18
Pippa ärgerte sich maßlos über sich selbst. Gesund zu sein war für sie sozusagen immer Ehrensache gewesen, sie hatte damit geprahlt, wie wohl und kräftig sie sich fühlte, und über Nerven gelacht, selbst zu ihren knappsten und hungrigsten Zeiten. Und jetzt? Da saß sie nun als stolze Hausbesitzerin, mit einem eigenen Hund — von einer Ziege gar nicht zu reden —, frei und selbständig, und mit Pam, ihrer liebsten Freundin, als Gesellschaft, und krauchte elend herum, aß nichts, schlief schlecht und sah jeden Tag erbärmlicher aus. Und die Schuld daran hatte sie ganz allein sich selbst zuzuschreiben.
Diesen Vorwurf konnte sie sich auch in ihrer ärgsten Bedrängnis, dem Geheimnis um Nelson Warrens Tod, nicht ersparen, denn wenn sie sich diskret verhalten hätte, wenn sie an dem erleuchteten Fenster mit abgewendeten Augen vorbeigegangen wäre, wie man das von einer >Dame< erwartet, dann würde sie von diesem Anblick, der sie jetzt wie ein Spuk verfolgte, verschont geblieben sein. Und das war nämlich die Ursache allen Übels, gestand sie sich ehrlich ein, diese Erinnerung, die sie nicht bannen konnte, und das Geheimnis, das sie niemandem mitteilen durfte.
Die schwerste Überwindung kostete es sie, sich Douglas gegenüber normal und ungezwungen zu benehmen, wenn sie mit ihm sprach. Er kam seit seines Bruders Tod nur noch äußerst selten in die Leihbibliothek und ließ seine Bücher meistens durch seinen Sohn oder Jane umtauschen, die jetzt wieder ihren Verlobungsring trug und nur noch auf eine neue Krankenpflegerin wartete, die ihre Stelle einnehmen konnte, um ihren Philip heiraten zu können. Aber Pippa war Douglas zweimal begegnet und hatte jedesmal heftig gegen die Versuchung ankämpfen müssen, davonzulaufen und sich zu verstecken. Wie eine hysterische Gans, schalt sie sich selbst und geriet in hellen Zorn.
Und dann die Geschichte mit Dr. Hortons Ehe! Kein Mädchen, das auch nur über einen Funken gesunden Menschenverstandes verfügte, würde so viel Zeit darauf verschwenden, sich immer wieder aufs neue mit diesem Gedanken herumzuschlagen. Dutzendmal am Tag sagte sie sich, daß es doch eine alte, verjährte Affäre sei und er höchstwahrscheinlich der bezaubernden Anne schon längst nicht mehr nachtrauere. So ähnlich hatte er es ja selbst ausgedrückt, und er war kein Mensch, der schwindelte. Aber natürlich mußte diese erste Liebe seinen Geschmack in bezug auf Schönheit, Witz und Charme anderer Frauen maßgebend beeinflußt haben, und sie, hielt Pippa sich voll Bitterkeit vor, besaß keinen dieser drei Vorzüge.
Aber weshalb beschäftigte sie das eigentlich? Aus welchem Grund sollte er sie denn überhaupt mit der verlorenen Anne vergleichen? Sie waren doch nur gute Freunde, weiter nichts, er stand zu ihr in dem gleichen kameradschaftlichen Verhältnis wie zu Jane oder Schwester Price, weil er eine natürliche Gabe hatte, herzliche Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen, aber den Schritt darüber hinaus noch einmal zu wagen, dürfte sehr schwer für ihn werden, das wußte sie. Sicherlich betrachtete er sie nur als gute Freundin — und mit einer Frau, die weder groß und schlank noch charmant oder gar schön war, konnte man ja auch nichts anderes sein als gut befreundet, nicht wahr?
Denn mittlerweile hatte Pippa in ihrer Phantasie Anne Horton mit allen nur erdenklichen begehrenswerten Attributen ausgestattet, und wenn ihre Träume sich nicht gerade mit Douglas Warrens Bild quälten, dann waren sie erfüllt von Visionen, die ihr eine unsagbar schöne Anne vorgaukelten.
Und als ob sie an diesen beiden Problemen noch nicht genug gehabt hätte, verfolgte sie außerdem beständig die Geschichte mit Pam und Mark, denn nun stand es für sie mit ziemlicher Sicherheit fest, daß Pam in Mark verliebt war. Was als Spiel angefangen hatte, war inzwischen Ernst geworden. Daß sie Mark heiraten würde, schien mehr als zweifelhaft, aber unter dem Bruch der Beziehungen würde sie ebenso leiden.
