3
Es war ein lieblicher Traum. Pippa hatte ihr Wunderland endlich gefunden, wirklich ein Paradies und genau so, wie sie es sich immer ausgemalt hatte, goldener Sand, blauer Himmel und alles, was dazugehörte. Allerdings viel tropischer, als sie sich erinnerte, aber sie liebte ja die Hitze... War es nicht beinah unerträglich schwül? Sie fühlte dampfende, heiße Luft über ihr Gesicht fächeln.
Zu heiß. Sie fuhr mit einem heftigen Schreck in die Höhe. Irgend etwas war ganz nahe bei ihr, etwas Riesiges, Warmes und Unheimliches. Eine dunkle Masse füllte den Türrahmen aus, und ein stickiger, nasser Atem wühlte in ihrem Haar. Lähmende Furcht packte sie, grausige Vorstellungen von betrunkenen Kerlen und fremden, wilden Tieren schossen ihr durch den Sinn. Im nächsten Moment war sie hellwach und stöberte nach ihrer Taschenlampe, die sie vor dem Einschlafen neben sich gelegt hatte.
Sie knipste sie an und starrte mit großen, runden Augen in die ebenfalls großen, runden Augen einer riesigen Kuh. Ihre Köpfe waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und eine Sekunde lang glotzten sie sich gegenseitig wie hypnotisiert an. Dann gab die Kuh plötzlich ein dröhnendes Angstgebrüll von sich, machte mit einem schwerfälligen Satz kehrt und verschwand in der Dunkelheit. Pippa knallte die Tür zu und brach in ein befreites, halb nervöses Gelächter aus.
>Was bin ich für eine dumme Gans<, dachte sie. Von einer simplen Kuh hatte sie sich derartig ins Bockshorn jagen lassen, sie, die in der Stadt nachts durch die verrufensten Gassen gegangen war, ohne sich etwas dabei zu denken. Aber natürlich konnte man das nicht vergleichen. Mit leicht zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an und redete sich streng ins Gewissen. Jahrelang hatte sie sich nach Einsamkeit, Freiheit und Ruhe gesehnt, und jetzt, nachdem ihr Wunsch endlich in Erfüllung gegangen war, benahm sie sich wie ein alberner Backfisch. Allerdings war es hier fast zu ruhig und einsam, das mußte sie zu ihrer eigenen Rechtfertigung zugeben.
Sie lauschte angestrengt. Nichts als das regelmäßige Plätschern der Brandung und der leise Schrei eines Käuzchens im Geäst der Bäume. Nichts, wovor sie sich fürchten mußte, alles in Ordnung. Und doch hatte eine harmlos herumstrolchende Kuh sie ihrer gesunden fünf Sinne beraubt... Eine Kuh? War es auch wirklich eine gewesen? Neue, böse Ahnungen stiegen in ihr auf. Oder am Ende gar ein Bulle? Obwohl ihre anatomischen Kenntnisse in landwirtschaftlicher Beziehung keineswegs damenhaft oberflächlich waren, hätte sie es im Dunkeln doch nicht unterscheiden können. Sofort rollte vor ihrem geistigen Auge eine erschreckende Bildfolge ab. Sie und Balduin umzingelt von einer Herde wilder Stiere, gefangengehalten bis zum nächsten Morgen. Aber dann lachte sie sich selber aus. Dies war ja ein öffentlicher Verkehrsweg, und selbst wenn das Schlimmste passieren sollte, würde irgend jemand vorüberkommen und sie befreien. Wie auf ein Stichwort blendeten in diesem Augenblick Scheinwerfer auf, und ein Wagen gondelte in wildem Zickzackkurs an ihr vorbei. Sie schwankte einen Moment, ob sie ihn anhalten und sich nach einer Unterkunft in der Nähe erkundigen sollte, aber er kurvte so gefährlich von einer Straßenseite auf die andere, daß sie sich nicht getraute, aus Angst, der Fahrer könnte betrunken sein.
