäste mieteten für ein paar Tage eine Sommerwohnung, und die Fremdenpensionen schrieben wieder freie Zimmer aus. Die Saison war vorbei. Zu Ostern gab es freilich noch einmal einen kurzen Ansturm, aber danach kehrten die Leute zu ihrem gemächlichen Leben zurück, Pat O’Brien und Genossen zogen ihre alten Strandpantinen wieder an, die Küste erstreckte sich wie vordem, menschenleer und in goldener Schönheit, so weit man sehen konnte, und Rangimarie bereitete sich auf einen langen, geruhsamen Schlaf vor.
Und die Leihbibliothek? Bei der Durchsicht ihrer Kartei zählte Pippa genügend Abonnenten, um unbesorgt weiterarbeiten zu können. In letzter Zeit war sie mit Nachbestellungen neuer Bücher ein wenig leichtsinnig gewesen, aber das konnte sie leicht durch radikale Einsparungen an ihrem Küchenzettel wieder wettmachen. Zwar bewirtete sie ihre Freunde immer noch, aber diese achteten schon darauf, daß sie deshalb nicht zu kurz kam, und was ihre eigenen Mahlzeiten betraf, so pflegte sie sich vor Augen zu halten, daß die Leute im allgemeinen sowieso zuviel äßen, besonders bei heißem Wetter.
Sie drehte sich faul im Wasser und ließ sich auf dem Rücken treiben. Nach langen Bemühungen hatte sie Mohr endlich überzeugen können, daß sie nicht jedesmal dicht am Ertrinken war und er sie nur retten mußte, wenn sie um Hilfe rief. Jetzt umkreiste er sie mißmutig und watete alle Augenblicke an den Strand zurück, wo Amanda am äußersten Saum der Brandung herumhopste und schrille, meckernde Schreie ausstieß, die ihm weidlich auf die Nerven zu gehen schienen.
Sie waren ein reizendes, wenn auch recht ungewöhnliches Dreigespann, wenigstens fand das Mark Marvell, der auf der Suche nach ihnen lässig durch die Dünen geschlendert kam. Pippa winkte ihm zu, blieb aber im Wasser. Sie war noch müde von der aufregenden Nacht, und nichts wirkte so belebend auf die leiblichen und seelischen Kräfte wie ein ausgedehntes Morgenbad. Als sie endlich tropfend an den Strand stieg, die Badekappe in der Hand, die Locken vom Wind zerzaust, stand er auf und ging ihr entgegen.
»Sie sehen entzückend aus. Die jungen Männer hier haben wohl keine Augen im Kopf, daß sie Sie so allein baden lassen.«
»Müssen Sie immer in diesem Ton mit mir reden? Aber mich stört es nicht, wenn Sie in Übung bleiben wollen.«
»Eins zu null, wie gewöhnlich... Hallo, wer hat denn Amanda solche neckischen Scherze beigebracht?«
Die kleine Ziege hatte sich von hinten an ihn herangemacht, plötzlich die Nase in seine Tasche gebohrt und war dann blitzschnell mit seinem Taschentuch im Maul auf und davon galoppiert. In sicherer Entfernung blieb sie stehen, warf ihm einen listigen Blick über die Schulter zu und begann dann in aller Gemütsruhe, ihre Beute in kleine Fetzen zu reißen.
»Oh, Amanda! Es tut mir schrecklich leid — und so ein schönes Taschentuch noch dazu!«
»Nicht so schlimm. Ich habe sie Ihnen ja geschenkt. Ist sie eine große Plage?«
»Ich liebe sie heiß und innig, aber sie hat’s faustdick hinter den Ohren. Neulich ließ ich die Bibliothekstür offen, da stand sie doch tatsächlich auf meinem Schreibtisch und versuchte, den Gummistempel aufzufressen.«
»Mohr scheint sich jetzt einigermaßen mit ihr zu vertragen.«
»Im tiefsten Grunde seines Herzens mag er sie sogar sehr gern, aber er würde lieber sterben als das zugeben. Sie ärgert ihn beständig, so daß er ihretwegen schon lauter Kummerfalten im Gesicht bekommen hat, aber außer mir läßt er keinen an sie heran.«
»Ein treues Dreier-Bündnis, wie mir scheint. Und wann kommt der schöne Rotschopf wieder?«
»Frühestens in einem Monat. Bis dahin müssen Sie noch artig sein.«
Sie waren unterdessen zum Hause zurückgewandert, und Pippa ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen, während Mark müßig zwischen den Regalen in der Bibliothek herumbummelte.
