17

 

Rangimarie war förmlich außer sich vor Freude. Eine ähnliche Sensation hatte es seit jenem Tag vor zehn Jahren, an dem ein sein Leben lang unter dem Pantoffel stehender Farmer sich plötzlich gegen seine zänkische Ehehälfte aufgebäumt und zuerst sie, dann sich selbst umgebracht hatte, nicht erlebt.

Und diese Sensation wurde um so mehr willkommen geheißen, als nun der sommerliche Badebetrieb mit seinen Abwechslungen für lange Monate ruhte und die Strandpensionen verlassen lagen bis auf einige Bungalows, in denen sich ein paar ältere Leute aus der Stadt niedergelassen hatten, um ihren Lebensabend in einem angenehmeren Klima zu beschließen.

So erörterte man denn mit tiefer Genugtuung alle Einzelheiten von Nelson Warrens Tod. Niemand hatte ihn gemocht, und daher äußerte auch niemand Bedauern. Freilich, er hatte viel gelitten, aber dafür waren wiederum alle anderen die Opfer seiner Quälsucht geworden, und trotz des allgemeinen Mitgefühls für Douglas spürte man doch überall ein erleichtertes Aufatmen.

Doch es stand einwandfrei fest, daß Nelson Warren von einem Menschen aufrichtig betrauert wurde. Jeder war zutiefst erschrocken über Douglas’ Aussehen. Sein rundes, freundlich heiteres Gesicht wirkte völlig verfallen, die Augen eingesunken, die Haut krankhaft blaß.

»Hat man jemals so etwas gesehen?« sagte Mrs. Foster zu Pippa. »Er muß dieses Scheusal wahrhaftig noch gemocht haben.«

Pippa versuchte hastig vom Thema abzulenken. Sie war mittlerweile so weit, daß sie die bloße Erwähnung von Douglas Warrens Namen fürchtete. Nicht einmal mit Pam konnte sie über ihn sprechen.

»Der arme Douglas«, fiel nun auch Pam ein, »daß er es so schwernimmt... Als weine er seinem Sklavenhalter nach. Na, er wird hoffentlich bald zur Vernunft kommen und merken, daß er wieder frei ist. Der Sohn gefällt mir übrigens gut, scheint mir beinah gut genug zu sein für Jane.«

Philip Warren war einen Tag nach dem Tod seines Onkels von Dr. Horton zurückgeholt worden und hatte sich aller Pflichten, einschließlich der Sorge um seinen Vater, angenommen. Er war ein solider, gutaussehender Mann; er wirkte älter als vierundzwanzig Jahre. In seinem Gesicht prägten sich Rechtschaffenheit und Intelligenz aus, und daß es unter glücklicheren Umständen auch lachen konnte, war durchaus denkbar. Unter ihm, soviel stand jedenfalls fest, würden Liebe und Glück wieder einkehren in das große, schweigsame Haus auf dem Berg. Pam begegnete ihm auf dem Postamt und freundete sich stehenden Fußes mit ihm an. Sein Vater, erzählte er ihr, leide immer noch schwer unter dem Schock. Er sei froh, wenn die Beerdigung vorüber wäre und das Leben wieder seinen normalen Gang liefe.

Pam selbst genoß im Dorf eine gewisse Berühmtheit.

»Hören Sie, ist das wahr«, fragte Pat O’Brien augenzwinkernd, »daß Sie und die andere junge Dame direkt da oben waren, als der Alte das Gift schluckte? Also, ein Jammer, daß Sie nicht gleich ins Haus ‘rein sind und selber nachgeguckt haben.«

Aber Pam beantwortete alle Fragen mit dem gleichen, stereotypen Satz, das Haus sei anscheinend völlig verlassen gewesen und sie hätten niemand getroffen.