Die Mädchen besprachen diese Dinge nie miteinander, und das allein war schon nicht geheuer. Ein undurchdringliches Schweigen umgab Pams Verhältnis zu Mark, aber Pippa spürte, daß sich in ihrem Innern ein heftiger Kampf vollzog zwischen dieser Liebe und ihrem Drang nach Freiheit, nach einem heiteren, abenteuerlichen Leben ohne Bindungen. Pippa war jetzt nicht mehr die einzige, die schlecht schlief, mehrmals hatte sie Pam nachts aufrecht im Bett sitzen und unverwandt in den Mond starren sehen.
Kurz und gut, das Leben im >Friedlichen Paradies< entsprach momentan nicht im geringsten den Erwartungen, die man in seinen Namen setzen durfte.
Abends zündeten sie sich jetzt regelmäßig ein Kaminfeuer an, obwohl man es tagsüber noch leicht entbehren konnte. Ihre fröhlichen Entdeckungsreisen hatten seit jener unglücklichen Fahrt, die in Warrenmede endete, jäh aufgehört, aber sie hatten Holz in Hülle und Fülle, denn Mark hatte durch Freddy noch zusätzlich eine Fuhre schicken lassen. Er war sogar selbst erschienen, um die Scheite im Garten fein säuberlich aufzuschichten.
Im Augenblick saß Pippa hinten im Garten und hobelte Rüben für Amanda, während Mohr eifersüchtig zuschaute. Sie gab der Ziege eine Kostprobe zu knabbern, versicherte Mohr, daß solche Happen absolut nicht nach seinem Geschmack wären, und nahm sich zum soundsovielten Mal fest vor, weder an Dr. Horton noch an Douglas zu denken, was, wie gewöhnlich, der Auftakt für eine besonders intensive Beschäftigung mit beiden war.
Deshalb horchte sie mit einer gewissen Erleichterung auf, als das Gartentor klappte. Das mußten Pam und Mark sein, die eher zurückkamen, als sie erwartet hatte. Es wurde Zeit, daß sie sich ums Essen kümmerte. Sie saß noch da, als sich Mohr knurrend erhob und sich Schritte durchs Haus näherten. Sie klangen fest und gemessen, nicht wie das flinke Geklapper von Pams hohen Absätzen, gefolgt von Marks leichtem Tritt. Überrascht blickte sie auf und sah James in der Hintertür stehen.
»James!« schrie sie und ließ die Schüssel mit Rüben auf die Erde kollern, als sie auf ihn zustürzte, um ihn zu begrüßen. Er streckte ihr mit einer hastigen Bewegung beide Hände entgegen, in der schreckhaften Vorstellung, sie könnte ihm womöglich um den Hals fallen und ihn küssen, obwohl ihm andererseits die Vernunft sagte, daß sie dieses Kunststück ohne Trittleiter kaum fertigbringen würde.
»Oh, James, wie schön — wie wunderschön, dich zu sehen! Ruhig, Mohr, ruhig. Das ist doch James, der dich mir geschenkt hat.«
Nach der Anwandlung von Trübsinn und Verlassenheit schlug ihre Stimmung in helle Freude um. Das war James, ihr einziger Verwandter, jemand, der wirklich zu ihr gehörte und dem sie vertrauen konnte. Zwar streng in seiner Kritik, aber gerecht, und er hatte noch nie versagt, wenn sie in Not gewesen war. Sie sehnte sich so sehr nach einer verständnisvollen Seele, daß sie einen Moment ehrlich die Absicht hatte, James von all ihren Nöten zu erzählen.
Er musterte sie lange und aufmerksam.
»Du siehst ziemlich elend aus. Bekommt dir das Klima nicht? Es heißt immer, die Seeluft an der Nordküste strenge die Nerven besonders an. Du bist viel zu mager, das macht dich älter.«
Pippa lachte über seine wenig schmeichelhafte Begrüßung. Das war wieder typisch James, kein anderer hätte es so unverblümt ausgedrückt. Sie ergriff ihn bei den Händen und zog ihn ins Haus.
