20

 

Voller Tatendrang erschien Pippa schon zu früher Stunde in James’ Pension, ohne Rücksicht auf die Abneigung aller rechtschaffenen Menschen, am Sonntagmorgen um sieben Uhr aufgestöbert zu werden. Sie erhielt den ziemlich ungnädigen Bescheid, Mr. Maclean sei nicht auf seinem Zimmer, und sie machte sich, gefolgt von Mohr, eilig auf den Weg zum Strand, um ihn zu suchen.

Er saß an derselben Stelle, an der sie tags zuvor gewesen waren, starrte gedankenverloren aufs Meer und paffte nervös an einer Zigarette. Pippa sank das Herz. Er sah gedrückt aus, also waren sie anscheinend zu keinem Einverständnis gekommen. Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen, unverzüglich mußte etwas unternommen werden.

Als sie sich näherte, sah sie ihn eine halbaufgerauchte Zigarette fortwerfen und sofort wieder eine neue anzünden, was sie endgültig davon überzeugte, daß etwas nicht stimmte, denn James war immer ein sehr mäßiger Raucher gewesen. Er stand auf, als er ihrer ansichtig wurde, und sie sagte mit gespielter, mütterlicher Strenge: »Du hast nicht geschlafen, und du hast auch noch keinen Bissen zu dir genommen. Komm jetzt ohne Widerrede mit und frühstücke bei mir, aber rasch!«

Er lehnte weder ab, noch machte er den Versuch zu spotten, sondern antwortete zu ihrer Verwunderung ganz bescheiden: »Ich danke dir, mein Liebes. Du bist aber früh auf nach eurer Party. Übrigens, ich muß dir gratulieren, sie ist glänzend gelungen.«

Seine Milde betrübte sie. Das war nicht der alte James. Sie erwiderte: »Ja, ich fand es auch nett. Pam schläft noch, wir wollen leise sein und sie nicht wecken.«

Sie machte ihm Tee und Toast und sah ihm mit ängstlicher Besorgnis beim Essen zu. Als er fertig war, sagte er, diesmal schon etwas mehr in seinem gewohnten Ton: »Du bist eine ziemlich selbstsichere junge Dame geworden. Deine Erfolge sind dir wohl zu Kopf gestiegen.«

»Komm hinaus zum Strand, hier können wir nicht sprechen. Es war ja auch höchste Zeit, daß ich mal mein eigener Herr wurde. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr hast du mich gegängelt.«

»Ohne wahrnehmbaren Erfolg.«

Sie sprachen nicht viel, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten, dann sagte Pippa: »Setzen wir uns ein Weilchen. James, du nanntest mich gestern deine jüngere Schwester. Laß es mich nur heute einmal wirklich sein und fahre nicht gleich hoch, wenn ich gern wissen möchte, was los ist. Erzähl mir, warst du früher mit Margaret Marvell verlobt?«

»Ja. Es mag seltsam scheinen, daß ich nichts von ihrem Aufenthaltsort wußte, aber wir hatten uns völlig aus den Augen verloren. Sie lebten damals in Canterbury und kauften vermutlich diese Farm erst nach — nach unserem Bruch.«

»Du nahmst an, sie hätte geheiratet, nicht wahr? Einen Mann namens Jameson?« bohrte Pippa unerbittlich weiter.

»Ja. Ebensogut hätte es natürlich auch irgendein anderer ihrer zahlreichen Verehrer sein können, aber es war zufällig derjenige, dessentwegen wir in Streit gerieten. Ich kann nicht darüber sprechen, Pippa, auch wenn du wirklich meine Schwester wärst, könnte ich es nicht. Ich habe mir das Reden abgewöhnt. Und es ist ja zehn Jahre her.«

»Gleich nachdem du aus dem Krieg zurückkamst?«

»Ja, da lernte ich sie kennen. Wir waren drei Monate verlobt, dann ging es auseinander. Wir hatten beide schuld. Das ist alles, mein Kind.«

Aus seinem Mund klang die ganze Sache sehr durchschnittlich und langweilig, aber das konnte man ja bei James nicht anders erwarten. Er war eben kein gesprächiger Mensch. Vielleicht war er es überhaupt nie gewesen, oder seine Schweigsamkeit rührte von dem langen Alleinsein und der Traurigkeit her.

