5

 

Einen Monat später, am Nachmittag des vierzehnten Dezember, stand Pippa in ihrem Reich, betrachtete, was sie geschaffen hatte, und atmete tief auf.

Die Leihbibliothek war fertig. Alle Mängel, alle Einsparungen und provisorischen Lösungen waren auf die beiden hinteren Zimmer beschränkt, in denen sie wohnte. Diese ebenfalls instand zu setzen, hatte die Zeit nicht gereicht, aber das war in den letzten Wochen auch ziemlich unwichtig gewesen, weil sie eigentlich mehr gehaust als gewohnt hatte. Anfangs konnte sie nur notdürftig das Schlafzimmer säubern und lüften, sich ein Feldbett aufschlagen und dort auch ihre Mahlzeiten einnehmen. Erst nach Beendigung der Arbeiten in dem großen Raum hatte sie sich, wenn auch nur oberflächlich, ihr eigenes Quartier einigermaßen herrichten können. Jetzt durfte man es zumindest als erträglich ansehen.

War es wirklich erst einen Monat her, seit sie mit ihrer Erbschaft im Geldbeutel und in dem bis unters Verdeck mit Farbtöpfen und Tapeten vollgestopften Balduin nach Rangimarie zurückgekehrt war? Sechzehn Stunden hatte sie während der folgenden vier Wochen Tag für Tag gearbeitet, um das Haus zu säubern und zu renovieren, aber es hatte sich gelohnt.

Und alle Leute waren so unbeschreiblich nett gewesen. Alec hatte jede Minute, die er sich bei seinen Kühen abknapsen konnte, geopfert, um ihr zu helfen, zweimal war er sogar mit drei Freunden angerückt. Eine regelrechte freiwillige Arbeitskolonne hatte sich gebildet, der unter anderen der Ortspolizist angehörte sowie ein junger Mann, der den >Gemeindeanzeiger< schrieb, druckte, herausgab und austrug. Das war die wöchentlich erscheinende Zeitung, von jedermann verächtlich >Käseblatt< tituliert, aber dessenungeachtet von allen eifrig gekauft und getreulich Wort für Wort verschlungen. Dieser Ein-Mann-Betrieb hielt seinen Initiator von Montag bis Freitag, dem Erscheinungstag, ununterbrochen in Atem, aber Samstag und Sonntag gehörten ihm, und mehr als einmal verzichtete er auf sein Wochenende, um bei Pippa mit anzupacken. »Ich habe Ihnen auch einen prächtigen Einführungsartikel in der Zeitung geschrieben, das nützt Ihnen bestimmt«, sagte er stolz.

Die Männer hatten auch ihre Frauen mitgebracht, mit denen sich Pippa samt und sonders gut verstand. Sie befand sich damit in heftigem Widerspruch zu Kittys abfälliger Kritik, merkte aber bald, daß diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Kitty war stets zuverlässig und pünktlich zur verabredeten Arbeitszeit erschienen und hatte sich erstaunlich praktisch und einfallsreich gezeigt, trotzdem waren alle ihre Bemühungen auf kalte Abwehr gestoßen, und Pippa hörte einmal eine Frau verächtlich sagen: »Schade, daß sie diese Energie nicht auf ihren eigenen Haushalt verwendet und ihren Mann ein bißchen unterstützt, anstatt hinter jedem Hosenbein herzulaufen, das sie von weitem sieht.« Darauf hatte die andere geantwortet: »Aber Alec verwöhnt sie ja auch fürchterlich. Er hat dauernd Angst, er könnte sie verlieren, und sie hält es für unter ihrer Würde, sich die zarten Fingerchen im Kuhstall schmutzig zu machen.«

Aber Pippa hatte ihre ersten Bekannten von Rangimarie ins Herz geschlossen und war überrascht, mit welch vernünftigen Vorschlägen Kitty ankam, wobei sie eine gewisse überlegene Miene aufsetzte und ihren Satz unweigerlich mit den Worten begann: »Ich finde immer, Pippa...«

Auf diese Weise hatte sie für Handwerker wenig ausgegeben. Die Männer, die die schmutzige Tapete abrissen, neue anklebten, die Hausfront anstrichen und sich der vernachlässigten Installation annahmen, versicherten ihr immer wieder, daß sie gern mit Hand anlegten. Die Milchfarmer, von denen die meisten seit fünf Uhr früh auf den Beinen waren und hinterher noch in ihren Ställen zu tun hatten, erklärten, nichts sei so erholsam wie eine Abwechslung in der Arbeit, und lehnten strikt jede Bezahlung ab. Ein paar junge Burschen aus dem Dorf, die ihre Freizeit geopfert hatten, wurden von Pippa natürlich entlohnt, aber im großen und ganzen war sie erstaunt und fast beschämt, wie billig sie davongekommen war.