»Was ja absolut der Wahrheit entspricht, mein Herz«, sagte sie zu Pippa, »auch wenn du durchs Fenster geluchst hast. Übrigens, weshalb erzähltest du John nichts davon?«

»Ich weiß nicht recht, aber ich möchte es eigentlich keinem auf die Nase binden. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, weil ich gerade da spionieren mußte, als das Unglück geschah. Bitte, erwähne es mit keinem Wort, auch nicht Mark gegenüber.«

»Natürlich nicht, aber ich kann gar nicht begreifen, weshalb dich die Geschichte so mitnimmt. Du läufst ‘rum wie dein eigener Schatten.«

»Die Leute werden nicht so schnell aufhören, darüber zu klatschen, und das ist mir fürchterlich.«

»Du solltest John bitten, daß er dir irgend etwas verschreibt — zum Schlafen. Die meisten Leute glauben ja, was der Arzt verordnet, vollbringt Wunder, und dadurch wirkt’s dann tatsächlich.«

»Ich glaube aber nicht, daß Doktor Horton zu denen gehört, die einfach irgendwas verschreiben, und er macht sich auch keine Gedanken, wenn es nichts wirklich Ernstes ist.«

Aber da irrte sie sich. Der Doktor machte sich sehr wohl Gedanken, und am Abend vor der gerichtlichen Leichenschau kam er unter dem Vorwand, sich ein Buch holen zu wollen, in die Bibliothek, wo die beiden Mädchen vor dem Kaminfeuer saßen, dem ersten in diesem Herbst.

»Oh, Sie haben’s aber gemütlich. Bemühen Sie sich nicht, ich suche mir selbst etwas Passendes aus, wenn ich darf.«

Aber danach verweilte er noch mehrere Minuten, stand an den Kamin gelehnt und schaute auf Pippa herab, die in den Tiefen eines großen Sessels beinah verschwand.

»Schlafen Sie nicht gut?« fragte er mit einem Mal ziemlich abrupt.

Sie würde es sofort heftig abgestritten haben, da sie zu den Menschen gehörte, die stets, koste es, was es wolle, behaupten, es ginge ihnen großartig, aber Pam kam ihr zuvor.

»Überhaupt nicht, und wenn, dann quält sie sich mit den sonderbarsten Alpträumen. Das erste Mal passierte das in der Nacht zum Sonntag, nachdem wir in Warrenmede gewesen waren, und seitdem ununterbrochen.«

»Sie nehmen aber hoffentlich keine Schlafmittel, wie?«

»Natürlich nicht, die brauche ich auch nie. Wahrscheinlich schläft man einfach nicht mehr so gut, wenn man älter wird.«

Er lächelte.

»Aha, eine gesetzte Matrone, nicht wahr? Also trinken Sie mal abends regelmäßig etwas Heißes, und wenn’s dann nicht besser wird, wollen wir weiter sehen. Ich kann doch unmöglich zulassen, daß unsere Bibliothekarin mit Ringen unter den Augen herumläuft.«

»Weshalb nicht? Damit wirke ich doch viel interessanter und intelligenter.«

»Aber keine Spur, du Dummerchen«, lachte Pam. »Du ähnelst eher einer kleinen, zerzausten Eule da in deinem Sessel, und nicht mal einer sehr weisen.«

»Was geht eigentlich morgen vor sich?« fragte Pippa plötzlich. »Bei der gerichtlichen Leichenschau, meine ich. Was geschieht bei solchen Untersuchungen? Sind Sie sicher, daß ich nicht auch hinkommen muß, weil ich doch an dem Abend in der Nähe war?«

»Ich glaube, sie hat tatsächlich Angst, als Mörderin oder so etwas Ähnliches angeklagt zu werden«, frotzelte Pam. »Irgendeiner, der hörte, wie sie der alte Nelson wegen der Bücher abkanzelte, wird behaupten, daß sie es aus Rache tat... Ich würde eine einfallsreiche Kriminalschriftstellerin abgeben, was?«

Aber John Horton bemerkte zu seiner Überraschung, daß Pippa zusammenzuckte.