»Um die Wahrheit zu sagen, kleine Schwester, ich langweile mich. Wann kommen Sie uns mal wieder besuchen?«
Sie war schon verschiedentlich in Uplands gewesen, dem alten Besitz der Marvells, einem freundlichen, einstöckigen Farmhaus, das in seiner Abgeschiedenheit, eingebettet zwischen Feldern, Hügeln und dunklem, noch unberührtem Buschland so malerisch wirkte. Pippa gefiel es großartig, und trotzdem wunderte sie sich immer wieder, daß ein Mensch wie Margaret in dieser Einsamkeit glücklich war. Das äußerte sie jetzt auch Mark gegenüber, der darauf spöttisch die eine Augenbraue hochzog und erwiderte: »Glücklich? Wann ist Peg denn jemals glücklich?«
»Natürlich, Sie haben oft Besuch, und sie kann immer fort, wann sie will, aber sie fährt doch so selten mal in die Stadt. Dabei könnte ich mir vorstellen, daß sie dort wirklich zu Hause wäre, in einem Kreis moderner, interessierter Menschen.«
»Sie haben ganz recht, aber das sieht sie nicht ein. Sie läßt sich treiben, ohne rechtes Ziel, und es ist ihr gleich, wo sie sich aufhält.«
»Ich habe noch nie verstehen können, weshalb sie nicht geheiratet hat, wo sie so hübsch und charmant und auch so warmherzig ist. Finden Sie meine Fragen impertinent, Mark?«
»Kleine Schwestern sind nie impertinent. Peg und heiraten? Ja, natürlich hat sie, wie man sagt, >eine Menge Chancen< gehabt, aber sie ist verdammt wählerisch. Sehen Sie, sie hatte einmal eine große Liebe.«
»Oh, arme Margaret. So viele Frauen haben im Krieg Männer verloren.«
»Peg nicht. Sie verlor ihren Freund durch Eifersucht einerseits und übertriebenen Stolz andererseits, und, unter uns gesagt, ich glaube, sie hat diese Geschichte nie ganz überwunden. Ja, aber ich muß jetzt schauen, daß ich weiterkomme, da ich leider noch zu arbeiten habe.«
Als Pippa wieder allein war, machte sie sich daran, Bücher durchzusehen und zu reparieren. Es war unglaublich, wie unachtsam die Leute mit geliehenen Büchern umgingen, bloß weil sie ihnen nicht gehörten. Sie dachten sich nichts dabei, einfach die Seiten einzureißen, Eselsohren hineinzumachen oder sie aufgeschlagen umgekehrt auf dem Fußboden liegenzulassen. Mit den wenigen Pennys, die sie dafür zahlten, meinten sie, sich alles erlauben zu können.
Mitten in ihre emsige Arbeit ertönte ein Klopfen an der Tür. Es war Dr. Horton.
»Ich nahm an, Sie würden sich vielleicht freuen zu hören, daß Mrs. West auf einmal wie umgewandelt ist. Sie glaubt fest, daß sie diese Wendung Ihnen zu verdanken hat.«
»Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Es war alles so furchtbar komisch.«
»Furchtbar — zweifellos, aber ich möchte lieber nichts davon wissen, namentlich solange mir dieser versiegelte Umschlag ein Loch in die Jackentasche brennt. Der arme, alte Sam läuft hinter mir her, als wolle er sich jeden Moment auf mich stürzen.«
»Hat sich Mohr nicht großartig benommen? Ohne ihn hätte ich es nie geschafft.«
Er musterte sie ernst.