Dennoch stiegen die Ausgaben bedrohlich an, und sie verbrachte einen Abend mit sorgenvollem Hin- und Herkalkulieren, wie weit sich ihr geringes Kapital noch würde hinstrecken lassen. Doch gerade in dem Moment, als sie feststellte, daß sie nun keine Farbe mehr kaufen konnte, und das Haus sich vorerst mit einem dekorativen Frontanstrich und schäbiger Kehrseite begnügen mußte, traf aus heiterem Himmel ein Brief ein. Er kam von James, enthielt einige nüchtern kühle Zeilen und einen Scheck über hundert Pfund mit der lakonischen Bemerkung, es handele sich um die Rückerstattung einer alten, längst überfälligen Schuld.

Als er diesen Scheck ausschrieb, hatte der Rechtsanwalt, jeglicher Lüge aus tiefster Seele abhold, sein Gewissen mit der Überlegung beruhigt: >Ja, das stimmt auch. Ich schulde ihr sehr viel, obgleich es mir erst jetzt richtig zum Bewußtsein kommt.<

Diese hundert Pfund bedeuteten für Pippa die Rettung, denn nun konnte sie an die Anschaffung von Bücherregalen denken, eine Frage, die ihr schon Kopfzerbrechen verursacht hatte. Alec riet ihr: »Wenden Sie sich damit an Freddy, der weiß mit so was Bescheid. Ich sage ihm, er soll sich bei Ihnen melden.«

Zwei Tage später erschien Freddy, seines Zeichens Spediteur und Rollkutscher des Ortes, der dreimal in der Woche nach der entfernten Eisenbahnstation fuhr, um Frachtgüter abzuholen. An den übrigen Tagen betätigte er sich reihum als Handwerker und wurde besonders gern zu Arbeiten geholt, bei denen es auf saubere, gründliche Ausführung ankam.

»Glauben Sie, Sie könnten mir solche Bücherregale aufstellen? Kommen Sie rein und sehen Sie sich’s mal an.«

Sie führte immer alle Leute herein, stolz wie ein kleines Mädchen, das seine neue Puppenstube zeigt.

»Dunnerlittchen — prima!« staunte Freddy mit weitoffenen blauen Augen und kratzte sich halb verlegen, halb begeistert am Hinterkopf. »Ganz prima, alle Achtung.«

Pippa mochte ihn vom ersten Moment an. Er war groß und tapsig, mit treuherzigem, ehrlichem Gesicht.

»Bücherregale, hm? Wissen Sie was, ich guck’ mich mal in der Sägemühle um, wenn ich wieder hinkomme, und suche ‘n paar gute, billige Bretter ‘raus, die man dafür nehmen kann.«

»Das wäre großartig. Und Sie könnten sie auch zusammennageln?«

»Warum nicht? Das baue ich Ihnen mal schnell nach Feierabend hin.«

»Würde das sehr viel kosten?«

»Kosten, hm? Also mit der Sägemühle, das mache ich schon, da kennen sie mich gut... Und für die Arbeit? Ja — wären Ihnen fünf Schilling die Stunde zuviel?«

Pippa, die mit zehn gerechnet hatte, atmete auf und willigte dankbar ein. Also zimmerte ihr Freddy an mehreren Abenden in seiner Freizeit die Gestelle zusammen, aber als sie ihn am Ende bezahlen wollte, grinste er unbeholfen und sagte: »Hören Sie, wie wär’s denn mit ‘ner kleinen Gegenleistung, ich meine, eine Hand wäscht die andere. Der große Schuppen da hinten im Garten — Sie wissen doch, welchen ich meine?«

Und ob sie das wußte! Hinter dem Verschlag in der einen Ecke pflegte sie zu baden, und in dem übrigen Riesenraum stand, klein und verloren, Balduin.