»Was bei einer Leichenschau geschieht?« wiederholte er ihre Frage. »Ach, das ist nur eine kurze Tatbestandsaufnahme, wissen Sie. Ich werde Zeugnis ablegen müssen und ebenso der arme Teufel Douglas.«

»Was werden Sie sagen?«

»Nur sein Krankheitsbild erläutern, seinen depressiven Gemütszustand, die Auswirkungen auf seinen Verstand all die Jahre hindurch, erwähnen, daß er mich vor ein paar Tagen bat, ihm zu einem leichten Ende zu verhelfen, und dann die Todesursache durch die Überdosis Schlafmittel erklären. Alles reine Formalität. Nach dem Wie und Wann der Entdeckung wird überhaupt nicht gefragt. Immerhin muß eine Untersuchung stattfinden, und für Douglas ist es natürlich hart.«

»Was wird man von ihm verlangen?«

»Ich fürchte, er wird zunächst die Stimmung seines Bruders an dem Abend schildern und dann zugeben müssen, daß er einschlief und ihn nicht im Auge behielt, wie er den Hausleuten versprochen hatte. Er meint eben, in Anbetracht der gefährlich zerrütteten seelischen Verfassung Nelsons hätte er unter allen Umständen wach bleiben müssen.«

»Aber das brächte doch kein Mensch fertig, der nächtelang keinen richtigen Schlaf gehabt hat«, wandte Pam ein.

»Das predigen Philip und ich ihm ja fortwährend, aber er war schon immer übergewissenhaft. Ein Unglück, daß es so enden mußte, nachdem er sich die vielen Jahre buchstäblich geopfert hat.«

»Und das wird alles sein?«

»Absolut alles, und es besteht nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß Sie auch erscheinen müssen. Wenn Sie irgend etwas gesehen hätten, durch ein Fenster vielleicht, wenn Sie Zeuge gewesen wären, wie Nelson die Dosis einnahm, dann bekäme das selbstverständlich alles ein anderes Gesicht. Aber so würden Sie dem Leichenbeschauer nichts Neues erzählen können, außer zum Beispiel, daß die jungen Burschen den Wagen angeschoben haben... Pam, schicken Sie dieses Mädchen bitte ins Bett. Tragödien scheinen keine bekömmliche seelische Nahrung für sie zu sein.«

Pam brachte ihn an die Tür, wo sie noch eine Minute plaudernd in der kühlen Abendluft stehenblieben. Die Stille wurde plötzlich durch das Geräusch eines Wagens unterbrochen, der vor dem Haus hielt, und Pippa hörte gleich darauf Marks Stimme, die verhalten und gar nicht so unbekümmert wie sonst sagte: »Guten Abend, Pam. Hallo, Doc. Krankenbesuche am laufenden Band, wie?«

John Horton verabschiedete sich, und dann sprach Mark wieder in leisem, eindringlichem, beinah flehendem Ton, der in nichts mehr an den des leichtsinnigen Charmeurs erinnerte.

»Pam, ich mußte Sie sehen. Es hat keinen Sinn, ich kann nicht einfach wegbleiben und alles so in der Luft hängenlassen. Weshalb wollten Sie sich am Samstag nicht mit mir treffen?«

»Sie wissen doch, was wir vereinbart hatten. Übrigens sehr schade, denn wir fuhren statt dessen nach Warrenmede, nur so als neugierige Zaungäste, und Pippa ist seitdem völlig durchgedreht. Ich begreife nicht, was sie hat.«

»Darf ich ‘reinkommen? Wir müssen noch einmal über alles reden.«

»Reden hat noch nie zu was geführt, aber kommen Sie nur ‘rein. Wir können nicht hier draußen im Dunkeln stehenbleiben und uns anzischeln wie Gänse.«

Kaum vernahm sie Marks Stimme, als Pippa Anstalten traf, zu Bett zu gehen. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich mit Mark zu unterhalten. Alles, wonach sie verlangte, war Stille, Dunkelheit und das beruhigende Gefühl, daß Mohr neben ihrem Bett lag und sie nur die Hand nach seinem Kopf auszustrecken brauchte. Sie wollte den Samstagabend vergessen und nicht noch darüber sprechen müssen.