»Hast du die ganze Zeit nur ihretwegen nicht geheiratet?«

Er lächelte traurig.

»Ich behaupte nicht, alle meine Tage einsam verbracht zu haben, nur wegen Margaret. Das tut kein Mann. Aber ich scheute vor dem Entschluß zurück, zu heiraten, und ich traf auch keine, mit der ich mein Leben hätte teilen wollen. Mit der Zeit bekommen Erinnerungen einen Glorienschein.«

»Margaret fühlte vielleicht genauso... Nein, ich will dich nicht trösten, aber ich habe immer gespürt, daß sie irgendeine große Enttäuschung erlebt hatte. Sie schien an keiner Geselligkeit Spaß zu haben, und Mark sagte, sie wolle von Männern nichts wissen. Sie fuhr kaum jemals in die Stadt, obwohl sie andererseits weite Reisen machte.«

»Sie wird möglicherweise dasselbe gedacht haben wie ich, nämlich, daß es besser sei, einer Begegnung aus dem Wege zu gehen. In einer Großstadt ist es natürlich leicht, sich zu meiden. So hat sie anscheinend alle Freunde, die sie während unserer Verlobungszeit kennenlernte,

‘ fallenlassen und ich geriet auch mehr und mehr in einen anderen Interessenkreis — Bridge, Berufsbekanntschaften, Golf. Mehrere Abende wöchentlich im Klub, manchmal im Theater, bei Partys, aber meist nur unter Männern. Und dann war ich sehr beschäftigt. Alles in allem nicht gerade unglücklich, nur ziemlich stumpfsinnig.«

Sie hatte ihn noch nie vorher so viel sprechen hören, nie etwas aus seinem Leben erfahren, noch sich im einzelnen Vorstellungen darüber machen können. Schweigend wartete sie, in der Hoffnung, er würde fortfahren, aber er schien vollkommen vergessen zu haben, daß er eben noch so redselig gewesen war, bis sie ungeduldig fragte: »Ja, und was willst du tun? Doch nicht weggehen und sie wieder verlieren?«

»Ich weiß nicht. Es bleibt nur diese Möglichkeit oder heiraten.«

»Du lieber Himmel, wie sprichst du denn... Wie Pam. Als ob Heiraten ein Todesurteil wäre. Wie kann man so denken, wenn man sich gern hat?«

»Sie meint, es sei zu spät. Wir hätten die Gelegenheit verpaßt, seien zu alt und jeder schon zu sehr in seinen eigenen Geleisen eingefahren. Zehn verlorene Jahre, und nichts kann sie zurückbringen.«

»Natürlich, was soll sie auch anderes sagen? Du mußt dir eben Mühe geben und sie mürbe machen, das ist doch deine Stärke.«

»Aber sie hat womöglich recht. Ich bin beinah vierzig und sie ist dreiunddreißig. Es fällt schwer, seine Lebensgewohnheiten umzuwerfen, sich einem anderen Menschen anzupassen, wenn man auf die Vierzig zugeht.«

»Also jetzt oder nie! Ach, raff dich doch dazu auf, James. Im Krieg hast du viel riskantere Einsätze gewagt, und ein Risiko gibt’s schließlich überall. Sieh dir Pam und Mark an. Die Ehe widerstrebt ihrem ganzen Lebensstil, aber sie versuchen es trotzdem. Sei tapfer, James, spring über deinen eigenen Schatten.«

»Deine Vergleiche sind nicht gerade dazu angetan, es verlockender erscheinen zu lassen.«