»Ja, ich dachte, wenn Sie mir vielleicht erlaubten, daß ich da meine Frachtkisten lagere oder den alten Lastwagen unterstelle? Nicht immer, nur wenn’s bei mir zu eng wird. Das war’ mir viel wert.«

»Na gut. Ich brauche sowieso nicht den ganzen Platz.«

»Vielen Dank auch. Dafür berechne ich Ihnen nur drei Schilling statt fünf pro Stunde und komme immer mal vorbei, falls Sie irgendeinen Wunsch haben, ein Brett annageln oder was an Ihrem kleinen Wagen reparieren und so. Das ist doch ‘n guter Tausch, nicht?«

Das fand Pippa allerdings auch. Und nun konnte sie mit Hilfe des wundertätigen Schecks den kommenden Ausgaben in Ruhe entgegensehen. Wenn sie alles bezahlte, blieb ihr immer noch genug, um notfalls ein paar flaue Wochen zu überstehen, bis die Leihbücherei richtig in Schwung kam, rechnete sie sich aus.

»Und außerdem habe ich ja noch wöchentlich die fünfzehn Schilling, die James mir von Vater schickt. Davon kann ich gut leben. Bei solcher Hitze kann man sowieso nicht soviel essen.«

Eine der größten Annehmlichkeiten, die sie nicht vorzufinden erwartet hatte, war das elektrische Licht. Das Dorf versorgte sich selbst mit Strom, eine Vergünstigung, die, wenn man Sam West glauben wollte, ebenfalls seiner Initiative als Vorsitzender des Bezirksrates zu danken war.

Seine Frau, die ihr einen Antrittsbesuch machte und zum Einstand sechs frischgelegte Eier mitbrachte, war ein stilles, zerknittertes Wesen, zaghaft und nervös. Pippa, die sich zu ihr hingezogen fühlte, spürte sofort, daß sie unter der Knute ihres tyrannischen Eheherrn stand. Mrs. West beichtete ihr mit schuldbewußtem Blick, daß sie für ihr Leben gern läse. Keine Kurzgeschichten, sondern richtige Bücher. Am liebsten Abenteuerromane und Reisebeschreibungen.

>Meine erste Erfahrung in puncto Publikumsgeschmack<, dachte Pippa, als sie die Tür wieder hinter ihrer Besucherin schloß. >Man soll sich nicht einbilden, von vornherein darauf tippen zu können, was die Leute lesen wollen. Wenn ich zum Beispiel für dieses scheue, sanfte Frauchen ein passendes Buch hätte aussuchen müssen, wäre meine Wahl höchstwahrscheinlich auf sentimentale Liebesgeschichten gefallen. Dabei liest sie womöglich mit großem Interesse ,Die Besteigung des Mount Everest’ und ,Sieben Jahre in Tibet’.<

Eines Abends, als sie vom Postamt zurückkam, hielt sie ein hochgewachsener, stattlicher Mann auf der Straße an.

»Guten Tag«, grüßte er ziemlich steif. »Ich hatte immer die Absicht, bei Ihnen vorbeizukommen und meine Hilfe anzubieten, aber das Schicksal war offensichtlich dagegen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier?«

»Ja, sehr, vielen Dank. Die Menschen sind rührend. Aber — ich glaube nicht, daß wir uns — «

Er lächelte, und mit einem Mal verschwand der etwas düstere Ausdruck völlig von seinem Gesicht.

»Verzeihung. Sie wissen ja nicht, wer ich bin. Man gewöhnt sich so daran, überall bekannt zu sein, daß man nicht mehr überlegt... Ich bin der Dorfarzt, Horton. Mein Bibliotheksabonnement in der Stadt läuft nächsten Monat ab, und ich erneuere es nicht mehr — im Vertrauen auf Sie.«

»Vielen Dank. Ich hoffe nur, Sie finden bei mir die Art Bücher, die Sie gern mögen.«

»Ach, ich lese alles — bloß keine Ärzteromane.« Damit nickte er ihr freundlich zu und stakste mit langen Schritten davon.

Natürlich wußte sie bereits sehr viel über ihn. Er hatte blutjung den Krieg mitgemacht, war unverheiratet und wohnte in der Nähe des Krankenhauses, betreut von einem älteren Mann, der im Feld sein Bursche gewesen war. Man erzählte, daß er dem Doktor anhänglich treu ergeben sei und sein Haus tadellos in Schuß halte, bis auf gelegentliche Saufperioden, während derer sie dann die Rollen tauschten und der Doktor ihn betreute.