»Ich weiß nicht, was Sie getan haben, aber werden Sie mir verzeihen, wenn ich Ihnen den gutgemeinten Rat gebe, sich jetzt mal auf Ihren Lorbeeren auszuruhen? Sie können nicht immer die Oberhand behalten, das wissen Sie. Mohr ist das nächste Mal vielleicht gerade nicht zur Stelle. Tun Sie es nicht wieder.«
»Aber warum? Ich habe doch nichts Schlimmes angestellt — nur Freddy geholfen, und nun Doris.«
»Sie zählen zu den gefährlichen Menschen, fürchte ich, die behaupten, der Zweck heilige die Mittel. Machen Sie es sich nicht zur Gewohnheit, Gutes zu tun. Schließlich nehmen auch Missionare manchmal Urlaub und gönnen den armen Heiden eine Atempause«, und ohne ein weiteres Wort, nur mit einem freundlichen Nicken, war er gegangen.
Pippa dachte über seinen Rat nach. Vielleicht hatte er recht. Sie beschloß, sich eine Weile nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, wenigstens so lange, bis Pam wiederkam. Dann, mit ihr zusammen, würde es erst richtig Spaß machen, Gutes zu tun.
Aber der >Urlaub< währte nur kurze Zeit. Eines Abends, als sie vom Krankenhaus zurückkam, sah sie in ihrem Wohnzimmer Licht brennen, und Mohr sprang mit einem ungestümen Satz aus dem Wagen, als witterte er Schlimmes. Er schoß auf die Haustür zu, bebend vor Eifer und Wißbegierde, hielt jedoch plötzlich an und fletschte kampflustig die Zähne. Wer mochte es diesmal sein? Jedenfalls jemand, den er nicht ausstehen konnte. Aber doch hoffentlich nicht wieder Sam West?
Und dann erblickte sie den riesigen gelben Kater, der auf der Schwelle buckelte, mit aufgeplustertem Fell, die Ohren flach an den Kopf gelegt, spuckend und fauchend. Mohr verharrte mit erhobener Pfote, bemüht, sich den Anschein heldenhafter Tapferkeit zu geben, aber in Wirklichkeit unschlüssig, ob er sich in einen Kampf einlassen oder lieber die Flucht ergreifen solle. Dies war für einen Hund ein gefährlicherer Gegner als Sam West.
Pippa stöhnte. Diesen Kater kannte sie. Sie wußte auch, wen sie drinnen vorfinden würde, und sie war müde. Trotzdem zwang sie sich vor der kleinen, kläglichen Gestalt, die traurig zusammengekauert in ihrem bequemen Sessel hockte, zu einem fröhlich aufmunternden Ton.
»Hallo, Kitty! Du bist spät dran, mein Herz. Und warum hast du Tommy mitgebracht? Du weißt doch, daß Mohr und er sich nicht riechen können.«
Eine Sturzflut von Tränen war die Antwort und dazwischen die halberstickten Worte: »Oh, dir bin ich auch lästig. Und Tommy kannst du nicht leiden. Niemand will uns haben. Ich wollte, wir wären beide tot.«
Pippa erschrak über Kittys Ton, aber mehr noch über ihre Blässe. Sie sah nicht nur unglücklich, sondern richtiggehend krank aus. Jetzt war jedoch nicht der Moment, in sentimentalem Mitleid zu zerfließen, und so sagte sie betont resolut: »Sei nicht albern. Du weißt, daß ich dich gern bei mir habe, und Tommy stört mich auch nicht, solange sich die beiden nicht in die Haare geraten. Aber was ist denn eigentlich los? Erzähl mir bloß nicht, daß du dich wieder mit Alec gestritten hast, denn das wäre wirklich mehr, als ich heute abend ertragen kann.«
Erneutes Schluchzen und unverständlich gestammelte Worte waren alles, was sie aus Kitty herausbrachte. Sie klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und sagte: »Schon gut, Liebes. Ich mache uns Tee, und dann kannst du mir dein Herz ausschütten.«
Aber indem sie die Tassen aus dem Schrank nahm, überlegte sie sich verdrießlich, daß dieses >Herz ausschütten< wahrscheinlich eine gute Stunde in Anspruch nehmen und damit enden würde, daß sie Kitty in ihr eigenes Bett stecken und selber im Wohnzimmer kampieren mußte, daß sie, kaum im ersten Schlaf, durch die stürmische Ankunft Alecs wieder aufgescheucht werden würde und die Versöhnung dann vermutlich bis zum Morgengrauen dauerte. Dr. Horton hatte schon recht gehabt, und sie wünschte nur, sie hätte diesen >Urlaub< noch eine Weile ausdehnen können.