»Nun werde bloß nicht wieder hochtrabend. Leg doch den Krampf ab, James. Siehst du denn nicht, daß das deine große Chance ist? Deine Chance, wieder menschlich und natürlich zu werden? Wenn du sie diesmal verpaßt, dann wirst du auch weiterhin nichts sein als ein glänzender, gesuchter Rechtsanwalt, und mit der Zeit wirst du immer verstaubter und muffiger werden... Und das Risiko ist heute nicht halb so groß wie vor zehn Jahren. Ihr seid beide älter und weiser geworden, habt beide Verstand. Du wirst Zugeständnisse machen müssen und darfst nicht zuviel erhoffen. Komm, James, komm und geh zu Margaret, jetzt sofort. Es ist nach neun Uhr, und sie wird dich erwarten. Bestehe einfach darauf, daß sie dich heiratet, du kannst doch andere so gut piesacken.«

»Diese Bemerkung will ich nicht gehört haben.« Aber er gab doch dem ungeduldig zufassenden Griff ihrer Hände nach und ließ sich in die Höhe ziehen.

»Noch in dieser Minute holst du deinen Wagen. Meinetwegen kannst du auch Balduin haben, wenn du willst.«

»Der Himmel bewahre mich! Und dich nehme ich auch nicht mit, also spiel dich nicht so als Regisseur auf. Ich gehe allein.«

»O James, das ist gemein von dir. Es wäre doch viel netter für dich, jemand dabeizuhaben, mit dem du dich unterhalten kannst.«

Er lächelte, schüttelte aber den Kopf.

»Ich möchte mich nicht unterhalten. Ich möchte nachdenken.«

»Aber das ist das Schlimmste, was du tun kannst. Du müßtest einfach bei ihr reinplatzen, ohne vorher zu überlegen.«

Er hatte sie zum Haus zurückbegleitet, und sie stand auf der Veranda, während sie auf ihn einsprach. Als er sich jetzt zum Gehen wandte, beugte sie sich vor und gab ihm einen raschen Kuß auf die Backe.

»Ich habe noch nie bis zu dir in die Höhe reichen können, aber ich wüßte auch nicht, wann ich jemals den Wunsch dazu gehabt hätte... Viel Glück, lieber James, und bitte, bitte, streng dich an!«

Der Vormittag verstrich im Schneckentempo. Pippa platzte beinah vor Spannung, und der Zwang, vor Pam den Mund halten zu müssen, brachte sie fast um. Glücklicherweise war Pam im Moment von ihren eigenen Plänen vollauf in Anspruch genommen.

»Mark ist wahnsinnig ungeduldig. Er behauptet, wenn wir nicht bald heiraten, haben wir keine Zeit mehr für eine anständige Hochzeitsreise. Wir hatten vor, eventuell nach Australien zu fliegen. Müßte doch herrlich sein, zusammen durch Sydney zu bummeln.«

»Was denken denn deine Eltern über das alles?«

»Die werden wahrscheinlich ausgiebig Ratschläge erteilen, aber im Grunde ihres Herzens sehr erleichtert und mit allem zufrieden sein. Besser, wir heiraten schnell, und meine Aussteuer kann ich mir ja dann in Sydney kaufen. Die Hochzeit soll in ganz kleinem Kreis stattfinden, nur du und Angela als Brautjungfern.«

»Oh, ich kann nicht, Pam. Ich würde so gern kommen, aber ich kann unmöglich die Leihbücherei und Mohr allein lassen. Und von einem Kleid gar nicht zu reden.«

»Liebling, du bist in puncto Hochzeiten anscheinend völlig unbewandert. Die Brautjungfernkleider sind Sache der Brauteltern. Und Mohr kannst du auch sehr gut mitbringen, er schläft eben im Balduin.«

»Ihn in die Stadt mitnehmen? Nein, das würde ich nicht riskieren, dann lasse ich ihn lieber hier. Aber wer kümmert sich um die Bibliothek?«

»Wie wär’s denn mit Doris? Die schwärmt doch immer so von Büchern, und geschäftstüchtig ist sie auch. Ihrer Mutter geht es wieder gut genug, daß sie sie unbesorgt ein paar Stunden am Tag sich selbst überlassen kann, und für Doris bedeutete es eine interessante Abwechslung.«

