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Es war Nachmittag des Heiligabends, und in Pippas Leihbücherei herrschte Hochbetrieb, das heißt, sechs Kunden wühlten in den Regalen nach Lektüre und fünf weitere saßen schwatzend auf der Veranda, wo Freddy >so ‘ne Art Armsünderbänkchen< hingenagelt hatte, wie er es nannte. Hier pflegten sich ihre Abonnenten ein Stelldichein zu geben, die Männer, um über Fischfang zu diskutieren, die Frauen mit ihrem beliebtesten Gesprächsthema, den Lebensmittelpreisen.

Ja, es machte viel Spaß, aber auch einen Haufen Arbeit. Sie hatte seit der Eröffnung unzählige Menschen kennengelernt und mit den meisten schnell Kontakt gefunden. Die Badegäste waren eine fröhliche, ungezwungene Gesellschaft, als flüchtige Bekannte amüsant und vergnüglich, jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassend.

Aber das war auch gar nicht wichtig, denn inzwischen hatte sie im Krankenhaus echte Freunde gefunden, die in ihrem Leben nicht nur von vorübergehender Bedeutung sein würden, das wußte sie. Als erste die erfahrene Oberschwester Price, die in der ganzen Gegend einen fast legendären Ruf genoß, eine große, stattliche Matrone mit frischem Gesicht und üppigem, grauem Haar. Jeder kannte sie als eine resolute Person, auf die alle stolz waren, und man erzählte sich, daß selbst Dr. Horton sie nicht nur respektiere, sondern sogar heimlich fürchte.

Sie war eine aufopfernde und ungemein befähigte Krankenschwester, die schon manchen grimmigen Strauß um Leben und Gesundheit ihrer Patienten siegreich bestanden hatte.

Ein oder zwei Tage, nachdem die Leihbücherei eröffnet worden war, erschien sie in geschäftiger Eile bei Pippa.

»So, Sie sind also die nette kleine Bibliothekarin, von der alles schwärmt. Na, dann suchen Sie mir mal etwas zum Einschlafen aus. Biographien? Du meine Güte, nein. Nichts so Gescheites, bitte. Ich mag hübsche, romantische Liebesgeschichten, und sie müssen sich am Schluß kriegen. Für diese modernen problematischen Sachen bringe ich keine Geduld auf. Hab’ tagtäglich genug Leid und Unglück mitanzusehen, brauche nicht noch darüber zu lesen. Ein tristes Geschäft, Leute auseinanderzunehmen, um sie von innen zu betrachten. Nein, ich will, daß meine Romanheldin eine Schönheitskonkurrenz gewinnt, das große Los zieht oder sich glücklich verheiratet und >wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute<.«

Und wie schon so oft kam Pippa angesichts ihrer imposanten Persönlichkeit und ihres von Güte und Lebensweisheit geprägten Gesichts zu der Erkenntnis, daß man in einer Leihbücherei auf immer neue Überraschungen gefaßt sein muß.

»Kommen Sie doch mal irgendwann zu uns zum Abendessen. Sie werden sich mit meiner Stationsschwester, Jane Harding, sicher gut verstehen. Sie ist intelligent und liest ernste, tiefgründige Bücher, nicht wie ich. Außerdem ist sie ein feiner Kerl, und Umgang mit Gleichaltrigen würde ihr guttun. Sagen wir, gleich Mittwochabend?«

Pippa folgte der Einladung und unterhielt sich glänzend, und als es Zeit war zum Heimgehen, verabschiedete sich Pippa mit ehrlichem Bedauern.

»Aber Sie kommen doch wieder, immer wenn Sie Zeit haben«, sagte die Oberschwester. »Warten Sie nicht erst eine Aufforderung ab. Zu essen gibt’s in einem Krankenhaus immer. Wie wär’s zum Beispiel am ersten Weihnachtsfeiertag mittags?«

»Danke tausendmal, aber da habe ich schon bei den Moores zugesagt. Die waren von Anfang an so nett und hilfsbereit zu mir, wissen Sie.«

Oberschwester Price ließ ein mißfälliges Schnaufen hören, aber Jane meinte sanft: »Sie ist ein liebes, kleines Ding und so possierlich genau wie ein Kätzchen.«

»Habe nie was für Katzen übrig gehabt«, brummte die Oberschwester ungerührt. »Dumme kleine Biester, und können eine Menge Schaden anrichten. Na gut, dann gehen Sie eben zum Mittagessen dorthin und kommen abends zu uns. Die meisten Patienten werden zu Weihnachten entlassen, so daß wir, wenn sich nicht irgendein Pechvogel ein Bein bricht oder jemand ein Baby kriegt, unsere Ruhe haben dürften.«

Noch ganz erfüllt von Bewunderung für Jane Harding ging Pippa heim und kam sich im Vergleich zu ihr sehr unbedeutend und häßlich vor.