»Komm, wir wollen Tee trinken. Ich wünschte, ich hätte etwas Alkoholisches für dich. Freddy bewahrte immer eine Menge solches Zeug im Schuppen auf, aber er hat inzwischen ein neues Leben angefangen.«
»Freddy? Der Mann, der hier seinen Lastwagen unterstellt? Was hat er mit Alkohol auf deinem Grundstück zu schaffen?«
»Och, nur Schleichhandel«, antwortete Pippa, und James stutzte. Mr. Mannerings anzügliche Worte kamen ihm wieder in den Sinn. >Stecken ihre Nasen doch überall rein.< Er hätte eher herkommen sollen.
»Aber Tee habe ich und sogar Kuchen.«
»Was für eine unverbesserlich spendable Person du bist... Trinkst du denn gewöhnlich um diese Zeit Tee?«
»Oh, wie’s gerade kommt und immer, wenn uns jemand besucht.«
»Das muß doch dein Budget erheblich belasten«, meinte er tadelnd, und sie mußte wieder lachen. James war so herrlich unverändert.
»Sie bringen immer alle was mit«, erklärte sie leichthin und fuhr gleich darauf fort, ihn nach verschiedenen Bekannten in der Stadt zu fragen. James war zwar nicht sehr mitteilsam, aber man merkte ihm doch die Freude an, sie zu sehen. Pippa streichelte Mohrs Kopf und sagte: »Weißt du, daß du mir mit diesem Hund das schönste Geschenk gemacht hast? Ohne ihn könnte ich gar nicht mehr auskommen. Ein paarmal hat er mich schon aus schwierigen Situationen gerettet und außerdem hat er mir die Einsamkeit vertrieben, ehe Pam hier war. Amanda ist ein drolliges Tier, aber Mohr und ich sind wie richtige Kameraden. Ich fürchte mich vor nichts und niemand mehr, wenn er in der Nähe ist — und darauf kann ich mich bei ihm immer verlassen.«
Mohr hörte dieser Lobrede in sichtlicher Verlegenheit zu, stand auf und legte die Pfote auf ihren Arm. Er war ein Hund, der alle Übertreibungen und schwärmerischen Gefühlsäußerungen als peinlich empfand. Sie bedeuteten sich gegenseitig alles auf der Welt, das wußten sie beide, nicht wahr? Was ging das diesen fremden Mann da an?
Und dieser fremde Mann sagte nach einer Weile mit gespielter Gleichgültigkeit: »Rangimarie hat ja neulich sogar in der Zeitung gestanden. Selbstmord eines prominenten Gutsbesitzers hier in der Gegend. Kanntest du den Mann?«
Sie hatte sich sehr in der Gewalt, aber er als geübter Beobachter sah das feine Zucken ihrer Lider, merkte, wie ihre Augen plötzlich dunkler wurden, der volle, weiche Mund sich leicht zusammenpreßte. Ihre Stimme verriet nichts, trotzdem wußte er, daß er auf der richtigen Spur war. Jetzt mußte er nur beharrlich sein.
»Ob ich ihn kannte? O ja, er lieh sich regelmäßig Bücher aus. Ich kenne alle hier im Dorf. Sie sind so rührend nett zu mir. Überhaupt die Menschen auf dem Land — sie haben alle so etwas...«
Er schnitt ihr Loblieb auf die Nachbarschaft ziemlich rücksichtslos ab: »Warst du jemals in seinem Haus? In der Zeitung sah ich Bilder davon. Es soll ein sagenhaft schöner Besitz sein.«
»O ja, ich glaube, die Warrens sind enorm reich. Der Sohn ist mit einer meiner hiesigen Freundinnen verlobt, einer Krankenpflegerin hier im Krankenhaus. Sie werden wahrscheinlich sehr bald heiraten. Sie ist bildschön, groß und blond und...«
Abermals unterbrach er sie in unverzeihlicher Weise. »Wann warst du bei den Warrens?« Dabei fixierte er sie scharf und spürte sofort, hier wurde es >heiß<, wie Kinder sagen würden.
Sie vermied seinen Blick.