So weit, so gut. Die Dorfbewohner hatten Pippa freundlich aufgenommen, aber wie würden sich nun die Sommergäste verhalten? Allmählich begannen sie einzutrudeln. Wenn sie am Strand entlangging, sah sie schon hier und da an den Häusern weitgeöffnete Fenster, Frauen, die im Garten Teppiche ausklopften, und Schilder an den Fremdenpensionen, die verkündeten, daß für die nächsten sechs Wochen alles bis unters Dach belegt sei. Pippa konnte nur hoffen, daß sich die erholungssuchenden Gäste, nachdem sie den ganzen Tag über dem Spiel in Sonne und Wasser gefrönt hatten, abends gern bei einem interessanten Buch ausruhen würden.

Sie summte eine ihrer unbekümmert falschen Melodien vor sich hin, während sie mit dem Staubtuch über die ohnehin fleckenlos sauberen Bücherreihen wedelte. Der Schreibtisch ihrer Mutter hatte unter dem Fenster Platz gefunden, und daneben stand das von Freddy aufgeschlagene Regal für die zurückgebrachten Bücher. Ein großer Kasten mit blütenweißen Leserkarten stand bereit, ein Löscher, ein Datumsstempel und ein zweiter mit der Aufschrift >Das Bücherparadies<. Über die Frage, wie man die Bibliothek taufen solle, war es unter ihren Helfern zu einer eifrigen Debatte gekommen.

»Die >Bunte Bücherecke< wäre doch hübsch«, flötete Kitty.

»Fad«, brummte Alec, der sich über den harmlosen Flirt seiner Frau mit dem Käseblatt-Redakteur geärgert hatte. »Vielleicht einfach >Das neue Buch<?«

»Aber die Bücher sind ja nicht alle neu, die meisten nicht«, wandte Pippa, ehrlich wie sie war, ein.

»Das ist doch egal. Die Lese-Klubs nennen sich immer so, auch wenn sie im ganzen Jahr nur zehn Bücher neu anschaffen.«

»Bibliothek zur Blauen Bucht«, schlug Mrs. Foster, die nette Frau des Kolonialwarenhändlers, vor, aber ihr Mann grunzte nur verächtlich, er könne keine blaue Bucht sehen, nur die Billarddiele und den Metzgerladen.

Das Für und Wider wurde immer heftiger, bis Pippa endlich den Schlußpunkt dahinter setzte, indem sie sagte: »Nennen wir es doch >Das Bücherparadies<«, und baß erstaunt war, daß kaum einer von ihnen die schöne Bedeutung des Maori-Namens Rangimarie kannte.

Und morgen sollte Freddy kommen, um das prachtvoll gemalte Schild anzunageln, das so teuer gewesen war. Es würde an dem frischgestrichenen, ausgebesserten Zaun befestigt werden, hinter dem Pippa jetzt jungen Rasen gesät hatte, den sie jeden Abend mit ungeheurer Mühe begoß. Dann wollte sie ihre Tür weit öffnen und der Kunden harren, die nach der »ungewöhnlich großen Auswahl moderner Neuerscheinungen« Schlange stehen würden, wie der >Gemeindeanzeiger< hochtönend angepriesen hatte. Zum Dank dafür war Pippa hingegangen und hatte eine kleine Annonce auf gegeben, die lautete:

 

DAS BÜCHERPARADIES. LEKTÜRE FÜR JEDEN GESCHMACK.

Ausgabe: Montag mit Donnerstag von 10-16 Uhr

Freitag von 14-17 und 19-21 Uhr.

 

>Und zu jeder möglichen und unmöglichen Tages- und Nachtzeit, wenn’s Ihnen Spaß macht, und vorausgesetzt, Sie bringen Geld mit<, fügte sie im stillen hinzu.

Sie steckte sich eine Zigarette an und schlenderte in den winzigen Vorgarten hinaus. Da stand sie, schnupperte den Duft der Blumen ein und träumte von Zukunft und Erfolg, als plötzlich ein großer Wagen auftauchte, der ihr seltsam bekannt vorkam. Er hielt vor ihrem Zaun, und zu ihrem maßlosen Erstaunen erblickte sie James Maclean, der sich mit leichtem Naserümpfen umsah. Aus dem rückwärtigen Fenster starrte ein riesiger schwarzer Hund mit traurigen Augen furchtsam in diese ihm völlig fremde Welt.