»Alle sind sie viel hübscher als ich«, sagte sie betrübt zu Mohr, der keinerlei Anstalten machte, ihr das Gegenteil zu versichern, um ihr Selbstvertrauen zu stärken.

Tatsache war, daß er seine bittere Enttäuschung und Scheu vor ihr nur schwer überwand. Drei Tage lang hatte er jede Nahrung verweigert, Stunden um Stunden vor seiner Hütte gesessen — beobachtend und wartend. »Wenn dein Herrchen nicht ganz weggegangen wäre, würde ich dich zurückschicken.«, versuchte sie ihm klarzumachen. »Aber er ist fort — fort für immer. Kannst du das nicht begreifen, Mohr? Du gehörst jetzt zu mir. Oh, ich weiß, ich bedeute dir nichts, aber du mußt mich leider so in Kauf nehmen, wie ich bin.«

Bald darauf begann er zu fressen, aber wenn sie ihn zu locken versuchte, glitt sein Blick unbeteiligt an ihr vorbei. Unentwegt starrte er in die Ferne. Würde er sich jemals an sie gewöhnen? Pippa war sehr niedergeschlagen, denn sie hatte sich von ihrem ersten Haustier so viel erhofft.

Der Heiligabend schlich langsam vorüber. Die Hitze schien immer noch weiter anzusteigen, die Leihbücherei war fast den ganzen Tag überfüllt, und sie konnte die unzähligen Forderungen und Fragen nur noch mit Mühe bewältigen. Erleichtert atmete sie daher auf, als unverhofft Jane Harding mit zwei Büchern hereinkam. Sie trug ein blaßgelbes Leinenkleid und sah frisch und bezaubernd aus.

»Kümmern Sie sich nicht um mich, ich stöbere selbst ein bißchen herum. Es sind ja so viele schöne Bücher da«, sagte sie mit ihrem weichen, sympathischen Lächeln, und alle Müdigkeit fiel von Pippa ab. Sie war sogar imstande, einem einfältigen, albernen Ding in freizügigem Strandanzug mit Geduld zu antworten: »Aber nein, Miss Griggs, nicht dieses da. Das hat Ihre Mutter doch gerade erst zurückgebracht. Ich glaube, hier das von Daphne du Maurier wäre etwas Passendes für sie«, und brachte es fertig, liebenswürdig zu lächeln, als das hoffnungsvolle Persönchen naseweis zurückgab: »Hach, diese dummen, alten Schwarten. Sieht eine langweiliger aus als die andere. Na ja, die Geschmäcker sind eben verschieden.«

Jane wendete sich von dem Regal mit der Aufschrift >Frauenromane< ab, in dem sie >etwas Leichtes zum Einschlafen< für die Oberschwester suchte, und blinzelte ihr verständnisinnig zu. Doch im nächsten Moment wechselte sie jäh den Ausdruck, ihr Lächeln erstarb, und ihr Gesicht bekam einen harten, abweisenden Zug. Pippa folgte ihrem Blick und sah draußen einen großen, eleganten Wagen vorfahren, an dessen Steuer ein älterer Mann saß mit freundlichem, gutmütigem Aussehen und den treuergebenen Augen eines Spaniels. Einen so harmlosen Menschen sollte Jane nicht leiden mögen? Das konnte sie nicht glauben. Aber dann gewahrte sie noch einen zweiten, äußerlich sehr anders gearteten Insassen im Fond, einen Mann von etwa sechzig Jahren, der auf Kissen gestützt lag und offenbar gelähmt war.