»Ach, vor ein oder zwei Wochen... Wir fuhren raus und suchten immer gern Pilze, nicht, James?«
»Pippa, ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Moment über kulinarische Fragen zu unterhalten, sondern ich möchte klar und präzise wissen, wann du in Nelson Warrens Haus gingst und weshalb du dich so scheust, darüber zu sprechen.«
Sie war froh, daß es dunkel wurde und er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie wußte, es sah gespenstisch bleich aus, denn sie fühlte alles Blut zurückweichen. Aber sie wollte nicht davon reden. Im ersten Augenblick, als sie James wiedersah, hatte sie sich vorgestellt, wie wunderbar erleichternd es doch sein müßte, ihm alles zu erzählen, dann hatte sie diesen Gedanken aber schon wieder verworfen. Sie kannte ihres Vetters Genauigkeit in bezug auf das Gesetz, er würde niemals zulassen, daß sie ein Geheimnis für sich behielt, das mit einem Mord zu tun hatte. Nein, in diesem Dilemma konnte ihr niemand helfen und James wahrscheinlich am allerwenigsten.
Sie antwortete matt: »Weshalb paukst du so auf mir herum, James? Was hast du denn? Ich schwöre dir, ich habe Mr. Warren nicht ermordet, obwohl ich manchmal große Lust dazu gehabt hätte, das kann ich dir sagen.«
»Ermordet?« kam es blitzschnell zurück. »Was soll das heißen? Ich denke, der Mann hat Selbstmord begangen? Weshalb sprichst du dann von Mord?«
Was für eine blöde Gans war sie gewesen, überhaupt den Mund aufzutun! Sie hätte doch im voraus wissen müssen, daß er ihr ein Bein stellt. War das nicht sein Beruf? Hatte er sich nicht damit sogar einen Namen gemacht, widerspenstige Zeugen vor Gericht mit List und Tücke dahin zu bringen, daß sie sich selbst verrieten? Sie wand sich hilflos und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Pam und Mark würden doch heute sicher ausnahmsweise früher kommen? Nie hatte sie so sehnsüchtig die Tür belauert, ob nicht jemand anklopfen und außerhalb der Geschäftszeit ein Buch verlangen würde. Selbst wenn in diesem Augenblick Freddy mit der Hiobsbotschaft aufgetaucht wäre, Balduin habe einen Reifendefekt, sie hätte ihn dankbar begrüßt. Kam denn wirklich niemand?
Und wie eine Erhörung auf ihr inständiges Flehen wurde plötzlich ein Schritt auf der Veranda laut. Ein Schritt, den sie kannte. Ihr Herz klopfte schneller vor Freude. Nicht etwa, weil es Dr. Horton war, sagte sie sich, sondern einzig und allein, weil dadurch dieses fürchterliche Kreuzverhör ein Ende fand. Sie sprang auf und empfing ihn beinah ebenso begeistert wie vorher James.
»Und dies ist mein Vetter James Maclean, den Sie ja aus Nordafrika kennen. Ich bin froh, daß Sie gerade hereinschauen, da können Sie gleich alte Erinnerungen austauschen.«
James lächelte trocken über ihren kühnen, aber rührend ungeschickten Versuch, ihn abzulenken. Sie hatte das verschreckte Aussehen eines Tieres, das in eine Falle geraten ist. Nun, er würde die Klappe schon noch zuschnappen lassen. Hier war Gefahr im Verzug, und er mußte wissen, aus welcher Richtung sie drohte, damit er bereitstehen konnte, um ihr zu helfen. Denn allmählich sorgte er sich ernstlich um sie.
Aber vorläufig machte er gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich eine ganze Weile mit Dr. Horton in die üblichen Gespräche ein, die alte Kriegskameraden zu führen pflegen, wenn sie sich nach vielen Jahren wiedertreffen. Was denn aus dem Oberst geworden sei, und ob Horton nach seiner Rückkehr etwas von dem jungen Garfield gehört habe? Na, allzu jung konnte der jetzt auch nicht mehr sein, berichtigten sie sich schmunzelnd, aber, nebenbei bemerkt, man selbst schritt ja auch ganz rüstig voran.
James warf einen Blick auf die Uhr.
»Ich darf nicht zu lange bleiben, denn ich habe mich in einer eurer Fremdenpensionen hier einquartiert, und solche Lokale lieben es nicht, wenn man zu spät zum Essen kommt. Pippa, du erzähltest mir doch gerade von Warrens Selbstmord, nicht wahr?«
Pippa öffnete den Mund, um zu protestieren und zu erklären, sie hätte nichts dergleichen getan und habe noch viel weniger die Absicht dazu, aber James fuhr ruhig und bestimmt fort: »Du warst zu dem Zeitpunkt dort, als er starb, nicht wahr?«
Während er ihr Gesicht beobachtete, fand er selbst, daß dieser Schuß sehr aufs Geratewohl abgefeuert war, aber er hatte eine Nase für diese Dinge und eine glückliche Hand, damit ins Schwarze zu treffen.