Nein, für heute abend war an der Sache sowieso nichts mehr zu ändern, und sich deswegen vielleicht noch in Unannehmlichkeiten einzulassen, hatte keinen Sinn. Sie drückte ihre Zigarette aus und legte sich wieder hin, aber diesmal ließ der Schlaf auf sich warten. Der Platz, den sie sich hier ausgesucht hatte, lag doch recht abgeschieden, und sie neigte jetzt fast dazu, James mit seinen Warnungen recht zu geben.
Das ärgerte sie jedoch wieder, und unruhig wälzte sie sich auf dem Polster hin und her. Bei geschlossener Tür war ihre Lage ziemlich unbequem und zudem die Luft im Wagen dumpf und heiß. Sie knipste die Taschenlampe an und guckte auf die Uhr. Erst zehn. Noch sieben Stunden bis zum Morgengrauen. Was sollte sie nur die ganze Zeit anfangen? Energisch konzentrierte sie ihre Gedanken auf die Einrichtung ihrer Leihbücherei. Dieses Regal sollte ausschließlich für Kriminalromane bestimmt sein und dort an der Längswand stehen, das andere die Biographien enthalten und seinen Platz an dem breiten Fenster bekommen. Sie sah sich schon im Geist ein erlesen kultiviertes Haus führen. Das Geschmacksniveau ihrer Leserschaft bedeutend heben und — wer weiß — sogar den ganzen Distrikt tonangebend beeinflussen. Träumerische Phantasien der imaginären Pippa vermischten sich mit ihren eigenen Zukunftsgedanken und lullten sie sacht in Schlaf.
Aber diesmal sank sie nicht so tief in Morpheus Arme. Der frühe Mond war wieder untergegangen, die warme, dunkle Nacht durchbrach kein Laut. Ebbe hatte mittlerweile eingesetzt, und die Wasserfläche lag spiegelglatt, kaum von einem leichten Gekräusel bewegt. Die vagabundierende Kuh war verschwunden, und auch das Käuzchen schrie nicht mehr. Trotzdem fand Pippa keine Ruhe. Mehrmals änderte sie ihre verkrampfte Lage, und in ihrem Unterbewußtsein lauerte ein Rest von Wachsamkeit. Sie wollte nicht noch einmal durch einen derartigen Schock aufgestört werden.
Daher erschrak sie auch nicht halb so heftig wie das erste Mal, als etwa eine Stunde später plötzlich die Wagentür gewaltsam aufgerissen wurde und eine laute Stimme sie ärgerlich anbrüllte: »So, hier steckst du also! Bist ja nicht sehr weit gekommen. Na, hoffentlich ziehst du daraus eine Lehre für die Zukunft.«
Auf den ersten, noch schlafblinzelnden Blick erkannte Pippa, daß sie es hier mit einer weit weniger unheimlichen Gestalt zu tun hatte. Dies war ein Mann. Möglicherweise einer von den finsteren Gesellen, die sie in der Schankstube des Hotels gesehen hatte, aber immerhin, mit einem Mann wußte sie fertig zu werden, dachte sie naiv — mit Kühen war das etwas ganz anderes.
Der junge Mann, der im Strahl der Taschenlampe geblendet mit den Augen zwinkerte, war offenbar zornentbrannt, aber betrunken bestimmt nicht, und er sah auch anständig aus, stellte Pippa mit sachkundigem Blick fest.
»Dreh die verflixte Funzel aus«, knurrte er, sich vor dem grellen Lichtschein mit einer Grimasse abwendend. »Ich hoffe, du kommst jetzt endlich zur Vernunft. Wir fahren sofort nach Hause«, damit riß er die Tür auf und machte Anstalten, hinter das Lenkrad zu klettern.