»Hallo, Mark. Bin schon mit einem Bein im Bett. Wahnsinnig müde.«

»Hallo, mein Kind. Müde? Ja, Sie sehen richtiggehend elend aus. Doch nicht aus Kummer über Nelson Warren, hm?«

»Seien Sie still, Mark«, fuhr Pam rasch dazwischen. »Pippa hat in den letzten Tagen so viel von Nelson Warren gehört, daß ihr übel wird, wenn man nur den Namen erwähnt. Außerdem wenig taktvoll, so zu reden, wo doch morgen erst die Leichenschau ist mit allem Drum und Dran.«

Die Leichenschau verlief so, wie John Horton vorausgesagt hatte. Die Halle war gedrängt voll von Menschen, aber die Amtshandlung ging sehr rasch vonstatten. Der ärztliche Befund ließ keine Zweifel offen, und es war unschwer zu merken, daß jedes von Dr. Horton geäußerte Wort bei allen Anwesenden großes Gewicht hatte. Douglas brach beinah zusammen, als er gestehen mußte, daß er weder etwas gesehen noch gehört, sondern geschlafen hatte, statt zu wachen. Der Leichenbeschauer fühlte Mitleid mit ihm.

»Sie haben unser aller aufrichtige Anteilnahme, Mr. Warren, aber Sie sollten nicht sich die Schuld geben. Ihre uneigennützige Treue zu Ihrem Bruder ist allgemein bekannt, und die menschliche Natur hat ihre Grenzen.«

Das Gutachten lautete auf Tod durch Überdosis von Schlafmitteln, vom Verstorbenen in einem durch lange Krankheit und schmerzhafte Leiden bedingten Anfall von Schwermut selbst verursacht. Der Beamte schloß mit einem gefühlvollen Hinweis auf den tragischen Tribut, den ein Weltkrieg fordere, und jedermann verließ den Schauplatz mit dem verwirrenden Empfinden, daß Nelson Warren ein edler Held und kein bösartiger Tyrann gewesen sei. Pam lachte ziemlich ungebührlich, als Mark davon berichtete.

»So eine alberne Salbaderei. Als ob er der einzige gewesen wäre, der im Krieg verwundet worden ist. Andere haben genausoviel gelitten, nur er konnte sein Los nicht mit Haltung tragen. Ach, kommen Sie mir jetzt nicht mit >de mortuis...< Es ist das einzige Latein, das ich kenne und obendrein eine Lüge. Es tut keinem Toten weh, wenn man die Wahrheit über ihn sagt. Dagegen sollte man bei den Lebenden viel vorsichtiger sein.«

Pam glühte vor Eifer. Sie meinte es völlig ernst, und Mark hing mit anbetenden Blicken an ihr. In seinen Augen war sie nicht nur das schönste Mädchen auf der Welt, sondern auch das mutigste und so hinreißend ursprünglich. Pippa seufzte. Das sah ja ein Blinder, daß die Situation ihrem Einfluß ganz und gar entglitten war, obwohl sie andererseits den festen Entschluß gefaßt hatte, überhaupt keinen Einfluß mehr, auf wen oder was es auch sein möge, auszuüben.

Das Merkwürdige daran war, daß Pam vollkommen aufgehört hatte, über Mark zu sprechen, und das beschäftigte Pippa am meisten. Sie versuchte, die ganze Affäre von einem anderen Gesichtspunkt aus zu beurteilen, nicht als leichten Flirt, sondern als eine Beziehung, bei der Pams Gefühle eine ernste Rolle spielten. Aber es hatte keinen Sinn. Sie konnte Dr. Horton nur nachträglich recht geben, der davor gewarnt hatte, Mark eine Lektion erteilen zu wollen. Vielleicht hätte sie doch auf ihn hören sollen, als er sie bat, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.

Und nicht nur die Sorge um Pam belastete sie, der Gedanke an Douglas Warren ging ihr Tag und Nacht nicht aus dem Sinn, und obwohl sie sich geschworen hatte, ihn auf keinen Fall zu verraten, belastete das Problem ihr Gewissen doch sehr schwer. Es wäre ihr eine ungeheure Erleichterung gewesen, sich Pam oder John Horton anvertrauen zu können, denn Pippa war von Natur nicht dazu geschaffen, dunkle Geheimnisse lange bewahren zu können.

Sie schlich matt und teilnahmslos durch die herrlichen Herbsttage, und Pam beobachtete sie bekümmert.