Sie zauderte, stammelte verwirrt und sah flehentlich zu John Horton hinüber, der jedoch an dem Gespräch völlig uninteressiert zu sein schien und angelegentlich durchs Fenster Amanda beobachtete. Falls er diese diktatorische Verhörmethode mißbilligte, so tat er doch nichts, um ihr zu helfen. Bei sich selbst dagegen dachte Horton: >Garstig. Aber es muß ja mal heraus. Sonst bohrt es immer weiter wie ein schlimmer Zahn. Und er hat das Recht, sie auszufragen, ich nicht.<
»Stimmt das, Pippa?«
»J-ja. Aber das weiß doch jeder, daß wir dort waren. Ich ging hinein, weil ich jemanden suchte, der uns den Wagen anschieben sollte, aber ich sprach mit niemandem. Das Personal war aus.«
Sie betete es herunter wie eine auswendig gelernte Lektion. Ihre tapfere Abwehr hatte etwas Rührendes, und der Doktor fühlte Mitleid mit ihr. Er schaltete sich behutsam ein: »Da sie keinen Menschen antrafen oder sprachen, war es auch nicht notwendig, sie zur amtlichen Leichenschau vorzuladen. Aber im übrigen spielte das gar keine Rolle, es handelte sich um einen eindeutigen, klaren Fall von Selbstmord.«
Aber James hatte Pippa nicht aus den Augen gelassen.
»Ihr spracht mit niemandem«, sagte er, »aber was habt ihr gesehen, Pippa?«
Wieder ein Schuß ins Blaue, aber auch dieser sollte sein Ziel erreichen, dazu war James fest entschlossen. Abermals schaute Pippa verzweifelt zu John Horton. Jetzt würde er ihr doch gewiß zu Hilfe kommen? Dies war die Frage, die sie die ganze Zeit am meisten gefürchtet hatte. Aber John sah sie nicht einmal an. Er kraulte gedankenverloren Mohrs Ohr, schien ganz in diese Beschäftigung vertieft und völlig geistesabwesend zu sein. Gequält entgegnete sie: »Was meinst du damit — ob wir etwas sahen? Pam blieb im Wagen sitzen.«
»Aber du nicht. Du gingst ins Haus, nicht wahr, und du sahst, wie Warren das Gift nahm — oder wie es ihm jemand gab?«
Diesen letzten Schuß gab er mit dem dramatischen Überraschungseffekt ab, mit dem er seine brillantesten Plädoyers vor Gericht zu krönen pflegte. Und er traf. Pippa gab auf. Sie war zu müde, um noch weiter standzuhalten. Sie barg ihren Kopf im Rückenpolster des Sessels und brach in Schluchzen aus. Mohr erhob sich und versuchte, ihr Gesicht zu lecken. Dann wendete er sich zu James und knurrte.
James war peinlich berührt und erbittert zugleich. Sie hatte immer schon so dicht am Wasser gebaut. Lächerlich, es sah aus, als sei er brutal und ungehobelt. Es war doch nicht seine Schuld, und der lange, schweigsame Doktor brauchte ihn gar nicht so anzuschauen, als hätte er sich an einem hilflosen, schwachen Wesen vergriffen. Er mußte der Wahrheit auf den Grund kommen. Er fuhr fort: »Mein Kind, da gibt’s doch nichts zu weinen! Sei nicht so töricht. Wenn du etwas sahst oder weißt über Nelson Warrens Tod, dann mußt du es sagen. Du darfst Beweise nicht verheimlichen. Es macht dich krank, und es ist nicht nur kurzsichtig, sondern weit mehr — es ist strafbar.«
Dieses Wort löste in Pippa ein jammerndes Wimmern aus, und Dr. Horton erhob sich von seinem Stuhl. Er ging zu ihr, streichelte Mohr und befahl ihm, sich niederzulegen. Dann sagte er sehr weich: »Ich würde mich mal so richtig ausweinen, Pippa. Es wird Ihnen guttun. Und wenn Sie fertig sind, wäre es das beste, Sie redeten sich von der Seele, was Sie bedrückt und erklärten uns alles. Und über eins können Sie sich gleich beruhigen: Niemand hat Nelson Warren ermordet.«
Die Wirkung seiner Worte war elektrisierend. Sie richtete sich mit tränenüberströmtem Gesicht auf: »Niemand? Auch nicht Douglas?«
Da war es heraus. Das furchtbare Geheimnis, das sie beinah abgewürgt hatte, gehörte nicht mehr ihr allein. Trotz jenes festen Vorsatzes bürdete sie die Last und Verantwortung nun diesen beiden Männern auf.