Pippa entgegnete gefaßt und betont kühl: »Wir denken nicht daran. Sie fahren überhaupt nirgendwohin in meinem Wagen. Außerdem ist ein Reifen kaputt.«
Trotz der Dunkelheit merkte sie, daß ihre Worte eine sensationelle Wirkung ausübten, sie hörte ihn verblüfft nach Luft schnappen und murmeln: »Was, zum Kuckuck...?« Das Deckenlicht wollte sie absichtlich nicht einschalten, zerzaust wie sie war und ohne Make-up, aber er rumorte so lange herum, bis er den Knipser fand. Dann drehte er sich um und starrte sie fassungslos an. Im nächsten Moment zwängte er sich mit verlegen gestotterten Entschuldigungen rückwärts wieder aus dem Wagen hinaus. Pippa machte sofort das Licht wieder aus, hielt aber die Taschenlampe unverwandt auf ihn gerichtet.
»Oh, Verzeihung. Tut mir entsetzlich leid... Dachte, Sie seien — Sie seien jemand anders. Sicher haben Sie einen furchtbaren Schreck gekriegt.«
»Bei Ihnen war’s lange nicht so schlimm wie bei der Kuh«, antwortete Pipa. »Aber was wollten Sie eigentlich?«
»Ach — ich suchte jemanden. In genau so einem Wagen wie diesem hier — wenigstens sah er im Dunkeln so aus. Ich hätte nie gedacht, daß es ein anderer sein könnte. Hier kommt nämlich nachts nie ein Mensch entlang, und ich war sicher, daß sie irgendwo steckenbleiben würde, weil sie so miserabel fährt. Tut mir wirklich furchtbar leid.«
»Schon gut. Ja, die Straße ist wie verödet. Ich habe seit sechs Uhr nur einen einzigen Wagen vorbeikommen sehen.«
»Wann war das?« fragte er schnell.
»Kurz nach zehn. Beinah hätte ich ihn aufgehalten, aber er karriolte so komisch hin und her.«
»Im Zickzack von einem Graben zum anderen?«
Als Pippa es bestätigte, meinte er im Brustton der Überzeugung: »Klar, das ist Kitty. Ich muß sofort hinter ihr her. Wer weiß, in welcher Patsche sie wieder gelandet ist.«
Pippa spähte suchend hinaus. »Aber wie sind Sie denn hergekommen? Ich habe gar keinen Wagen gehört.«
»Nicht mit dem Wagen, den hat ja sie. Ich fuhr mit dem Rad hinterher.«
»Mit dem Rad?« In ihr Erstaunen mischte sich freudige Erleichterung. Und sie hatte geglaubt, in der Wildnis zu sein. Ein Fahrrad, das klang doch beruhigend brav und bürgerlich. »Dann sind Sie wohl hier in der Gegend ansässig?«
»Ungefähr fünf Kilometer entfernt, und der Weg geht ganz eben an der Küste entlang, aber mir kam es wie zehn vor. Ich bin seit Jahren nicht mehr mit dem Rad gefahren, und da, hinter der Biegung, als ich in ein Schlagloch geriet, ist es vollständig unter mir zusammengekracht. Na, da gibt’s nichts als zu Fuß weitertippeln. Also entschuldigen Sie die Störung... Sie kampieren wohl im Freien, was?«
Nicht daß es ihn tatsächlich interessierte, er wollte nur das Gespräch nicht abreißen lassen.
Sie antwortete: »Ich habe eine Reifenpanne, deshalb mußte ich anhalten. Schade, sonst hätten Sie meinen Wagen nehmen können.«
Da! Warum hatte sie das jetzt gesagt? Was wußte sie überhaupt von diesem jungen Mann? Und er griff natürlich prompt zu.
»Oh, das ist aber riesig nett von Ihnen. Und um das Loch machen Sie sich nur weiter keine Sorgen, den Reifen wechsle ich Ihnen im Handumdrehen aus, wenn Sie mir leuchten können. Darin bin ich wahrer Hexenmeister.«
Der zweite Hexenmeister heute, konstatierte Pippa. Er zerrte schon an der Klappe des Werkzeugkastens, und sie sprang hinaus, um ihm die Taschenlampe zu halten.