Dieses Mal konnte man offenbar nicht einmal ausschließlich ihm die Schuld geben. Er hatte sich Kitty weder absichtlich genähert noch auf andere Art und Weise die Harmonie der Ehe zu stören versucht, sondern sie hatten sich zufällig bei der Hundeprüfung getroffen. Ursprünglich hatte ich gar keine rechte Lust zu gehen, aber dann dachte ich, Alec wollte gern. Außerdem habe ich überhaupt nie Abwechslung oder Vergnügen, und schließlich ist eine Hundeprüfung immer noch besser, als zu Hause zu sitzen. Und du bist seit Wochen nicht mehr bei uns draußen gewesen. Ich weiß, es kam daher, weil du immerfort mit der armen Mrs. West zu tun hattest, aber ich habe dich auch vermißt, und ich war auch allein.«
»Das tut mir leid, Kitty. Ich wollte vorige Woche kommen, aber es klappte einfach nicht mit der Zeit.«
»O natürlich, du hast viel zu tun und siehst eine Menge Leute, ganz im Gegensatz zu mir da draußen. Ich glaube, das geht mir allmählich auf die Nerven. Ich fühle mich in letzter Zeit so elend.«
»Du armes, kleines Wesen. Komm, erzähle weiter von der Hundeprüfung.«
»Ja, also Mark war natürlich da. Warum sollte er auch nicht, wo er doch die besten Hunde im Bezirk hat, die er zur Teilnahme melden kann. Sind Männer nicht gräßlich albern mit ihren Viechern, Pippa? Ich wollte Alec wirklich nicht beleidigen, als ich sagte, ich fände es ungerecht, wenn seine >Flora< gewinnen würde, weil Marks >Lump< soviel geschickter und klüger sei. Aber er schnappte gleich fürchterlich ein und meinte bissig, es sei nur schade, daß sie mich nicht zum Richter eingesetzt hätten, ich schiene doch eine Autorität auf diesem Gebiet zu sein. Ich finde Ironie immer so gemein, Pippa, und sicherlich dachte Mark genauso, denn als er mit seinen Hunden fertig war, fragte er mich, ob wir nicht bei der Hitze einen kleinen Spaziergang zum Fluß machen wollten.«
»Oh, Kitty — und du gingst mit?«
»Ja, warum nicht? Alec war weggelaufen, und ich finde immer, wenn sich ein Mann nicht selbst um seine Frau kümmert, darf er sich nicht beschweren, wenn’s andere tun. Und Mark war so nett und aufmerksam, als ich ihm erzählte, wie einsam ich sei, wie ich mich langweilte. Er verstand alles so gut.«
»Kann ich mir lebhaft vorstellen«, bemerkte Pippa grimmig. »Und dann?«
»Ach, es war ein reiner Zufall. Ich hatte die vorspringende Wurzel nicht gesehen, und was konnte Mark anders tun als mich auffangen, als ich stolperte? Es war Unsinn von Alec, zu sagen, er hätte mich in seinen Armen überrascht, denn Mark stützte mich natürlich. Ich wäre ja gefallen, wenn er nicht zugegriffen hätte. Aber Alec kam gerade im falschen Augenblick dazwischen, und da gab’s einen Riesenauftritt.«
»Wie verhielt sich denn Mark?«