Aber John Horton schien darunter nicht zusammenzubrechen. Er setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und bot ihr sein Taschentuch an.
»Besser als der Polsterbezug«, meinte er und fuhr fort: »Douglas ganz bestimmt am allerwenigsten. Höchstens, daß er ihn vielleicht hätte zurückhalten können, wenn er nicht eingeschlafen wäre. Aber ich bezweifle es. Wenn ein Mensch den Entschluß gefaßt hat, aus dem Leben zu gehen, dann gelingt es ihm auch gewöhnlich — heute oder morgen. Aber wie konnten Sie nur auf diese absurde Idee kommen, daß Douglas an seines Bruders Tod schuld sei?«
»Oh, ich glaube sicher... Ach, ich war so unglücklich darüber. Verraten hätte ich ihn natürlich nie — auf keinen Fall. Aber ich kam mir dadurch selbst wie eine Mörderin vor und träumte immerzu davon — von dem, was ich gesehen habe.«
»Ich schlage vor, Sie erzählen uns mal, was Sie eigentlich sahen, dann werden wir Sie viel besser verstehen können.«
John Horton hatte eine so herzliche, ungezwungene Art, so anders als James Macleans disziplinarische Methoden, und, wie sich zeigte, viel wirkungsvoller. Pippa blickte dankbar zu ihm auf, stieß noch einen glucksenden Laut, ein Mittelding zwischen Schluchzen und Schluckauf aus und antwortete: »Ja, Ihnen erzähle ich alles. Sie sind nett, Sie schimpfen und kommandieren nicht... Also, ich kam am Schlafzimmer vorbei, und es brannte Licht. Douglas goß gerade etwas in ein Glas. Er sah so — so grausig aus, ganz anders als sonst, so verschlagen und schuldbewußt. Dauernd schielte er nach dem Bett und verbarg das Glas ängstlich in der Hand, so —«, sie krümmte die Finger und ahmte die Bewegung nach, dann fuhr sie in kläglichem Ton fort: »Sie können leicht behaupten, er hätte nichts mit Nelsons Tod zu tun gehabt, aber weshalb benahm er sich dann so? Das Licht schien ihm voll ins Gesicht, ich habe es mir nicht eingebildet. Warum sollte ich auch, wo ich ihn doch nur als freundlich und harmlos kannte? Es gab mir einen richtigen Schock.«
Dr. Horton stand von der Armlehne auf und ging zum Feuer.
»Es gibt eine Erklärung, und dies ist, glaube ich, der Augenblick, selbst ein Berufsgeheimnis zu lüften. Das heißt, eigentlich ist es kein Geheimnis und auch nicht direkt beruflich, denn Douglas Warrens Schwäche ist verschiedenen Leuten bekannt — dem Hauspersonal zum Beispiel sowie Jane und seinem Sohn, vielleicht auch noch anderen.« Er hielt inne und seufzte schwer.
»Seine Schwäche? Was für eine Schwäche?«
»Im letzten Jahr, als Philip von Hause fortging, hat er übermäßig zu trinken angefangen. Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Kein Mensch darf sich zum Richter über diese Dinge aufwerfen. Douglas ist ein herzensguter Kerl, einer der besten, aber er hat keinen starken Charakter, leider. Es wäre besser gewesen, er hätte sich Nelson gegenüber unnachgiebiger gezeigt, aber so ist er nun mal, liebevoll, aufopfernd — aber energielos.«
»Oh, der Arme. Wie elend und unglücklich er sich gefühlt haben mag.«
»Unglücklich und schrecklich hilflos, aber wie viele charakterschwache Menschen versuchte er sich mit Alkohol Mut anzutrinken. Nicht offen, denn er schämte sich deswegen. Trotzdem kam Nelson dahinter und demütigte ihn seither.