Das mußte Nelson Warren sein, von dem sie schon soviel gehört hatte, der einzige Großgrundbesitzer der Gegend, derselbe, der so eifersüchtig jene schöne Küste für sich allein in Anspruch nahm, an der Pippa damals mit Balduin kampiert und den Alec als »richtiges Rindvieh« bezeichnet hatte. Sein Name war noch öfters gesprächsweise aufgetaucht, und sie wußte jetzt, daß das riesige Landgebiet, das ungefähr fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt lag, lange bevor Rangimarie entstand, kultiviert und bewirtschaftet worden war. Warrens Vater hatte es gekauft, als nur ein unbefahrbarer Lehmpfad hinführte, und mit den modernsten landwirtschaftlichen Methoden und Hilfsmitteln in jahrelanger Arbeit eine ansehnliche, gewinnbringende Großfarm daraus gemacht. Jetzt lebte Nelson Warren hier mit seinem Bruder, jenem freundlich aussehenden Mann am Steuer des Wagens. Er war reich und unausstehlich, seit dem Kriege gelähmt, blickte voll Verachtung auf das Dorf und seine Bewohner herab, haßte die Sommergäste und wurde, da er sich von allen anderen feindselig abschloß, von Herzen wiedergehaßt. Wäre es möglich, daß er ihre Bücherei mit seinem Besuch beehren wollte?

Der Mann am Steuer war ausgestiegen und schlenderte wie absichtslos zur Tür herein.

»Guten Tag. Miss Knox, nicht wahr? Mein Name ist Douglas Warren. Ich — das heißt, mein Bruder — möchte Sie einen Augenblick sprechen, wenn Sie bitte zum Wagen herauskommen wollen.«

»Gern, Mr. Warren, aber es dauert ein paar Minuten. Ich muß mich zuerst um diese Kunden kümmern.«

Ihre gelassene Art schien eine kleine Sensation hervorzurufen. Mrs. West, die gerade nach einem >spannenden Reisebuch für die langweiligen Weihnachtsfeiertage< suchte, schnappte erschrocken nach Luft, und Douglas Warren sah sichtlich betreten drein. Seinen Bruder warten lassen? Das konnte ungemütlich werden.

»Wollen Sie sich nicht inzwischen umschauen, vielleicht finden Sie selbst etwas?« schlug Pippa liebenswürdig vor. Freilich, sie konnte es sich nicht leisten, den reichsten Mann des ganzen Bezirks vor den Kopf zu stoßen, aber sie war keinesfalls gewillt, nach seiner Pfeife zu tanzen und dadurch ihre regelmäßigen Abonnenten zu vernachlässigen. »Ich meine, wenn Ihr Bruder ein Buch ausleihen möchte.«

Dem armen Douglas Warren wurde es zusehends unbehaglicher in seiner Haut. »Vielen Dank, aber ich fürchte, ich würde wenig ausrichten können. Ich bin in der Literatur nicht sehr bewandert und unsere — unsere Geschmacksrichtungen gehen ziemlich weit auseinander.«

In diesem Moment sprang Mrs. West als rettender Engel ein und murmelte Pippa leise zu: »Darf ich Ihnen helfen, Miss Knox? Dann könnten Sie schnell hinauslaufen und fragen, was Mr. Warren wünscht. Die Buchtitel auf einen Zettel schreiben und den Datumsstempel draufdrücken, das kann ich schon.« Und als Pippa zögerte: »Es wäre nett von Ihnen, Kind, wenn Sie es täten, denn der arme Mensch kann doch seit dem Krieg seine Beine nicht mehr gebrauchen und erträgt es nicht, wenn man ihn warten läßt.«

Pippa dankte ihr und ging hinaus. Nelson Warren beugte sich schon mit ärgerlichem Stirnrunzeln aus dem Wagenfenster. Sein Gesicht war nicht angenehm, obwohl es sicherlich früher einmal gut ausgesehen haben mochte, aber Krankheit und unbeherrschte Launen hatten seine Züge vergröbert, und der Ausdruck arroganter Unduldsamkeit stieß Pippa ab. Zum ersten Mal in ihrem Leben beschlich sie das Gefühl, mit einem bösen Menschen in Berührung zu kommen.