»Fein, hier ist schon der Ersatzreifen. Und Luft ist auch massenhaft drin. Sie, zum Beispiel, hat keine Ahnung, daß Schläuche überhaupt aufgepumpt werden müssen.«
Pippa genausowenig, aber James hatte dafür gesorgt. Sie nahm das indirekte Lob geschmeichelt hin und hielt die Schrauben, während er mit affenartiger Geschwindigkeit hantierte und sein Mund keinen Augenblick Stillstand.
»Den Riß flicke ich morgen früh. Besser, man hat den Ersatzreifen immer dabei... So, das hätten wir. Alle an Bord — oder möchten Sie lieber selbst fahren?«
Pippa barst fast vor Neugierde, glaubte sich aber eine damenhafte Geste schuldig zu sein und antwortete heuchlerisch: »Ich kann doch auch hier warten. Ich friere schon nicht, wenn ich mich in eine Decke wickle.« Es sollte heroisch klingen und verfehlte auch seine Wirkung nicht.
»Den Teufel werden Sie tun«, entgegnete er grob. »Wer weiß, was Ihnen alles zustoßen könnte. Und wer sagt Ihnen denn, daß ich wieder zurückkomme? Sie sind verdammt vertrauensselig... Oh, Verzeihung, daß ich immer fluche, aber ich bin tatsächlich in Sorge. Sie hat keinen Führerschein und fährt wie der Satan... Da, schon wieder. Tut mir leid.«
»Hören Sie doch mit den ewigen Entschuldigungen auf«, erwiderte Pippa und richtete sich auf dem Mitfahrerplatz ein. »Meine Ohren sind nicht so zart besaitet.«
»Gut«, murmelte er zerstreut, während er den Gang einschaltete. »Komisch, das ist das gleiche Modell wie unserer. Kein Wunder, daß ich dachte, ich rede mit ihr.«
Pippa fand es nun allmählich an der Zeit, die Geschichte von Anfang an zu erfahren und platzte ohne falsche Hemmungen heraus: »Wer ist ihr?« Wobei ihr einen Moment Zweifel kamen, was James strenger getadelt haben würde, ihre haarsträubende Grammatik oder ihre zudringliche Neugierde.
Er fuhr langsam die Straße entlang, suchte mit den Augen aufmerksam die Böschungen zu beiden Seiten ab und antwortete kurz: »Kitty natürlich, meine Frau... Übrigens, ich bin Alec Moore.«
»Und ich Pippa Knox«, gab sie hochbefriedigt zurück. Jetzt wurde es interessant. Das war besser, als mutterseelenallein, von wilden Stieren bedroht, am Wegrand zu schlafen. Gleich würde er ihr alles erzählen, denn wem sollte man Vertrauen entgegenbringen, wenn nicht ihr? dachte Pippa selbstgefällig. Und sie würde ihm dann wertvolle schwesterliche Ratschläge geben.
Er wartete auch keine weitere Aufforderung ab, wahrscheinlich in dem Gefühl, ihr eine Erklärung schuldig zu sein.
»Sie müssen mich nicht für übergeschnappt halten, aber wissen Sie, sie lief ausgerechnet weg, als ich draußen bei Muriel war, und deshalb erfuhr ich es erst später. Wir hatten nämlich mächtigen Krach wegen der Tanzerei.«
Nach diesem vielversprechenden Anfang fand Pippa, eine weitere damenhaft überlegene Bemerkung ihrerseits könne nichts mehr verderben.
»Sie brauchen es mir nicht näher zu erklären, ich begreife vollkommen«, sagte sie und wartete ängstlich, ob er sie etwa beim Wort nehmen würde. Doch die Dunkelheit und seine nervöse Besorgtheit drängten ihn, sein Herz auszuschütten.
»Sehen Sie, Sie verstehen mich. Ich hab’s gleich bemerkt. Das kann ich ja ruhig sagen.«
Pippa frohlockte innerlich. Offenbar hatte ihm der eine Blick vorhin, als er das Deckenlicht anknipste, genügt. Ganz so fürchterlich abschreckend konnte sie demnach nicht ausgesehen haben.