Er erzählte mir die Geschichte sogar in seiner Gegenwart, eine raffinierte Form der Quälerei. Ich bemühte mich zu helfen, konnte aber wenig ausrichten. Das war der eigentliche Grund, weshalb Jane Philip überredete, zurückzukommen, und selbst den Entschluß faßte, Rangimarie zu verlassen.«
»Dann — dann war er also an dem Abend betrunken?«
»Ja, sinnlos. Es muß wohl kurz nach sechs Uhr gewesen sein, als Sie ihn das Glas eingießen sahen, und er tat deshalb so verstohlen, weil er es vor Nelson zu verbergen suchte. Ihm war nämlich der Whisky ausgegangen, und er mußte sich welchen aus Nelsons Schlafzimmer beschaffen. Natürlich schwebte er in dauernder Angst, seinen Bruder aufzuwecken.«
Hier wendete sich der Doktor erklärend an James, der schweigend zugehört hatte: »Dazu muß man wissen, daß Nelson Warren nicht normal war, meiner Ansicht nach schon seit drei Jahren nicht mehr. Unglücklicherweise äußerte sich das hauptsächlich in einem krankhaften Sadismus.«
»Aber sind Sie auch wirklich ganz, ganz sicher?« fragte Pippa beinah flehend.
Er kam wieder zu ihr, setzte sich neben sie und sprach ruhig und begütigend auf sie ein.
»Sie können sich darauf verlassen. Hätten Sie sich früher an mich gewandt, würde ich Ihnen die Erklärung längst gegeben haben und Sie wären die Last, die Sie mit sich herumschleppten, los gewesen. Erstens einmal kann ich auf Grund der Untersuchung, die ich um elf Uhr an dem Toten vornahm, bezeugen, daß Warren erst gegen zehn starb, und zweitens war Douglas, als ich ihn sah, bereits seit Stunden im Delirium, er hätte um zehn Uhr weder Hand noch Fuß rühren können, geschweige denn seinem Bruder ein Schlafmittel verabreichen. Übrigens fanden sich auch nur Nelsons Fingerabdrücke auf Flasche und Glas, obwohl ich mir bewußt bin, daß dieser Punkt in einem Kriminalroman nicht stichhaltig wäre. Aber ausschlaggebend ist die Tatsache, daß Warren um neun noch lebte, denn einer der Farmarbeiter kam ins Haus und wollte Douglas sprechen. Nelson rief hinaus, sein Bruder schlafe, und der Mann, der sich durch einen Blick in Douglas’ Zimmer überzeugte, sah ihn der Länge nach auf seinem Bett liegen. Er wußte natürlich Bescheid und sagte nichts. Wir alle bemühten uns bei der Leichenschau nach Kräften, Douglas zu decken, aber es wurde gar keine Erklärung verlangt.«
»Dann machte er sich also nur Selbstvorwürfe, daß er zuviel getrunken und infolgedessen nicht auf seinen Bruder geachtet hatte?«
»Genau. Der arme Teufel war vollkommen außer sich. Im übrigen hat dieser Schock möglicherweise eine sehr gute Wirkung, wozu Jane und Philip noch das Ihrige beitragen werden, denn sie hängen sehr an ihm und bringen ihm großes Verständnis entgegen.«
I Pippa saß stumm da und drehte Dr. Hortons Taschentuch zwischen den Fingern.
Endlich brach James das Schweigen. »Ich finde, du hast dich trotzdem in geradezu unverantwortlicher Weise benommen, hast über deinen phantastischen Vermutungen gebrütet, hast in der Annahme gelebt, dieser Mensch sei ein Mörder, und hast dich trotzdem geweigert, deinen Verdacht mitzuteilen. Du hast dich krank gemacht und alles ohne Grund. Wenn du wirklich glaubtest, daß Douglas Warren seinen Bruder umgebracht hat, hättest du es sagen müssen. Wolltest du ihn etwa schützen?«
»Natürlich wollte ich das, und du brauchst mich gar nicht so anzuglotzen, James. Nicht im Traum wäre mir der Gedanke gekommen, den armen Douglas zu verraten. Weshalb auch? Damit er aufgehängt wird?«
James stöhnte verzweifelt. »Noch nie bin ich einem Menschen begegnet, der so wenig Ahnung von seinen Staatsbürgerpflichten hat, so wenig Unterscheidungsvermögen für Recht und Unrecht«, sagte er düster.