»Wie wär’s denn, wenn du mal in Urlaub fahren und mich als Vertretung hierlassen würdest? Die Leihbücherei läuft doch jetzt ganz von allein, und es besteht keine Gefahr, daß ich etwas verderbe. Du hast dich jetzt vier Monate abgerackert.«

Pippa war ehrlich erschrocken über diese Idee.

»Ich kann doch unmöglich weggehen. Dies ist mein Zuhause, und wohin sollte ich auch? Außerdem, Mohr allein lassen? Du könntest Amanda versorgen, ich weiß, aber Mohr würde es zum zweitenmal das Herz brechen.«

»Glatter Unsinn. Soll ein Hund etwa dein Leben bestimmen?«

»Ich habe keine andere Wahl. Es ist beinah wie mit einem Baby, man kann es nicht einfach im Stich lassen.«

»Dann bewahre mich der Himmel vor Hunden, vor Babys und allem, was mich dermaßen an die Kette legt.«

Etwas Aufrührerisches lag in Pams Ton, so daß Pippa dachte: >Sie hat Angst, sich an Mark zu binden. Nie könnte sie für den Rest ihres Lebens auf einer Farm versauern! Es war dumm von mir, das zu be-fürchten.<

Laut sagte sie: »Lieb von dir, daran zu denken, aber ich kann nicht. Hier bin ich besser aufgehoben als irgendwo anders. In ein paar Tagen werde ich wieder ganz in Ordnung sein. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Aber Pam machte sich Sorgen, und in einem Brief an ihren Vater schrieb sie unter anderem: >Pippa geht’s ziemlich miserabel, und ich hoffe nur, sie klappt nicht ernstlich zusammen, aber es sind wohl hauptsächlich die Nerven. Klingt lächerlich bei Pippa, aber wir hatten gräßliche Aufregungen wegen Nelson Warrens Selbstmord. Du wirst davon sicher in der Zeitung gelesen haben, und die Geschichte wäre auch zu lang zum Schreiben, aber mir scheint, ihr Gemütszustand hat darunter gelitten.<

Der Vater las den Brief und dachte: >Wußte ich doch, daß die beiden wieder in alles mögliche hineinschliddern würden! Eine neue verrückte Eskapade, vermutlich. Na, sie werden sich schon zu helfen wissen.<

Zufällig traf er am nächsten Tag, als er zum Lunch ging, James Maclean und sagte beiläufig: »Was hat denn Ihre kleine Kusine jetzt wieder angestellt? Diese zwei Mädels hecken doch dauernd irgend etwas aus, aber wie sie auf die Schnapsidee kommen, ihre Nasen zur Abwechslung in eine Selbstmordgeschichte zu stecken, ist mir schleierhaft.«

James konnte Mr. Mannering nicht leiden. Er runzelte die Stirn und fragte: »Selbstmord? Was für ein Selbstmord?«

»Ach, dieser Nelson Warren da oben, Sie haben sicher schon von ihm gehört, schwerreicher Knabe, aber hoffnungsloser Misanthrop. Wurde im ersten Weltkrieg ziemlich übel lädiert und kam nie darüber weg.«

»Ich erinnere mich zwar, gelesen zu haben, daß ein Mann dieses Namens kürzlich an einer Überdosis Schlaftabletten starb, aber was meine Kusine damit zu tun haben soll, begreife ich nicht.«

»Die beiden treiben doch überall ihren Unfug, haben es von jeher getan. Gibt mal eines Tages eine böse Überraschung«, erwiderte Mr. Mannering anzüglich. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. In seinen Augen war Maclean ein überheblicher Philister, der auf jeden Witz sauer reagierte. Na, dies jetzt würde ihm zu beißen geben. Mr. Mannering lachte im Gedanken daran, als er weiterging. Und tatsächlich entschloß sich James Maclean am Wochenende nach Rangimarie zu fahren. Inzwischen gestand Pam ihre Ängste Dr. Horton. »Ich weiß nicht, was sie hat. Sie sagt kein Wort, und das sieht Pippa so gar nicht ähnlich.«

Er lächelte fast unmerklich.