»Zuerst lachte er nur, aber dann wurde er ärgerlich und ging weg. Wir fuhren nach Hause, und Alec fauchte mich an, er hätte jetzt die Nase voll von mir, und er sagte — o Pippa, er sagte, ich sei weiter nichts als eine Hure, und ich finde immer, solche Worte sollte ein Gentleman überhaupt nicht in den Mund nehmen, und erst recht nicht seine eigene Frau damit beschimpfen! Da erklärte ich ihm, ich würde ihn verlassen, und er antwortete, das sei eine gute Idee, und wie’s denn mit einem Taxi wäre, denn er wollte nicht, daß ich seinen Wagen zuschanden fahre. Er ließ mich in Seelenruhe packen, und als das Taxi kam, bezahlte er es im voraus. Das war nun wirklich die Höhe. Er zahlte tatsächlich, um mich loszuwerden. O Pippa, ich wünschte, ich wäre tot.«
»Trink deinen Tee, dann fühlst du dich wieder besser.«
»Ich kann nicht. Ich mag keinen. Aber vielen Dank, Pippa, du bist immer so gut zu mir.«
»So, und jetzt mache ich mir ein Bett im Wohnzimmer, damit du deine Ruhe hast. Du mußt nur Tommy mit zu dir nehmen, und ich hole ihm ein Kistchen mit Erde, denn wenn er draußen bleibt, wird er entweder versuchen, nach Hause zu laufen, oder Mohr frißt ihn auf... Bitte, weine nicht mehr, liebe, kleine Kitty« — Pippas Herz schmolz plötzlich beim Anblick des tränenverquollenen Gesichts, das kaum noch wiederzuerkennen war —, »sondern geh schlafen, pack deinen Tommy ans Fußende, und alles andere wird sich bestimmt in Wohlgefallen auflösen. Verlaß dich nur auf mich, ich bringe das schon irgendwie in Ordnung.«
»O Pippa, willst du wirklich? Ich wußte ja, du würdest mich nicht im Stich lassen. Du bist so klug und geschickt und kannst Leute so gut beeinflussen.«
Als am Ende des ersten Tages noch keine Nachricht von Alec eingetroffen war, begann Pippa zu vermuten, daß der Bruch diesmal doch ernster sein mußte, als sie anfangs angenommen hatte. Kitty war zu weit gegangen, und Alec hatte in seiner verbohrten, schwerfälligen, aber geradlinigen Art reagiert. Sein Standpunkt war sehr einfach. Wenn eine verheiratete Frau flirtete, dann hieß das, daß sie ihren eigenen Mann nicht mehr mochte, und weiter, daß sie in einen anderen verliebt war. Pippa sehnte sich leidenschaftlich danach, ihren Groll an dem verantwortungslosen Mark auszulassen.
Aber Mark blieb unsichtbar. Der zweite Tag verstrich noch langsamer als der erste. Kitty verbrachte die meiste Zeit damit, auf Pippas Bett zu liegen und zu warten — ob auf Alec oder auf Mark, konnte Pippa nicht ergründen. Sie rüttelte sie aus ihrem apathischen Zustand auf, indem sie sie zweimal täglich zum Baden mitnahm, trotz ihres Widerstrebens, das Haus zu verlassen, und trotz ihrer Angst, währenddessen die Ankunft — ja, wessen Ankunft eigentlich? — zu verpassen. Pippa bestand eisern darauf, weite Spaziergänge mit ihr zu machen sowie tüchtig und ausgiebig zu schwimmen, und hielt sie im übrigen während der Geschäftsstunden aus der Bibliothek fern.
Am vierten Tag begann Kitty trübe vor sich hinzubrüten, behauptete, sie sei müde, und weigerte sich, spazierenzulaufen oder zu schwimmen. Pippa, die auf ihrem Feldbett sehr schlecht schlief, machte sich allmählich ernste Sorgen. Alec mußte doch wissen, wo seine Frau war. Und Mark ebenfalls. Die Situation mochte ja in einem Schwank ganz erheiternd wirken, aber Pippa hatte jetzt genug davon. Sie überwand ihre Hemmung und beschloß, Kitty festzunageln.