»Trotzdem, bleibt immer noch Mohr... O Pam, du weißt, wie liebend gern ich käme, aber ich würde mir die ganze Zeit Gedanken um ihn machen. Auch wenn ich nur drei Tage fortbliebe, wäre er todunglücklich.«

Zufällig kam in diesem Augenblick John Horton herein, der auf der Suche nach James war, und Pam legte ihm den Fall vor. Er bot sich sofort bereitwillig an, den Hund während ihrer Abwesenheit in Obhut zu nehmen.

»Ach, wenn Sie das tun könnten, würde mir ein Stein vom Herzen fallen. Sie sind der einzige, den er mag.«

»Das ist gar kein Problem. Ich nehme ihn aber lieber nicht mit nach Hause, weil ihn das nur in Verwirrung bringen würde. Doris kann die Küchentür offenlassen und ihn draußen anketten. Ich komme dann jeden Morgen, hole ihn ab, und wenn wir an den Strand hinausfahren, kann er sich tüchtig austoben. Ich sorge schon dafür, daß er sich nicht allzuviel grämt.«

»Das ist schrecklich nett von Ihnen. Sind Sie aber auch sicher, daß er sich nicht zu sehr an Sie gewöhnt und mich am Ende gar nicht mehr liebt, wenn ich zurückkomme?«

»Todsicher.«

Dann machten sich die Mädchen auf den Weg zu Doris. Sie war begeistert von der Idee, die Leihbücherei zu hüten, sei es auch nur für drei Tage, versprach, Amanda ihre tägliche Portion Rüben zuzuteilen und sie mit nach Hause zu nehmen, damit sie bei ihnen im Garten grasen könne. Man wurde sich schnell einig.

Es war schon später Nachmittag, als James zurückkam. Kaum hörte Pippa seinen Schritt, da rannte sie ihm auch schon mit absolut ungehöriger Neugier entgegen und begrüßte ihn mit einem atemlos gespannten: »Na?«

Er sagte zunächst nichts. Erst nachdem er sich überzeugt hatte, daß Pam nicht in der Nähe war, erwiderte er recht nüchtern: »Aus deinem >Na< schließe ich, daß du eine bis ins kleinste gehende Schilderung erwartest. Aber ich fürchte, da gibt es nicht viel zu schildern. Ich habe nichts Neues zu berichten.«

»Nichts? O James, sag bloß nicht, daß du keinen Erfolg gehabt hast?«

Pippa war dem Weinen nahe. Welch eine entsetzliche Enttäuschung! Sie hatte gehofft, James würde von Glück verklärt zurückkommen, und sie könnte noch am Abend Dr. Horton ihren letzten Triumph verkünden. James bemerkte ihre Niedergeschlagenheit, und das warme Gefühl, das neuerdings den Panzer um sein Herz zu schmelzen begann, veranlaßte ihn, ihr sanft zuzureden: »Mach nicht so ein trauriges Gesicht, mein Liebes. Man kann nicht an einem Tag etwas einrenken, was zehn Jahre zurückliegt. Wir sind keine hoffnungsfreudigen jungen Idealisten mehr, weißt du. Aber wir sprachen uns aus — und zwar gründlich! Wir erinnerten uns alter, gemeinsamer Interessen, und ich glaube, wir entdeckten auch einige neue... Margaret lehnt es vernünftigerweise ab, zu einem Entschluß gedrängt zu werden. Sie will mir im Laufe der Woche schreiben.«

»Aber das klingt alles so entsetzlich kalt und verstandesmäßig.«

»Vielleicht wenn man sechsundzwanzig, aber nicht, wenn man vierzig ist. Margaret zitierte etwas aus einem Gedicht, das soviel besagte, wie >das erste, himmelstürmende Entzücken< sei nie wieder zu empfinden... Du weißt ja, ich mache mir nichts aus poetischen Ergüssen. Wenn’s auch nicht das erste Entzücken mehr ist, vielleicht finden wir sogar eine solidere Grundlage. Und wenn nicht — nun, wir sind inzwischen beide das Alleinsein gewöhnt. Es gibt noch andres im Leben als Liebe.«

Das war für Pippa eine eiskalte Dusche. Sie schneuzte sich die Nase und sah so geknickt aus, daß James ihr einen Besuch bei Dr. Horton vorschlug.