»Absolut nicht. Sind Sie sicher, daß etwas nicht stimmt?«

»Völlig. Sie ißt kaum und schläft immer noch schlecht. Ich habe sogar den Eindruck, sie will es vor mir verbergen, und dieses Versteckspiel ist etwas ganz Neues zwischen uns.«

»Es gibt Dinge, die man nicht mit anderen teilen kann, nicht einmal mit der besten Freundin.«

Sie wurde rot und blickte ihn scharf an. Erriet er, daß auch sie ihr Geheimnis hatte? Sie scheute vor diesem Gedanken zurück und fragte schnell: »Sie halten nichts von Schlafmitteln, nicht wahr?«

»Bei jungen, gesunden Menschen auf keinen Fall. Lieber der Ursache zu Leibe rücken.«

»Dann versuchen Sie doch mal Ihr Heil. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Ich glaube nur nicht, daß Sie viel Erfolg haben werden.«

Er wählte einen Abend, an dem Pam und Mark beschlossen hatten, eine Filmvorstellung im Dorf zu besuchen. Samstags wurde die Gemeindehalle behelfsmäßig in ein Kino umgewandelt, indem man einfach mehrere Reihen harter Bretterbänke hintereinanderrückte und diejenigen, die zu spät kamen, auf Benzinkanister im Hintergrund plazierte. Wenn die Sitzgelegenheiten dann immer noch nicht reichten, wurde die Schar der Dorfkinder nach vorn geholt, wo sie vergnügt auf dem Fußboden hockten und mit ausgestreckten Hälsen die langen, verzerrten Figuren auf der Leinwand bestaunten. Pippa hatte abgelehnt, sie zu begleiten, und saß untätig beim Feuer, als der Doktor eintrat.

Schon das war ungewöhnlich bei ihr. Meistens fand man sie über Büchern, die sie durchblätterte und sorgfältig ausbesserte, oder emsig, wenn auch recht unbeholfen, Strümpfe stopfen. Heute war sie zerstreut und einsilbig, und auch das paßte nicht zu ihr. Da der Doktor jedoch selbst kein großer Plauderer war und es grundsätzlich ablehnte, anderen Geheimnisse zu entlocken, die sie lieber für sich zu behalten wünschten, saßen sie eine ganze Weile in einträchtigem Schweigen beisammen, bis Pippa eine unbeteiligte Bemerkung über den Film fallenließ, den Pam sich anschauen wollte.

»Warum sind Sie nicht mitgegangen?« erkundigte er sich.

»Weil ich keine Lust hatte«, antwortete sie ziemlich schroff.

»Doch nicht etwa wegen Müdigkeit oder Kopfschmerzen?« fragte er unverändert liebenswürdig, sah aber plötzlich zu seinem Schreck, daß ihr die Tränen in die Augen schossen. Er wechselte abrupt das Thema. Es gab ohnehin etwas Wichtiges, was er ihr sagen wollte, und heute abend war eine gute Gelegenheit dazu.

»Dieser Raum ist wirklich ungemein behaglich, besonders mit dem Feuer im Kamin... Ich finde die Aquarelle hübsch, die Sie da hängen haben.«

»Ja, tatsächlich? Manche sagen, sie seien zu modern. Dabei sind sie gar nicht neu, sie wurden vor zwölf Jahren gemalt.«

»Ich weiß, wir hatten welche von demselben Maler. Meine Frau schätzte seine Arbeit sehr.«

Beinah eine Minute lang herrschte völliges Schweigen. Pippa war sich nicht sicher, wie ihre Stimme klingen würde, wenn sie antwortete. Aber irgend etwas mußte ja gesagt werden. Alles, was sie herausbrachte, war das stupide Echo: »Ihre Frau?«

»Ja. Ich wollte Ihnen davon erzählen. Ich heiratete, gleich nachdem ich aus dem Krieg zurückkam. Aber die Ehe ging nach ungefähr einem Jahr wieder auseinander.«

Pippa stotterte etwas Zusammenhangloses und hoffte, er würde es als Äußerung schwesterlicher Sympathie auffassen. Er blickte ins Feuer und fuhr ruhig fort: »Sie haben mir neulich eine Menge aus Ihrem Leben berichtet. Das gefiel mir sehr. Ich möchte das gleiche tun.«