»Das ist eben das Wohltuende an älteren Frauen, sie verstehen einen. Und das wär’s auch, was Kitty brauchte. Jemand Reiferen, Erfahreneren, an den sie sich wenden könnte. So etwas wie eine Tante.«
Während des tödlichen Schweigens, das daraufhin entstand, kam Pippa zu der endgültigen Feststellung, daß dieser junge Mann da neben ihr ein abscheulich unsympathischer Bursche sei. Möglich, daß sie nicht gerade besonders gut ausgesehen hatte, aber das konnte man ja auch von niemandem verlangen, mitten in der Nacht. Jeder einigermaßen gebildete Mensch wußte das und ging taktvoll darüber hinweg anstatt dummdreiste Bemerkungen über >Tanten< zu machen. Ohne jedoch ihre Verstimmung zu bemerken, fuhr er fort:
»Sicher, man kann ihr nachfühlen, daß sie das Landleben satt kriegt, sie ist eben noch ein halbes Kind und immer nur in der Stadt gewesen. Ich weiß auch, daß sie sich sehr darauf gefreut hatte, heute abend tanzen zu gehen, aber sie muß doch nicht gleich wie eine Brauseflasche explodieren und mir vorwerfen, Muriel sei mir wichtiger als sie.«
Pippa nickte im Dunkeln verständnisvoll vor sich hin. Die übliche Dreiecksaffäre. Aber sie hatte die >Tante< noch nicht verschmerzt und neigte deshalb dazu, Kittys Partei zu ergreifen.
»Die eigene Frau sollte immer an erster Stelle stehen«, sagte sie spitz und ärgerte sich gleich darauf maßlos, weil es tatsächlich wie die strenge Verhaltungsmaßregel einer Tante geklungen hatte.
»Alles ganz schön und gut, aber schließlich müssen wir auch leben«, verteidigte er sich.
»Freilich, aber doch bestimmt ohne Muriel. Mögen Sie sie denn so gern?«
»Mögen — weiß ich nicht, aber ich brauche sie. Sie hat es im letzten Jahr allein auf vierhundert gebracht.«
Pippa schwieg verdutzt. Vierhundert — was? Pfund, nahm sie an. Die andere hatte anscheinend Geld.
»Es gibt Dinge, die wichtiger sind als finanzieller Vorteil«, antwortete sie und mußte an sich halten, um nicht zu kichern. Schon wieder dieser tantenhafte Ton.
»Ja, gewiß, aber dem armen Geschöpf ging’s doch so schlecht.«
»Was sind Männer für Einfaltspinsels« dachte Pippa. »Von Mitleid lassen sie sich immer überrumpeln.«
»Na, Gott sei Dank, nun ist ja alles in bester Ordnung«, meinte er plötzlich aufgeräumt. »Und ein kräftiges Stierkalb war’s obendrein. Aber ich mußte doch dabei helfen, das sehen Sie sicher ein.«
Pippas unterdrücktes Kichern machte sich in einem schallenden Gelächter Luft.
»Ein Stierkalb? Dann ist Muriel also eine Kuh?«
»Natürlich, was dachten Sie?« Aber er war mit seinen Gedanken gar nicht bei der Sache, sondern suchte ängstlich die Straße ab.
»Donnerwetter, sie ist wirklich nirgends zu sehen. Wie hat sie’s denn bloß so weit geschafft? Kann nicht mal die Gänge unterscheiden. Ich hoffe nur, sie hat nichts über den Haufen gerannt.«
»Oh, das glaube ich nicht, auf der ruhigen Straße. Dieser Küstenstrich ist besonders schön, man wundert sich nur, daß es an einem so idealen Platz keine Campingplätze oder Strandhütten gibt.«
»Daran ist der alte Warren schuld — der Mann, dem das Land gehört. Der weigert sich, auch nur einen Quadratmeter Boden zu verkaufen, und Zelten erlaubt er nicht. Zetert immer über >das Gesindel<, und sie streuten ihm überall zerbrochene Flaschen herum. Alter, sturer Querkopf. Stemmt sich gegen jeden Fortschritt.«
»Muß ja auch herrlich sein, so einen Strand für sich allein zu besitzen. Ich glaube, Ihr Mr. Warren würde mir gefallen.«
»Bestimmt nicht, darauf gehe ich jede Wette ein. Ein richtiges Rindvieh ist das.«
Diese bäuerlich derbe Bezeichnung verwirrte Pippa ein wenig, obwohl sie sie schon gehört hatte. Der junge Mann gebrauchte sie offenbar als Schimpfwort, obwohl ihm Muriel doch entschieden am Herzen zu liegen schien.