»Ich will mein Quartier jetzt nicht mehr wechseln, da ich morgen schon sehr früh abreisen muß, und außerdem bin ich gegen das Leben in Pensionen allmählich abgehärtet. Aber ich möchte Horton gern noch einmal sprechen, und du kannst mitkommen, wenn du willst. Deine Freundin wird vermutlich sowieso erst in Stunden wieder aufkreuzen.«

Sofort hellte sich Pippas Miene wieder auf. Sie hatte sich schon lange gewünscht, Dr. Hortons Haus zu sehen und sein Faktotum Bates kennenzulernen. So wurde für Pam ein erklärender Zettel hinterlassen und Mohr mitgenommen.

Es war ein altes Haus, geräumig und schön, mit einem großen Rasenplatz davor und einem Ausblick aufs Meer, das durch die Pohutukawa-Bäume am Ende des Gartens schimmerte. Das heißt, mit Garten konnte man es eigentlich kaum bezeichnen, denn obschon der Rasen gepflegt und gemäht war, wuchs keine einzige Blume darin, was insbesondere auf Pippa, die sich zur Gärtnerin geboren fühlte, einen trostlosen Eindruck machte. Der Doktor war nicht daheim, als sie ankamen, aber Bates begrüßte James treuherzig mit >Herr Major« und führte sie in einen Raum, der früher einmal der Empfangssalon des Hauses gewesen sein mochte. Jetzt wirkte er mehr wie ein Studierzimmer, mit seinem undefinierbaren Geruch nach Leder und Tabak. Alles mutete sauber, sachlich und ungewöhnlich an, aber die Sessel waren bequem, und im Kamin brannte ein einladendes Feuer. Pippa bemerkte, wie Bates sie verstohlen musterte. Wahrscheinlich war sie die einzige Frau, die diese Räume seit vielen Jahren betrat, von Patientinnen natürlich abgesehen. Sie ihrerseits fand den kleinen, untersetzten Mann mit dem fröhlichen Gesicht, der sich offenbar als absoluter Gebieter über das Leben des Doktors betrachtete, auf den ersten Blick sympathisch.

»Ja, Sir, am Sonntag sogar muß er Kranke besuchen. Lächerlich, das sagte ich ihm auch. Die Lungenentzündung soll der Teufel holen. Vermutlich ist’s eher ein Brummschädel, der bis zum Morgen von selbst wieder vergeht. Aber er natürlich sofort auf und davon, und noch dazu ohne was Vernünftiges im Magen.«

Doch es dauerte nicht lange, da hörten sie Dr. Horton eilig durch die Halle kommen. Er blieb verdutzt auf der Schwelle stehen und schaute Pippa mit einem so seltsamen Ausdruck an, daß sie ganz verwirrt wurde. War er überrascht, sie hier zu sehen, oder gar am Ende ein bißchen ärgerlich? Wollte er vielleicht seinen ehemaligen Kameraden für sich allein haben? Gleich darauf rief er Bates zu, etwas zu trinken zu bringen.

»Und bitte Sherry für Miss Knox.«

Aber weshalb hatte er so auf sie gestarrt, wie sie da im Schein des Kaminfeuers saß?

Die beiden Männer waren alsbald in ein angeregtes Gespräch über alte Freunde und vergangene Zeiten vertieft, während Bates sich geflissentlich in der Nähe zu schaffen machte und gelegentlich eine Geschichte mit weiteren Einzelheiten ergänzte. Pippa hockte still daneben, hörte zu und kam sich viel zu jung und gänzlich überflüssig vor.