»Nanu — James! Wo kommst du denn her? Was für eine großartige Überraschung! Wessen Hund ist das? Was tust du hier?«

Er stieg bedächtig aus und entgegnete gelassen auf ihre überstürzten Fragen: »Ich mußte heute morgen wegen eines Falles herauffahren, und da es bis zu dir nur noch fünfzig Kilometer weiter waren, habe ich mich kurz entschlossen, die Zeit daran zu wenden und mich mal mit eigenen Augen zu überzeugen... Du siehst mager aus, und rauchen tust du auch immer noch, trotz aller Ermahnungen.«

Sie überhörte seinen vorwurfsvollen Ton und drängte ungeduldig: »Na, und wie findest du es?«

»Ein armseliges kleines Nest. Stumpfsinnig. Selbstverständlich kann noch etwas daraus werden, wenn die Zivilisation mal bis hierher vordringt, aber ich glaube, die paar großen Badeorte werden dabei den Vogel abschießen. Hier ist nicht viel Aussicht.«

Das klang wenig ermutigend. »Ach, hör auf mit deiner Miesmacherei«, erwiderte sie böse. »Dieser Teil wirkt natürlich trist wie alle kleinen Dörfer. Aber warte nur, bis du den Strand gesehen hast. O James, die Leute hier sind so rührend nett zu mir gewesen. Du hast keine Ahnung, wie sie mir geholfen haben. Und ich bin sicher, daß sie alle kommen werden. Bestimmt, das glaube ich.«

Sie sah ihn ängstlich an, bemüht, ihn zu überzeugen, denn sein Erscheinen flößte ihr plötzlich wieder heimliche Zweifel ein. Weshalb nur? Alle hatten ihr Mut gemacht, sie in ihrem Entschluß bestärkt, aber von James, diesem notorischen Schwarzseher, konnte man ja keinen Optimismus erwarten. Das war gänzlich hoffnungslos bei ihm. Mit tapferer Stimme fuhr sie fort: »Komm herein und schau es dir selbst an. Sieh nur die vielen Bücher. Ist das nicht eine Unmenge? Und sie wirken so prächtig und kostbar, gar nicht wie Leihbücher.«

»Das wird nicht lange dauern, wart’s nur ab, wenn erst alle ihre dreckigen Finger daran abwischen.« Aber dann merkte er, wie ihre fröhliche Zuversicht schwand, und er fügte mit einem Blick auf ihr enttäuschtes Gesicht weicher hinzu: »Das Zimmer ist sehr hübsch. Du mußt ja ungeheuerlich geschuftet haben in den paar Wochen. Bist ganz am Ende und viel zu dünn. Ja, wirklich recht ansprechend, solange man nicht aus dem Fenster sieht.«

Sie faßte sich schnell wieder und lachte. »Vorsicht, James, du warst eben beinah nett. Komm und guck dir mein Wohnzimmer an. Es ist zwar bescheiden, aber Mutters Möbel haben viel zu seiner Verschönerung beigetragen.«

Sie hatte recht. Der Raum, der hinten an die Bibliothek angrenzte, war freundlich mit seinen einfach gestrichenen Wänden, aber die Möbel gaben den Ausschlag, die Sessel mit den geschweiften Lehnen, der kleine Mahagonitisch, das niedrige Sofa und der Perserteppich aus Paulines Schlafzimmer. Auch die Vorhänge waren von ihr, der Kaminhocker und die vier guten Aquarelle, an die sich James noch genau erinnerte. Damals, als Pauline die Bilder kaufte, hatten sie ihm nicht gefallen, er fand sie zu avantgardistisch, wie all dieses moderne Zeug. Aber jetzt, zehn Jahre später, wirkten sie beinahe veraltet und überraschend anheimelnd.