»Sieht aus, als ob sie tatsächlich noch zu dieser Tanzerei gefahren ist«, fuhr er mit wachsender Beunruhigung fort. »Wir haben uns gegenseitig fest versprochen, nie einzeln, sondern immer nur gemeinsam zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Aber dieser Schweinehund rief sie an und wird sie wahrscheinlich dazu überredet haben. Sicher tanzt sie jetzt mit ihm.«
Schweinehund. In dieser Gegend schien die Viehzucht zu florieren.
Plötzlich deutete er aufgeregt nach vorn.
»Mein Gott, da ist sie — und der Wagen steht noch auf allen vier Rädern... Aber er hängt halb im Graben.« All sein Ärger schien mit einem Schlag verraucht, und er bremste so heftig, daß Pippa mit der Nase gegen die Windschutzscheibe flog.
Diesmal hätte er nun Grund gehabt, sich zu entschuldigen, dachte sie pikiert. Aber damit hielt er sich nicht lange auf. Er war schon draußen, beugte sich ins Fenster des anderen Wagens, und sie hörte ihn sagen: »Liebling, fehlt dir auch nichts? Ganz gewiß nichts?«
Pippa kam sich mit einem Mal reichlich dumm und überflüssig vor. Eben noch war sie die kluge, ältere Vertrauensperson gewesen, hatte diese zwei albernen jungen Leutchen zusammengebracht, und nun vergaß man sie einfach vollkommen, ignorierte sie, als sei sie wirklich nur eine alte Tante. Sie kurbelte das Fenster hoch und überließ die beiden sich selbst.
Es dauerte mehrere Minuten, bis Alec wieder an die Scheibe klopfte, und als sie öffnete, sah sie ein kleines, zierliches Persönchen, das sich eng in seinen starken, beschützenden Männerarm kuschelte.
»Das ist sie. Das ist Kitty. Mrs. Knox.«
»Miss«, berichtigte sie ihn spitz. Nein, dieser Mensch war doch ein ausgemachter Trottel. »Oh, guten Abend. Hatten Sie einen Unfall?«
Ihre Stimme klang leicht tadelnd, aber das Mädchen schien dadurch nicht im geringsten eingeschüchtert zu sein.
»Nein, das nicht — ich wollte nur weg, damit Alec einsieht, daß er mich nicht immer so anbrüllen darf. Ich finde Schimpfen eklig, Sie nicht? Ja, und dann wollte ich wieder umwenden, kriegte aber den dummen Rückwärtsgang nicht ‘rein. So wartete ich eben, daß jemand vorbeikommen würde. Hoffentlich sind Sie mir jetzt nicht böse, aber schuld daran ist dieses blöde Biest von Auto.«
Der süß unschuldige, selbstgefällige Ton, in dem sie sprach, verblüffte Pippa. Sie sagte: »Oh, mir hat es nichts ausgemacht, aber Ihr Mann war sehr in Sorge«, und ertappte sich zum drittenmal darin, daß sie sich wie eine gestrenge Tante gebärdete — und wie eine spinöse alte Jungfer obendrein. Ärgerlich dachte sie: >Jetzt habe ich aber dieses engelhafte Pippa-Gehabe bald satt. Anderen Leuten zu helfen, scheint mir das Schwierigste zu sein, was es gibt. Sie fühlen sich nicht mal beschämt oder gar dankbar dafür.< Laut fügte sie rasch hinzu: »Nein, wirklich, es war gar nicht schlimm, im Gegenteil, dadurch ist mir die Zeit viel schneller vergangen.«
»Wenn Sie sich nur nicht zu sehr angestrengt haben, das würde mir leid tun«, meinte sie rücksichtsvoll betulich, als spräche sie zu einer etwas empfindsamen älteren Verwandten.