»Selbstverständlich müssen Sie für heute nacht hierherkommen. Ich frühstücke immer schon um sieben, winters wie sommers. Bates wird jetzt für Abendbrot sorgen, und Sie können dann später, wenn Sie Ihre Kusine heimbringen, Ihre Sachen holen.«

Das Essen, das sehr nach männlichem Geschmack zubereitet war und aus kaltem Roastbeef und Mixed Pickles bestand, schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Wie viele gemeinsame Erinnerungen diese beiden doch hatten und wie amüsiert James erzählen konnte, wenn er seine steife, würdige Amtsmiene ablegte. Pippa sagte wenig und wurde nach einiger Zeit von einem gewaltigen Gähnkrampf befallen, gegen den sie mit aller Macht anzukämpfen versuchte.

Aber der Doktor merkte es, wie ihm ja überhaupt nie etwas entging, und unterbrach seine Erzählung.

»Alte Soldaten sind schwatzhaft. Und egoistisch obendrein, daß sie Sie am Schlafengehen hindern. Bringen Sie Ihre Kusine heim, Maclean, und kommen Sie gleich wieder. Der Abend ist noch lang.«

Als James sie vor ihrer Haustür absetzte, sagte sie ihm mit schwesterlicher Wärme Lebewohl, und er versprach, ihr bald zu schreiben. Fast zum erstenmal behandelte er sie, als stünde sie mit ihm auf gleicher Stufe, sicher ein Zeichen dafür, daß sie langsam alt wurde.

Schon fünf Tage später machte sich Pam reisefertig und kehrte auf Drängen ihres ungeduldigen Bräutigams in die Stadt zurück. In einem Monat sollte geheiratet werden. Pippa brachte sie bis zum Gartentor, und diesmal lungerte kein enttäuschter junger Mann in der Nähe, sondern ein freudestrahlender Mark verstaute das Gepäck im Kofferraum. Pippa verabschiedete sich und ließ sie allein. Jetzt gab es einen Menschen, der größeren Anspruch hatte auf Pam als sie. Nun, das war früher oder später vorauszusehen gewesen, und sie verlor ja Pam nicht dadurch. Im Gegenteil, versicherte sie sich tapfer, besser hätte sie sich’s gar nicht wünschen können.

Am nächsten Tag erschien endlich Margaret zu einem Besuch.

»Ich wäre schon gestern gekommen, wollte aber erst Pam abreisen lassen. Die beiden sind zu komisch! Benehmen sich, als erlebten sie ihre erste stürmische Liebesromanze, und dann besinnen sie sich plötzlich darauf, daß sie eigentlich schrecklich zynisch und blasiert sind. Na ja, Liebe wirkt Wunder — aber man muß jung genug dazu sein.«

»O Margaret, wollen Sie sagen...« Pippa zitterte förmlich vor Angst.

»Nicht, daß Ihre so schön ausgedachte Philemon-und-Baucis-Idylle ins Wasser gefallen ist, liebe Pippa. O ja, ich weiß, Sie haben Pläne für uns geschmiedet. Weshalb sorgen Sie sich soviel um andere, Pippa? Ich bin nur froh, daß ich das nicht tue.«

»Aber James ist Ihnen doch nicht gleichgültig?«

»Nein, merkwürdigerweise nicht. Ein Wahnsinn natürlich, nach zehn Jahren, aber ich glaube, ich habe nie aufgehört, an ihn zu denken. Jetzt wollen wir versuchen, die Scherben wieder aufzulesen. Ob es uns gelingen wird, ist eine zweite Frage.«

»Oh, das macht mich irrsinnig glücklich, Margaret. Der gute James. Stören Sie sich nicht dran, wenn ich anfange zu heulen, nein? James behauptet immer, das sei mein irisches Blut, aber Doktor Horton meint, es käme von den Tränendrüsen... Ich hatte so schreckliche Angst, Sie würden womöglich >vernünftig< sein wollen.«

Margaret lachte.