Sein Ton brachte Pippa zum Lachen. Sie fing John Hortons Blick auf und sah, daß er ebenfalls gegen ein Schmunzeln ankämpfte. Das gab ihr vollends den Rest. Sie platzte heraus und lachte ebenso unbändig, wie sie noch vor fünf Minuten geschluchzt hatte, und genaugenommen wußte sie wohl selbst nicht, welches von beidem sie überwältigte. James erschrak sichtlich.
»Hochgradig hysterisch«, murmelte er dem Doktor zu. »Ich fürchte, das arme Ding hat sich bei der Geschichte einen ernsten Schaden geholt.«
Pippa hörte ihn und fing noch lauter zu heulen an.
»Schaden?« japste sie. »Ich bin beinah wahnsinnig geworden... Und dann kommst du daher, schikanierst mich und machst alles noch viel schlimmer. Es war doch so entsetzlich, weil ich niemandem davon erzählen konnte, nicht mal Ihnen«, und mit einem erneuten Jammerschrei drehte sie sich zu Dr. Horton um.
Sie schämte sich fürchterlich, aber es nützte alles nichts, sie konnte einfach nicht wieder aufhören. Mit heftigem Gestikulieren versuchte sie den beiden Männern klarzumachen, daß sie hinausgehen und sie allein lassen sollten. James murmelte verstört etwas von einer Flasche Kognak, die er im Wagen hätte und lieber holen wolle, und verdrückte sich, froh über diesen Vorwand, während John Horton meinte: »Ich würde an Ihrer Stelle jetzt mal das Lachen sein lassen. Sie machen sich ganz kaputt damit und ärgern sich hinterher bloß über sich selbst.«
»Ich ärgere mich jetzt schon«, keuchte sie. »In meinem ganzen Leben bin ich mir noch nie so idiotisch vorgekommen. Ich platze vor Wut über mich und über James.«
»Ihr Vetter ist einen Kognak holen gegangen. Die beste Kur wäre allerdings, der Patientin ein paar tüchtige Ohrfeigen zu verabfolgen, aber ich möchte es nicht selbst tun. Vielleicht bringt es Maclean fertig.«
»Der? Mit wahrer Wonne würde der das tun«, antwortete Pippa und vergaß in ihrer Entrüstung über James sogar ihren Lachanfall. »Das wünscht er sich schon seit Jahren, ich habe es ihm hundertmal angesehen. Und ich will seinen dämlichen Kognak auch gar nicht. Mir geht’s ausgezeichnet. Es war nur seine Schuld, weil er mich gepiesackt hat wie eine arme Halbirre auf der Zeugenbank.«
»Wissen Sie, ich glaube, es war gut, daß er nicht lockerließ. Jetzt ist doch alles geklärt, und Sie werden sich nicht mehr quälen müssen. Haben Sie nicht das Gefühl, als ob Sie aus einem bösen Traum aufwachten? Und nun brauchen Sie nichts weiter zu tun, als alles zu vergessen.«
Er hatte wirklich eine wundervoll tröstliche Art.
Als James mit der Flasche zurückkam, mußte er feststellen, daß niemand mehr dafür Verwendung hatte. Pippas Lachkrampf war vorüber, und nur noch ein paar vereinzelte Schluchzer erinnerten an den Sturm. Er fühlte eine ungeheure Erleichterung, fand es aber doch ratsam, sich möglichst rasch zu verziehen.
Horton unterdrückte ein Lächeln und begleitete ihn zur Tür.
»Schade, daß Sie sich schon in der Pension einlogiert haben, ich hätte Sie sonst gern zu mir eingeladen. Platz ist genug, und bei meinem alten Bates ist man gut aufgehoben. Bates kennen Sie doch noch? Er verstand es damals in der Wüste immer prächtig, ein paar Extrahappen zu organisieren, besonders Büchsen mit Rauchfleisch — alles gestohlen, natürlich, aber wer fragte schon danach... Ja, also gute Nacht. Ich bleibe ein wenig, bis sie sich ganz beruhigt hat. Es ist schlimm für sie gewesen, wissen Sie. Gut, daß Sie kamen und Klarheit schafften.«
Das versöhnte James einigermaßen, er machte sich in sehr viel besserer Laune auf den Heimweg. Anständiger Kerl, der Doktor. War er immer gewesen. Guter Freund für Pippa. Freund? Darüber wagte er vorläufig nicht zu entscheiden.
Mittlerweile hatte John Horton Pippa empfohlen, sich die Nase zu pudern, während er eigenhändig den Tisch fürs Abendbrot deckte.