»Guten Tag. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Das hängt davon ab, ob Sie in Ihrem Laden überhaupt lesenswerte Bücher haben. Vermutlich nicht, aber die verwünschte Bibliothek in der Stadt hat mich mit einer regelmäßigen Sendung im Stich gelassen. Schieben die Schuld natürlich auf die Post wegen der erhöhten Weihnachtszustellung, aber in Wirklichkeit sind sie notorisch unzuverlässig wie alle Leute. Zeigen Sie mir Ihren Katalog.«

»Bedaure, aber ich hatte bisher noch keine Zeit, einen anzulegen, und meine Leser kommen meistens selbst herein, um sich etwas auszusuchen.«

Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, wußte sie, daß sie eine unverbesserliche Taktlosigkeit begangen hatte. Er stieß ein kurzes, unangenehmes Lachen aus. »Leider Gottes kann ich mich diesem idyllischen Zeitvertreib nicht widmen, und mein Bruder ist nicht viel mehr nütze als meine eigenen Beine, deshalb muß ich mich eben auf andere verlassen.«

Pippa war es heiß und unbehaglich. Er war wirklich ein ausgesprochenes Scheusal. Aber sie antwortete nur: »Ja, wenn Sie mir ungefähr die Richtung nennen, will ich gern nachsehen.«

Er zog eine lange, eindrucksvolle Liste hervor, die Pippa einen wahren Schrecken einjagte, doch dann sah sie mehrere Bücher aufgezählt, von denen sie wußte, daß sie vorhanden waren. Zwei davon hatte sie erst am Nachmittag in der Hand gehabt, als sie zurückgebracht wurden. Sie erbot sich, sie zu holen, und er knurrte unfreundlich. »Dann sagen Sie meinem Bruder, er soll sofort herauskommen. Er wird Sie auch bezahlen. Möglicherweise kann ich in Zukunft meine Bücher hier beziehen. Guten Tag.«

Er war nicht nur gönnerhaft herablassend, sondern geradezu unhöflich. Pippa ging, kochend vor Wut, zurück und fand Douglas Warren in leiser Unterhaltung mit Jane in der äußersten Ecke der Bibliothek. Nein, er war bestimmt nicht der Mann, dem der haßerfüllte Blick gegolten hatte. Jane plauderte so heiter und charmant wie immer, und er schaute sie mit offenkundiger Zuneigung an. Erstaunt stellte sie den krassen Unterschied zwischen dem runden, weichen Gesicht des einen und dem grämlichen, scharfgefurchten des anderen Bruders fest. Kein Wunder, daß Jane so wenig Sympathie für Nelson Warren empfand, vielleicht hatte sie ihn einmal gepflegt und als unleidlichen Patienten kennengelernt. Sie suchte die Bücher heraus und richtete die Nachricht an Douglas aus, der daraufhin eilig seinen Stapel Wildwestgeschichten ergriff, die Jane für ihn ausgewählt hatte.

»Leben Sie wohl, Jane, und tausend Dank. Sie haben wieder genau meinen Geschmack getroffen.« Und zu Pippa gewendet: »Ich finde diese Lektüre so beruhigend, dabei kann ich mich richtig erholen. Kriminalromane mag ich nicht. Mord ist etwas Abscheuliches, da hilft auch der beste Autor nichts.«

Dann verabschiedete er sich überaus höflich und eilte von dannen. Einen Augenblick später rollte der Wagen davon.

Pippa bedankte sich bei Mrs. West und löste sie am Schreibtisch ab.

»Ich denke, ich habe nichts durcheinandergebracht. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, daß ich diesen Vorschlag machte, aber es schien mir das klügste zu sein, Mr. Warrens Wünsche zu befolgen. Ich hätte nie vermutet, daß er je eine Leihbibliothek in Rangimarie in Anspruch nehmen würde.«

»Nur weil er seine gewohnte Buchsendung aus der Stadt nicht bekommen hat.«

Und kurz darauf, als sie mit Jane allein war, sagte sie: »Was für ein widerlicher Mann. Das erste Mal, als ich von ihm hörte, nannte ihn jemand ein >Rindvieh<, aber ich finde, er hat mit diesem dicken, gutmütigen Tier nicht die geringste Ähnlichkeit.«

»Ich hasse ihn«, sagte Jane plötzlich mit mühsam unterdrückter Leidenschaft.

Pippa erschrak. Weshalb sprach sie so? Jane, die stets so sanft, so gleichmäßig freundlich und geduldig war? Rasch lenkte sie ein: »Aber der Bruder ist sehr nett, der Arme.«

»Arm, allerdings. Es ist grausam, wie ein Mensch das Leben von drei — das Leben anderer ruinieren kann.« Doch schon glätteten sich ihre Züge wieder, als ein paar Fremde hereinkamen, und sie fuhr leicht fort: »Aber heute ist Heiligabend. Nicht der geeignete Zeitpunkt, solche Haßgefühle zu nähren.«

Eine Stimme, die von der Tür her ertönte, ließ sie beide in diesem Augenblick wie auf Kommando herumfahren.