»Der langen Rede kurzer Sinn — nein, wir wollen uns nicht unbedingt auf Vernunftsgründe versteifen, was ich eigentlich tun müßte, wenn ich das etwas bittere, abgeklärte Geschöpf wäre, das ich so lange Jahre zu sein vorgab. Aber ich möchte leben, Pippa. Ich will endlich auch meinen Anteil am Glück haben.«

»Natürlich, das ist auch nicht mehr als recht und billig. Und James wird mit Ihnen wieder jung werden.«

»Und wenn nicht, dann wollen wir uns wenigstens bemühen, mit Charme gemeinsam alt zu werden. Aber ich sehe es Ihnen an der Nase an, Sie zappeln schon zu erfahren, warum es damals, vor so vielen Jahren, zum Bruch kam.«

»O nein, bestimmt nicht. Ich würde niemals wagen, danach zu fragen.«

»Gott behüte! Aber Ihre Augen fragen schon die ganze Zeit. Ja, da ist wenig zu erzählen. James kam aus dem Krieg zurück, wie Sie ja wissen, obwohl Sie damals wahrscheinlich noch zur Schule gingen. Ich war dreiundzwanzig, lebte in Canterbury, besuchte aber gerade Freunde im Norden, und ich wollte mich amüsieren. So war man damals nach dem Krieg eingestellt, denn wir hatten eine trostlose Zeit hinter uns; das Leben erschien uns so kurz und ungewiß. Ich verlobte mich mit James knapp eine Woche, nachdem ich ihn kennengelernt hatte. Wir waren toll verliebt und ziemlich außer Rand und Band. Das heißt, er blieb immer ein wenig kritisch und nahm alles sehr genau — aber ich war verwöhnt, verspielt und hatte nichts als Dummheiten im Kopf. Es gab fortwährend Streitereien, weil ich mir einbildete, ihm läge nicht genug an mir, denn er sprach nie über seine Gefühle, schon damals nicht. Und so stellte ich mir in meiner Naivität vor, ich müßte ihn eifersüchtig machen, um ihn aus seiner Reserve zu locken. Das führte schließlich zu einem häßlichen Auftritt. Wir sagten uns gegenseitig unverzeihliche Dinge und hatten völlig den Verstand verloren. Es war mein Fehler. Sehen Sie, ich begriff eben noch nicht, daß die Schweigsamkeit und Zurückhaltung, dich ich bei ihm bemängelte, eine völlig normale Erscheinung bei allen heimkehrenden Soldaten war, die draußen die Hölle erlebt hatten. Das hätte ich verstehen müssen.«

»Aber wie soll das eine Frau verstehen? Und Sie waren doch noch sehr jung.«

»Sehr kindisch, sagen wir lieber so. Ich war vollkommen verdreht und dachte, kein Mann könnte mir auf die Dauer widerstehen. Als wir uns trennten, fuhr ich nach Hause in der sicheren Annahme, James würde mir innerhalb einer Woche folgen... Aber er kam nicht.«

»Arme Margaret. Weshalb gaben Sie ihm keine Nachricht?«

»Eher wäre ich gestorben. Ein Jahr lang hoffte ich zwar immer noch, es würde sich wieder einrenken. Dann starb mein Vater, und Mark kam nach Hause. Das Haus in Canterbury war Familienbesitz und wurde verkauft. Wir zogen hierher, und nun glaubte ich erst recht, James würde mich finden, wo ich mehr in seiner Nähe lebte. Es dauerte zehn Jahre...«

»Aber jetzt hat er Sie doch gefunden!«

»Ja, durch Sie... Oh, James würde nicht gern hören, daß ich das sage. Er schärfte mir extra ein, ich dürfe Sie nie auf den Gedanken bringen, daß es Ihr Werk gewesen sei. >Sie kennt weder Maß noch Ziel. Noch ein solcher Erfolg, und sie schlägt sofort wieder über die Stränge. Wo das mal enden soll, wissen die Götter.< James hängt sehr an Ihnen, nicht wahr?«

»Er braucht jemanden, den er gängeln und schurigeln kann. Nein, im Ernst, er ist immer lieb zu mir gewesen, und jetzt hat er mich seine >jüngere Schwester< genannt. Das sagen Männer öfters zu mir, wahrscheinlich soll es ein Kompliment sein.«

Margaret verbiß sich ein Lächeln, bemerkte aber mit schief geneigtem Kopf und belustigtem Augenzwinkern, daß sie es am Ende so meinten. Dann sprach sie von ihren Plänen.