Pippa wehrte ziemlich kurz ab: »O nein, machen Sie sich nur keine Gedanken um mich. Also Sie beide fahren jetzt brav nach Hause, und ich suche wieder mein einsames Plätzchen am Strand auf. Gute Nacht.«
Aber das Mädchen fiel ihr rasch ins Wort: »Ach bitte, tun Sie das nicht, kommen Sie mit uns. Wir können Ihnen zwar nur ein winziges Zimmerchen anbieten, aber ich finde, besser eng als im Freien schlafen. Und Alec wird morgen früh gleich Ihren Reifen flicken.«
Im Nu hob sich Pippas Laune wieder. Das versprach doch noch ein vergnügliches Ende ihrer ersten einsamen Nacht in der Fremde.
Und Alec redete ihr ebenfalls zu: »Natürlich müssen Sie mitkommen. Sie können sich im Freien ja den Tod holen.«
Diese dauernden Anspielungen auf ihre körperliche Hinfälligkeit reizten Pippa allmählich, aber sie willigte schließlich ein, mit ihrem Wagen zu folgen.
»Es geht immer geradeaus an der Küste entlang, dann nach links ungefähr einen halben Kilometer weiter. Ich fahre langsam, damit Sie sich nach unseren Scheinwerfern richten können.«
»Aber ganz, ganz langsam, bitte.« Sie hatte sich vorgenommen, unter allen Umständen so viel Zeit zu gewinnen, daß sie ihr vom Schlaf ramponiertes Äußere mit Hilfe von Puder und Lippenstift wieder auffrischen konnte, bevor sie ihnen im hellen Licht gegenübertrat. Dann sollten sie aber ihr blaues Wunder erleben — von wegen Tante!
Der günstige Moment bot sich, als der Wagen vor ihr in den Seitenweg einbog. Sie stoppte sofort, knipste das Deckenlicht an und machte sich mit Windeseile ans Werk. Der Erfolg war beachtlich. Dann stopfte sie die Utensilien wieder in die Handtasche und fuhr weiter. Nach einem halben Kilometer erblickte sie ein kleines weißes Haus hoch oben am Hang über der Straße, und als sie die steile Auffahrt hinauffuhr, traf sie Alec, der eben im Begriff war, wieder umzukehren, um nach ihr zu suchen.
»Hallo, da sind Sie ja. Ich dachte schon, Sie seien verlorengegangen. Hatten Sie Schwierigkeiten?«
»Nichts, das sich nicht in zwei Minuten wieder hätte beheben lassen«, antwortete sie leichthin und merkte befriedigt, wie ihm ihre Tüchtigkeit imponierte. »Ah, Sie haben ja sogar elektrisches Licht. Ein Wunder an einem so entlegenen Platz.«
»Wir besitzen auch unseren eigenen Generator«, erklärte er stolz und machte Anstalten, ihr beim Aussteigen stützend unter die Arme zu greifen. Aber Pippa hüpfte leichtfüßig heraus und trat verwegen ins hellerleuchtete Zimmer. Kitty stieß vor Überraschung einen kleinen Schrei aus, als sie sie sah.
»Du lieber Himmel — aber Sie sind ja ganz jung! Und Alec erzählte mir immerzu von gereiften, erfahrenen Frauen und guten Ratschlägen.« Ihr rundes, kindliches Gesicht verzog sich vor Vergnügen und bekam tiefe Grübchen.