»Nanu! Ja, da schlag doch einer lang hin — das nenne ich eine Überraschung vom Weihnachtsmann! Was sehen meine entzückten Augen... Die Dame mit dem Primuskocher. So, Pippa ist also doch nicht endgültig vorübergegangen?«

Es war Mark Marvell, der dastand und über das ganze Gesicht grinste. Sein Erscheinen schlug bei den vier Mädchen, die sich an den Regalen Bücher auswählten, wie eine Bombe ein. Sie starrten ihn mit mondsüchtigen Augen an. Man stelle sich vor, ein so flottes Mannsbild hier in der Leihbibliothek! Und mit der jungen Inhaberin allem Anschein nach auf vertrautem Fuß! Pippa stieg sofort himmelhoch in ihrer Achtung.

Jane lächelte zurück, und Pippa wurde sogar ein bißchen rot. Er schwatzte unbekümmert drauflos: »Und Schwester Jane ebenfalls, das ist ja ein wahrer Glückstag für mich. Ich hörte schon so etwas läuten von einer Bücherstube, die neuerdings in Rangimarie eröffnet worden sei, und von einer hübschen kleinen Bibliothekarin, aber wer hätte da an Miss Knox gedacht?«

Pippa hatte sich von ihrer ersten Verblüffung erholt und fand, daß dem selbstherrlichen jungen Mann zunächst mal ein kleiner Dämpfer gebührte. Sie blieb ihm die Antwort nicht schuldig. »Sie bestimmt nicht, denn Sie haben ja nicht mehr ein einziges Mal an sie gedacht, seit Sie sie trafen.«

»Ach, wenn Sie wüßten! Sagen Sie selbst, Jane, wenn Sie so ein entzückendes, süßes... ich meine, wenn Sie einer so ernstzunehmenden jungen Dame mitten in der Wildnis im Kampf mit einem Primuskocher begegnet wären und sie hätte Ihnen ihren Namen verraten, würden Sie das vergessen haben?«

»Nicht, wenn sie so außergewöhnlich ist wie Pippa«, gab Jane lächelnd zurück, und Mark, durch diese Fürsprache ermutigt, wendete sich laut rufend zur Tür: »Peg, komm rein und überzeuge dich mit eigenen Augen, wer hier ist. Und dann untersteh dich, noch einmal über mein Daumenprickeln zu lästern.«

Margaret Marvell war reizend. Sie begrüßte Pippa wie eine alte Freundin und erzählte Jane, die sie anscheinend gut kannte, die Geschichte von dem widerspenstigen Feuerspeier. Als die vier Mädchen sich endlich von dem faszinierenden Anblick losgerissen hatten und die Bücherei einen Moment leer war, unternahmen sie alle zusammen einen Rundgang durch Pippas Haus und durch den Garten bis zu ihrem Aussichtsplatz.

»Seht doch die himmlischen roten Blüten! Aber eigentlich ist das alles für die Katze, weil ich überhaupt keine Zeit finde, hier zu sitzen«, sagte sie bedauernd, worauf ihr alle einmütig zuredeten, sie solle sich lieber an ihrem gutgehenden Geschäft freuen, statt von Aussichten zu schwärmen, davon würde man nicht satt. Es herrschte sofort ein so vertrauter, lustiger Ton zwischen ihnen, daß sie rasch den frostigen Eindruck von Nelson Warrens Besuch vergaß und ihre altgewohnte gute Laune wiederfand.

»Ein prächtiger Hund ist das«, bemerkte Mark, bemühte sich jedoch vergeblich, Mohr ein Zeichen der Teilnahme zu entlocken. »Hervorragende Rasse. Sie sollten ihn mal auf eine Ausstellung schicken. Aber den hatten Sie doch damals noch nicht, als wir Sie trafen, nicht wahr?«

»Nein, mein Vetter brachte ihn mir erst später, als Schutz gegen Räuber und Einbrecher. Nur hat er sich leider noch nicht an mich gewöhnt. Er reagiert nicht auf mich und hat die ersten drei Tage nichts gefressen. Auch jetzt nimmt er sein Futter ziemlich lustlos, und an mir hat er auch kein Interesse.«

»Das gibt sich mit der Zeit. Der arme Kerl leidet an Heimweh. Neufundländer sind sehr anhänglich und vertragen solche gewaltsamen Veränderungen nicht. Sobald er Sie erst einmal als Herrin anerkannt hat, wird er Ihnen treu ergeben sein. Die sind so.«