»Für uns kommt keine großaufgezogene Hochzeit in Frage, das überlassen wir Pam und Mark. Wir wollen uns heimlich davonmachen, in eine andere Stadt, wo uns keiner kennt. Es wäre nett, wenn Sie dabeisein könnten, Pippa. Sie sind doch beinah die einzige Verwandte von James.«

Pippa wand sich verzweifelt. Hochzeiten zustande zu bringen, war eine lustige Sache, aber nachher noch an allen teilnehmen müssen, Mohr, Amanda und die Leihbücherei allein lassen, das sah schon etwas anders aus. Sie konnte von Dr. Horton unmöglich verlangen, daß er seine Zeit damit verbrachte, ihre sämtlichen Verpflichtungen zu übernehmen.

»Sie wissen, wie gern ich es täte, aber ich kann nicht zweimal fort, Margaret, und Pam habe ich es zuerst versprochen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?« ,

»Aber natürlich. Dann kommen Sie eben, wenn wir unser Haus haben, und Mohr bringen Sie mit.« Und dabei beließen sie es.

Noch am selben Abend setzte sich Pippa hin, um einen Gratulationsbrief an James zu verfassen. Sie war noch nie eine gewandte Briefschreiberin gewesen, und so brachte sie es nach längerem angestrengtem Nachdenken lediglich auf ganze drei Zeilen. »Ich bin so glücklich. Margaret erzählte es mir heute. Lieber James, es ist auf keinen Fall zu spät. Ihr habt noch so viel Zeit vor euch.« Es war ein kümmerlicher Versuch. Sie zeigte es Dr. Horton, der auf ein paar Minuten hereinschaute, und bat ihn um Hilfe, aber er schüttelte den Kopf.

»Nein, lassen Sie es nur so. Es ist aufrichtig und paßt zu Ihnen.«

»Warum haben die Leute so wenig Vertrauen in ihr Schicksal? Pam zum Beispiel, mit ihrer Angst vor der Langeweile und ihrem Bedauern, nicht mehr frei zu sein. Mark ebenso im geheimen. Und nun James und Margaret, die von »Scherben aufsammeln« sprechen, und daß sie »ihr Bestes« versuchen wollen... Ich muß sagen, es ist alles sehr enttäuschend. Sie sollten von Rechts wegen Freudentänze aufführen.«

Er lachte über ihr betrübtes Gesicht.

»Ich weiß schon, Sie möchten lieber, daß es wie im Märchen endet, nicht wahr? >Und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende.<«

»Ja, ich finde, sie sollten fröhlicher und zufriedener sein. Schließlich habe ich mich nach Kräften bemüht, sie glücklich zu machen.«

»Jetzt kriegen Sie wieder den schwärmerischen Blick von der Pippa, die vorübergeht. >Alles mein Werk.< James würde Ihnen den Kopf tüchtig zurechtsetzen.«

»Nein, von jetzt an tue ich es nur noch für Sie. Sie sind anders.«

Anders. John Horton ging in überaus beschwingter Stimmung nach Hause, wo ihn Bates mit den vorwurfsvollen Worten empfing: »Wieder so spät zurück! Wohin soll das noch führen, möchte ich wissen? Nacht für Nacht. Diese verdammten Kranken denken doch bloß an ihre eigenen Beschwerden. Vergessen ganz, daß Sie auch nicht mehr der Jüngste sind.«

Und Dr. Hortons eben noch so gehobene Lebensgeister sanken mit einem beinah hörbaren Plumps wieder auf den Nullpunkt.