»Und Sie haben den passendsten Namen, den man überhaupt für Sie finden konnte«, erwiderte Pippa, das puppenhafte Figürchen betrachtend. »Woher wußten Ihre Eltern schon bei der Taufe, daß Sie so aussehen würden — genau wie ein hübsches, pusseliges Kätzchen?«
Wenn Kitty hätte schnurren können, würde sie es jetzt vor Behagen getan haben. Sie war wirklich ein allerliebstes kleines Ding mit einer reizenden Figur, weichem, blondem Haar, großen, graugrünen Kulleraugen und langen, dunklen Wimpern. In diesem Moment war sie mit sich und dem Wirrwarr, den sie angestiftet hatte, höchst zufrieden, wie eine junge Katze, die sich nach einer Schale voll süßem Rahm den Bart schleckt. Wahrscheinlich hatte sie auch nicht mehr Verstand als das verspielte kleine Tier, dem sie so ähnlich sah, aber auf jeden Fall war sie der Typ, der auf Männer anziehend wirkt. Ihr Mann vergötterte sie offensichtlich, schien jedoch ihrer kapriziösen Art etwas fassungslos gegenüberzustehen. Er war, im Verhältnis zu ihren achtzehn oder neunzehn, viel älter, schätzungsweise dreißig, und entsprach bei Licht ziemlich genau der Vorstellung, die sich Pippa von ihm gemacht hatte. Solide, nett und gutmütig, nicht ausgesprochen groß oder gar gut aussehend, aber verläßlich und gewissermaßen erfahren, wenn auch nicht in puncto Frauen und schon gar nicht, fügte Pippa in Gedanken schnippisch hinzu, was deren Alter betraf.
Bald saßen sie zusammen in der kleinen, freundlichen Küche beim Abendbrot, und Pippa erzählte ihnen ausführlich von ihrer Erbschaft und der Suche nach einem netten bescheidenen Dorf, wo sie sich eine Leihbücherei einrichten könnte.
»Ich muß wohl schon lange von der Hauptstraße abgekommen sein, denn ich wurde mit einem Mal während des Nachmittags so schläfrig, und dabei habe ich wahrscheinlich den Wegweiser übersehen. Nun muß ich morgen wieder zurückfahren und die Abzweigung finden. Zu dumm.«
Kittys Augen wurden immer größer und runder. Man konnte die geballten Gedanken hinter ihrer Stirn förmlich arbeiten sehen, und schon platzte sie auch damit heraus.
»Nein, Sie dürfen nicht wieder zurückfahren. Sie müssen weiter — weiter nach Rangimarie. Das ist genau der richtige Ort für Sie. Das, was Sie sich wünschen, Meer und Strand und schönes, warmes Wetter und viel Leute im Sommer, die Bücher lesen wollen... Oh, kommen Sie doch nach Rangimarie. Alec, sie muß einfach, nicht wahr? Es liegt nur sieben Kilometer von hier entfernt, und für uns wäre es so nett, Sie in der Nähe zu haben.«
»Unverheiratete Tante immer in Reichweite«, bemerkte Pippa.
»Jemand, zu dem du immer rennen kannst, wenn du mich satt hast«, warf Alec ein.
»Jemand, der anders ist als all die langweiligen Weiber hier ringsherum«, trotzte Kitty. »Und jemand, der mich nicht anbrüllt.« Dabei schleuderte sie ihrem Mann einen herausfordernden Blick unter ihren langen Wimpern zu und schmiegte ihre Hand in die Pippas.
»Kommen Sie, wir gehen zu Bett. Schon zwei Uhr, und Alec muß früh aufstehen, um seine dummen Kühe zu melken. Aber Sie sollen sich ausruhen — nicht weil sie eine alte Tante sind oder klapprig auf den Beinen oder sonst was, sondern weil wir Sie dann nach Rangimarie bringen und Sie frisch und ausgeschlafen sein müssen, damit Sie sich gleich entscheiden können.«
Sie waren wirklich nett und gastfreundlich zu ihr. Pippa vergaß ihre weltverbessernden Ambitionen völlig und bereute nicht einmal, daß sie diese günstige Gelegenheit nicht besser ausgenutzt hatte. Sie dachte nur daran, daß es ein ganz außergewöhnlicher, ereignisreicher Tag gewesen war und dazu noch ein sehr, sehr langer. Und im nächsten Moment sank sie schon in tiefen, friedlichen Schlaf.