Pippa seufzte. »Ich wollte, es wäre schon soweit«, sagte sie. »Es ist so traurig, das mitanzusehen. Wie finden Sie den Garten? Ziemlich groß, nicht? Aber ich fürchte, ich werde eine Last damit haben, denn das Gras ist seit dem letzten Regen mächtig in die Höhe geschossen, und mähen kann man es bei dem unebenen Boden schlecht.«

»Was Sie brauchen, ist ein Tier, das Sie hier grasen lassen können. Ein Lamm oder eine junge Ziege. Hör mal, Peg, schenken wir ihr doch eine zu Weihnachten. Eine lebende, keine bratfertige. Wie wäre das?«

»Aber könnte sie denn von diesem Garten allein existieren?«

»Ja natürlich, wenn Sie sie manchmal an der Küste weiden lassen«, versicherte Margaret. »Ich finde, Sie sollten sich wirklich eine kleine Ziege zulegen, sie sind unsäglich drollig und viel klüger als Schafe. Mark kann Ihnen eine bringen. Wir haben ganze Herden hinter dem Haus, um die Blaubeeren und das Unkraut niedrig zu halten. Wir suchen Ihnen eine hübsche, kleine schwarze aus, Pippa, die zu Ihrem schwarzen Hund paßt und ihm die Grillen verscheucht.«

Sie wohnten, wie sich herausstellte, nur achtzehn Kilometer entfernt in entgegengesetzter Richtung der Warrens. »Was ich als gnädige Schicksalsfügung begrüße«, fügte Mark hinzu. »Ich würde mir den alten Nelson nicht als Nachbarn wünschen.« Doch von einem Blick seiner Schwester getroffen, verstummte er und wechselte mit verdächtiger Eile das Thema. »Wir haben eine Schaffarm, ganz schön groß, aber mit Warrenmede können wir natürlich nicht konkurrieren. Peg und ich leben da völlig allein, zwei arme, kleine Waisenkinder — «

»Sie müssen mal zu uns, sobald Sie können« ergänzte Margaret. »Verabreden Sie sich doch mit Jane, wenn sie gerade einen freien Tag hat.«

Sie versprachen es, und Margaret zog mit einem Stapel Bücher los. »Fein, daß wir jetzt in Rangimarie außer Jane noch jemanden haben, der uns besuchen kann«, sagte sie beim Abschied vergnügt. »Und von ihr sehe ich viel zuwenig, weil ich immer ein bißchen Angst vor ihrem alten Drachen habe, der sie bewacht... Also Pippa, fröhliche Weihnachten. Kommen Sie, Jane, wir bringen Sie schnell zum Krankenhaus zurück.«

Es war wundervoll, die Marvells wiedergetroffen zu haben, ein Zufall, an den sie nie geglaubt hätte. Margaret gefiel ihr, sie war herzlich und aufgeschlossen, und mit Mark konnte man sich köstlich unterhalten, solange man ihn nicht ernst nahm. Ja, sie war tatsächlich reich an Freunden.

Als Pippa um zehn Uhr endlich ihre Haustür abschloß, nachdem sie mit ununterbrochen strahlendem Gesicht genau siebenundfünfzigmal >Frohe Weihnachten< gewünscht und dankend entgegengenommen hatte, war sie zu müde, um die Bücher noch wegzuräumen oder gar ihr Geld zu zählen. Zu erschlagen, um irgend etwas anderes zu tun, als Mohr zu seinem kurzen Abendspaziergang auszuführen, ihn danach mit einem kleinen, liebevollen Klaps, den er völlig ignorierte, anzubinden und schließlich ins Bett zu taumeln.

Sie schlief tief und fest, erwachte spät und konnte sich im ersten Moment kaum besinnen, wo sie war. Dann lag sie genießerisch faulenzend im Bett, neben sich das Frühstückstablett mit Tee und Toast, und dachte an frühere Weihnachten zurück. Seit sie ihre Eltern verloren hatte, war sie über die Festtage regelmäßig bei Pam zu Besuch gewesen, hatte für eine kurze Dauer deren sorgloses, angenehmes Leben geteilt, das früher auch für sie so selbstverständlich gewesen war.