Er war immer so erschreckend direkt, fand Pippa. Kein taktvolles Vorfühlen oder Auf-den-Busch-Klopfen. Es fiel ihr nichts anderes ein als die etwas dürftige Aufforderung: »Bitte. Ich würde es gern hören.«

»Nichts besonders Aufregendes. Ich promovierte sehr früh und zog dann gleich in den Krieg. Anne — meine Frau — hatte ich noch als Student kennengelernt. Sie war sehr, sehr reizvoll, bildhübsch und blutjung, fünf Jahre jünger als ich. Wir hatten uns mehr oder weniger verlobt, als ich wegging. Ein großer Fehler. Denn Anne war viel zu lebenshungrig und temperamentvoll, um sich schon binden zu können. Aber sie wartete. Nun, ich bin nie ein ausnehmend unterhaltsamer Mensch gewesen, und vermutlich kam ich noch ernster und schweigsamer zurück. Der Krieg hat manche so verändert. Sie muß unsagbar enttäuscht gewesen sein. Ich langweilte sie von Anfang an. Trotzdem heirateten wir, und alles schien zunächst gut zu gehen. Ich übernahm eine Vertretung in der Stadt, und Anne genoß ihr Leben. Sie war immer überall dabei und enorm beliebt. Mir gefiel das nicht sehr, aber ich hatte Geld genug, um mir eine Stadtpraxis kaufen zu können, und das wollte ich auch. Da wurde der hiesige Arzt, der ein sehr guter Freund meines Vaters gewesen war, krank und bat mich, ihn zu vertreten. Die andere Vertretung war gerade beendet, und die Verhandlungen wegen der neuen Praxis zögerten sich hinaus, so kam ich also hierher. Anne war außer sich. Sie wollte nicht mitkommen, sondern blieb in der Stadt, in dem Haus, das ich gekauft hatte. Doktor Freemans Befinden besserte sich nicht, daher war ich längere Zeit hier gebunden. Schließlich schrieb mir Anne, ich müßte entweder sofort zurückkommen und den Vertrag für die Praxis unterzeichnen, oder mit unserer Ehe wäre es aus. Keine zehn Pferde brächten sie in ein Nest wie Rangimarie, erklärte sie. Na, ich dachte, sie würde ihre Meinung vielleicht noch ändern, und Freeman lag im Sterben, ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Dies Dorf war sozusagen sein Kind, die Leute hingen an ihm und brauchten ihn. Als ich mich endlich frei machen konnte, fuhr ich zu ihr, mußte aber feststellen, daß ich zu spät gekommen war... Ich willigte in die Scheidung ein, die sie verlangte... Heute ist sie, glaube ich, sehr glücklich in ihrer neuen Ehe. Ihr Mann hat eine Menge Geld; sie leben in Sydney. Ich kehrte wieder hierher zurück und übernahm, als der alte Mann starb, die Praxis. Von der Stadt mit ihren beruflichen Eifersüchteleien und Intrigen hatte ich bis zum Überdruß genug. Es gab ja außerdem unzählige tüchtige, junge Ärzte dort, die meinen Platz ebenso gut ausfüllen konnten, und ich fühlte mich hier bei den >Hinterwäldlern< überaus wohl und war zufrieden. Das ist alles.«

Es folgte eine lange Pause, dann sagte Pippa: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir das alles erzählt haben. Sie müssen schrecklich unglücklich gewesen sein.«

»Eine Zeitlang, ja. Aber ich sah ein, daß der Fehler einzig und allein bei mir gelegen hatte. Ich bin eben langweilig und hätte sie auf die Dauer doch nicht fesseln können. Es war ein großer Irrtum, aber ein Glück, daß wir uns nicht noch länger gegenseitig gequält haben. So, jetzt will ich aber aufhören zu reden. Die Leute wissen hier nichts von Anne, aber man möchte doch, daß die nächsten Freunde einen verstehen.«

Er sagte unvermittelt gute Nacht und ging. Pippa schlief in dieser Nacht fast noch weniger als sonst. Sie träumte unentwegt von Anne — die sehr reizvoll, lustig, lebenssprühend und wahrscheinlich obendrein noch unsagbar schön gewesen war.