Es war Abend, und die Mädchen saßen im Halbdunkel zusammen, worum Kitty mit der Entschuldigung gebeten hatte, daß sie arge Kopfschmerzen habe. Da schnitt Pippa das Thema an: »Vier Tage, und Alec ist nicht gekommen.«
»Niemand ist gekommen.«
Ihr trauriger Ton und die erstaunliche Naivität dieses Zugeständnisses rührten Pippa. Sie fuhr sehr behutsam fort: »Bitte, Liebes, verzeih mir, wenn ich dir zu nahetrete, aber glaubst du, daß du Mark liebst? Ist es das, was dich quält? Werde nicht ärgerlich, Kitty. Viele Mädchen würden ihn bezaubernd finden, deshalb kannst du es mir ruhig sagen.«
Ein erstickter Schluchzer war die einzige Antwort, aber sie sprach unbeirrt weiter: »Gib dich keiner Täuschung hin, Kitty. Entschuldige, aber ich kenne Mark ziemlich genau. Siehst du, er ist nicht die Spur in mich verliebt, daher erzählt er mir viel mehr, und ich kann ihn besser durchschauen. Er ist ein Windhund, weiter nichts. Er meint es nicht ernst, weder mit dir noch mit einer anderen, wenigstens vorläufig noch nicht. Natürlich mag er dich gern, Kitty, aber wenn du morgen von Alec geschieden wärst, würde er deinetwegen nicht einmal den kleinen Finger rühren.«
»Wie kannst du das sagen? Woher willst du das wissen?«
»Ich kenne diesen Typ, glaub mir, denn ich bin älter als du, habe mit Männern zusammengearbeitet und kann einen Luftikus von anderen unterscheiden. Und Mark ist einer. Reizend und charmant, solange man ihn nicht ernst nimmt, aber wenn du das tust, verbrennst du dich.«
»Aber er war doch so lieb zu mir an dem Tag neulich. Er sagte, er verstünde mich viel besser als Alec.«
Pippa malte sich aus, was sie Mark erzählen würde, wenn er ihr vor Augen käme, entgegnete jedoch mit sanfter Geduld: »Das sagen sie alle, aber wenn dann der Ehemann das Feld räumt, machen sie sich schleunigst aus dem Staub. Das klingt schrecklich, aber du bist noch so jung und kannst diese Leute nicht durchschauen wie — wie deine Tante Pippa.«
Sie lachte, damit es wie ein Witz wirken sollte, aber Kitty reagierte gar nicht darauf. Sie meinte kleinlaut: »Wenn er kommen und mit mir sprechen würde, wäre alles gut, das weiß ich.«
Und davon war sie nicht abzubringen.
Am nächsten Morgen entschloß sich Pippa zu einem Verzweiflungsschritt und ging zum Postamt, nicht um Alec, sondern um Mark anzurufen. Margaret war am Telefon.
»Er ist fort, wußten Sie das nicht? Eine Reise, die er schon längere Zeit plante, er besucht verschiedene Gestüte. Fuhr gleich nach der Hundeprüfung weg; ich erwarte ihn nicht vor nächster Woche zurück.«
Pippa wanderte sehr langsam wieder heim, in heftigem Kampf mit sich selbst. Sie haßte es, Menschen zu verletzen, und besonders Kitty, die sie wirklich gern mochte. Es kam ihr vor, als sollte sie ein Kind schlagen.
Und es wurde dann noch weit unerfreulicher, als sie gefürchtet hatte. Kitty schien wie betäubt von der Nachricht über Marks Fahnenflucht und verriet dadurch nur zu deutlich, daß sie angesichts der Glut seiner leichtsinnigen Liebesbeteuerungen auf seine ewige, unwandelbare Treue und Ergebenheit gebaut hatte.
»Es tut mir leid, Kitty, aber du mußtest es erfahren. Jetzt kannst du selber entscheiden, ob es sich lohnt, für eine solche Lappalie einen Mann wie Alec zu verlassen.«
Da begann Kitty zu weinen. Pippa, die mittlerweile gegen Tränen abgehärtet war, schenkte dem wenig Beachtung, sondern bereitete statt dessen einen starken schwarzen Kaffee, um ihn gleich zur Hand zu haben, sobald der Anfall abebbte... aber sie wartete vergebens, im Gegenteil, er steigerte sich immer mehr, bis sogar Pippa Angst bekam. Sie versuchte es mit ernsten Vorhaltungen, rannte hinaus und holte Riechsalz, riet ihr, zu Bett zu gehen, doch alles umsonst, Kitty schluchzte weiter, wurde bleicher und bleicher.
Endlich gab es Pippa auf und ließ sie allein. Vielleicht handelte es sich hier um eine Art Geltungsbedürfnis, das sich sofort legen würde, wenn keine Zuschauer mehr da waren. Sie ging finster entschlossen in die Bibliothek und fing an, Bücher auszusortieren. Aber als sie nach einer Weile zurückkam, mußte sie feststellen, daß ihre Methode denkbar ungeeignet gewesen war. Kitty lag quer über dem Bett, und sogar Pippa, die in dieser Beziehung keinerlei Erfahrung besaß, konnte sehen, daß sie ohnmächtig geworden war.