Aber im letzten Jahr hatte sie sie bitter vermißt und statt dessen einen langen, öden Tag mit einigen Freunden ihrer Eltern zugebracht. Ah, gottlob, heute sah alles viel besser aus. Sie war in ihrem eigenen Haus, führte ihr selbständiges Leben, konnte tun und lassen, was sie wollte. Mittags würde sie bei Kitty und Alec sein und abends zu Jane gehen.

Mit diesen frohen Gedanken sprang Pippa aus den Federn. Sie warf einen Blick in das chaotische Durcheinander in der Bibliothek und verschob die Arbeit auf später. Schließlich lagen noch drei freie Tage vor ihr. Sie zählte ihr Geld und war erstaunt, wieviel sie eingenommen hatte. Natürlich, im Hinblick auf die Feiertage waren mehr Bücher ausgeliehen worden als sonst durchschnittlich, aber wenn das Geschäft so anhielt, würde sie bald in der Lage sein, neue Bestellungen aufzugeben. Mit vergnügtem Schmunzeln ergriff sie ihren Badeanzug und steuerte Balduin rückwärts aus dem Gartentor.

Für gewöhnlich schlüpfte sie schon in aller Herrgottsfrühe, wenn sich noch kein Mensch rührte, aus dem Haus, rannte zum Strand hinunter und tummelte sich allein und fröhlich in den Wellen. Aber heute war sie spät daran, deshalb wollte sie Mohr mitnehmen und weiter die Küste hinauffahren, fort von der betriebsamen Menge. Mohr kam gehorsam hinter ihr her, saß aber stumm und verloren auf dem Rücksitz und betrachtete die Welt mit Trauer und Überdruß.

Hunderte von Köpfen tauchten bereits im Wasser auf und nieder, sie erwiderte lachend die vielen Zurufe, die ihr entgegenschallten, und winkte zurück, aber sie dachte nicht daran, zu halten. Menschen und Geschwätz hatte sie noch von gestern her satt. Glücklicherweise war der Strand lang genug, daß man sogar am Weihnachtsmorgen noch ein stilles Plätzchen ergattern konnte. Endlich fand sie, was sie suchte, stieg aus und lief die Düne hinunter. Als sie sich vom Wagen entfernte, stieß Mohr ein kurzes, wimmerndes Geheul aus, was sie sehr überraschte, weil er bisher anscheinend nie bemerkt hatte, wenn sie fortgegangen war. Sie hätte ihn gern mitgenommen, wagte es aber nicht aus Furcht, ihn auf Nimmerwiedersehen zu verlieren.

Das Wasser war warm und sehr ruhig, die Wellen rollten träge heran und glitten sanft wieder zurück. Sie schwamm langsam, dachte an Pam und frühere Weihnachtsfeste und wurde plötzlich von einem Gefühl trostloser Einsamkeit ergriffen. Gewiß, die Leute hier waren nett, aber im Grunde doch alle fremd für sie. Wenn sie morgen wieder wegginge, würde keiner sie ernstlich vermissen. Ja, wer machte sich überhaupt, außer Pam, etwas aus ihr? James? Sie wußte, wie er seine Feiertage zu verleben pflegte, in einem Kreis gleichgesinnter Junggesellen, die sich jedes Jahr eine Luxusjacht heuerten und zum Segeln und Fischen fuhren. Möglich, daß er heute irgendwann einmal flüchtig an sie dachte, froh, sich ihrer richtigen Strumpfgröße erinnert zu haben, um sie bald wieder aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Sie begann sich schrecklich leid zu tun. Hier war sie nun, allein, ohne Verwandte, getrennt von allen, mit denen sie in ihrer Jugend befreundet gewesen war und — das fügte sie aber nicht hinzu — die sie selbst in den meisten Fällen aus falschem Stolz fallengelassen hatte, als sich damals in ihrem Leben die Schwierigkeiten einstellten. Trübsinnig watete sie zum Strand zurück, der letzte Funken guter Laune hatte sie verlassen, und elegisch sagte sie sich, daß ihr niemand eine Träne nachgeweint hätte, wenn sie jetzt ertrunken wäre.

Pippa war nicht für Halbheiten. Was sie tat, tat sie ganz. Nachdem sie sich einmal so weit in Selbstmitleid vergraben hatte, kostete sie diese Stimmung auch bis zum letzten aus. Sie fühlte sich zu erbärmlich, um sich anzuziehen. Der Tag lag noch endlos vor ihr, sie würde ihn mit lauter fremden Menschen verbringen müssen, die von ihr erwarteten, daß sie lustig und guter Dinge war, dafür wollte sie jetzt einfach im Sand liegenbleiben und so traurig sein, wie sie nur konnte. Sie wußte genau, wie es bei den Moores sein würde. Kitty und Alec würden sich wieder schamlos anhimmeln und sie spüren lassen; daß sie eine unerwünschte alte Jungfer war, oder sich ebenso schamlos und mit erschreckender Unbeherrschtheit in die Haare geraten, weil man ja auf sie keine Rücksicht zu nehmen brauchte. War sie nicht wirklich nur eine >Tante< für sie, vor der man es nicht nötig hatte, Hemmungen zu haben? Zu schade, daß sie so wenig Erziehung hatten. Immerhin, es mußte schön sein, jemanden zu haben, der sich um einen kümmerte und sorgte, wie Alec um Kitty.

An diesem Punkt fühlte sie mit dankbarer Genugtuung eine dicke Träne an ihrer Nase herabkullern. Tränen am Weihnachtstag... das hatte etwas tief Tragisches. Am liebsten hätte sie jetzt richtig geweint, aber dazu brauchte sie ein Taschentuch. Gewissenhaft stand sie auf und ging zum Wagen, um sich mit dem erforderlichen Requisit für ihre Kummerorgie zu versehen.

Als sie die Tür öffnen wollte, sprang Mohr plötzlich mit einem Satz dagegen und sauste wie der Blitz an ihr vorbei und davon. Das brachte das Maß zum Überlaufen. Mit lauter Stimme rief sie: »So, nun ist er weg! Aber ich kann’s auch nicht ändern. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich bin ihm einfach egal. Ach, niemand mag mich, nicht mal ein Hund!«

Hier kippte ihre Stimme in einen jämmerlichen Wehlaut um, sie warf sich in den Sand und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Und da geschah das Wunder. Plötzlich spürte sie eine nasse Nase an ihrem Gesicht, an ihren Händen und Ohren. Sie schreckte aus ihrem Kummer hoch, hob den Kopf und sah den tolpatschigen schwarzen Hund über sich, der sie in einem wilden Überschwang von Angst und Zuneigung, völlig außer sich beim Anblick ihrer Tränen, fast zu ersticken drohte. Sie schlang die Arme um seinen Nacken, und er jaulte vor Freude.

»Aber Mohr«, flüsterte sie. »Mohr... Wirst du mich denn wirklich ein bißchen gern haben können?«

Seine stürmische Antwort ließ sie beinah rückwärts wieder in den Sand fallen. Mohr kannte eben genausowenig Beherrschung wie Alec und Kitty. Von nun an gehörte er ihr, versicherte er mit lautem Bellen, ihr mit Haut und Haaren und bis ans Ende der Tage. Er könne nicht länger trauern. Der andere Mensch, an dem sein Herz hinge, habe ihn verlassen, jetzt gäbe es nur noch Pippa, und sie wollten sich nie mehr trennen.

Im Nu war aller Kummer vergessen, sie sprang in die Höhe, lachte und klatschte ausgelassen in die Hände. »Liebling, dir ist wohl Weihnachten zu Kopf gestiegen? Ja, du bist das schönste Geschenk, das ich mir nur wünschen konnte. Komm, jetzt schwimmen wir um die Wette!«

Das war es, wonach er sich gesehnt hatte. Unglücklicherweise jedoch erwies sich seine neuentdeckte Anhänglichkeit schon als unbequem. In der festen Überzeugung, daß Pippa sich in äußerster Gefahr befand, bemühte er sich verzweifelt, sie zu retten und an Land zu ziehen. Dabei ersäufte er sie beinahe, bis sie begriff, was er meinte, und sich willig zum Strand schleppen ließ. Dort setzte er sich neben sie und japste triumphierend. >Ohne mich wärst du elend untergegangen<, schien er zu sagen. >Jetzt bist du mein Eigentum.< Dann stand er auf und schüttelte sein nasses Fell freigebig erst über ihre Kleider und zum Schluß über sie.

Ihr quecksilbriges Temperament, in James’ Augen ein so bedauerlicher Charakterfehler, zeigte sich jetzt von seiner besten Seite. Pippa war im Handumdrehen wieder obenauf. Kitty und Alec hatten nie einen reizenderen Weihnachtsgast gehabt, Oberschwester Price und Jane fanden sie bezaubernd, und die ganze Welt war wieder in bester Ordnung.