»Ja, die Sachen sind gut, sie machen das Zimmer gemütlich. Aber es müßte ein Fenster mehr sein. So, und dies ist deine Küche. O ja, für eine kleine Person wie dich genügt sie vollkommen. Und sogar elektrisches Licht hast du hier, immerhin ein großer Vorteil.«

Er war richtig wohlwollend, und in Pippa erwachte ein warmes Gefühl der Zuneigung für ihn. Schließlich war er so ziemlich der einzige Verwandte, den sie noch hatte, und er war extra die fünfzig Kilometer weitergefahren, bloß um sie zu sehen. Ihr Haus gefiel ihm offensichtlich, sie spürte seine freudige Überraschung und Erleichterung, die sich hinter der Kritik verbarg, und so gab auch sie ihre Verteidigungsstellung auf und zeigte sich als charmante Gastgeberin.

»Du hast eine lange Fahrt hinter dir. Wir wollen Tee trinken.«

Sie hatte so eine drollig nette hausfrauliche Art, fand James, der ihr mit Anerkennung zusah, wie sie dünne Scheiben Brot schnitt, mit Butter bestrich und die elektrische Platte einschaltete.

»Bis es kocht, kannst du noch schnell den Rest bewundern, mein Schlafzimmer und den Garten — und vor allen Dingen die Aussicht.«

Auch das Schlafzimmer war durch die einfachen, schönen Möbel ihrer Mutter sehr vorteilhaft ausstaffiert worden, das breite Doppelbett, die Truhe und den dicken Teppich. James grunzte beifällig und drückte sogar unverhohlene Genugtuung beim Anblick des weitläufigen Gartens aus.

»Könnte man glatt zwei daraus machen. Und einen Extraeingang hat er auch. Wem gehört denn der Lastwagen?«

Sie erzählte ihm von Freddy und dem kleinen »Handel auf Gegenseitigkeit«, was ihn sofort veranlaßte, sie zu warnen. Sie solle sich lieber die Leute erst genau ansehen, ehe sie ihnen so voreilig Tür und Tor öffne. Den Badeverschlag zeigte sie ihm nicht, sondern deutete nur mit großzügiger Handbewegung die Richtung zum Schuppen an. Für seine Verschönerung hatte nämlich das Geld nicht mehr gereicht. Sie war der Wanne zuerst mit Scheuerlappen und Bürste und dann mit Emaillefarbe zu Leibe gerückt, und Alec hatte alles neu getüncht, aber es gab immer noch keine Tür, und zwischen den Brettern klafften peinliche Risse. Pippa hing immer einen Vorhang vor die Öffnung und ein Laken an die Wand und verließ sich im übrigen auf ihr Glück. Es war eigentlich sogar ganz originell und komisch, aber dafür hatte James natürlich keinen Sinn.

Trotz ihrer aufmunternden Einladung und obwohl sie ihm vorführte, wie man sich auf einen Ast hinaufschwingt, weigerte er sich entschieden, seinen tadellos sitzenden Anzug in Gefahr zu bringen, und versicherte, er glaube ihren Schilderungen über die schöne Aussicht aufs Wort. Sie gingen den Weg zum Haus zurück, als Pippa plötzlich betroffen aufhorchte. Ein dumpfes, unendlich trauriges Geheul ertönte von der Straße her.

»Der Hund — ! Das arme Tier ist unglücklich. Wem gehört er?«

James erwiderte mit unbewegter Miene: »Dir. Ich habe ihn für dich gekauft. Da du dich nun einmal zu dieser absonderlichen Lebensweise entschlossen hast, halte ich es für dringend erforderlich, daß du wenigstens einen guten Wachhund besitzt.«

Pippa war vollkommen sprachlos. Ein eigener Hund, und noch dazu von James, der sich sonst kaum jemals an ihren Geburtstag erinnerte! Ein lebendiger Gefährte, ein Wesen, zu dem man reden und das man streicheln konnte! Sie war nahe am Heulen.

James merkte es. Er streifte sie mit einem hastigen Seitenblick und sprach energisch weiter: »Diese Neufundländer sind besonders scharfe Wächter und machen kein langes Federlesen mit Eindringlingen. Der Mann, von dem ich ihn bekam, garantierte mir, daß er ausgezeichnet dressiert sei und aufs Wort gehorche. Du brauchst nur zu rufen >Nieder<, und er folgt, oder >Faß ihn<, wenn du von irgendeinem Taugenichts belästigt wirst. Er hat ihn aus Liebhaberei selbst ausgebildet und sagt, er sei überdurchschnittlich intelligent.«

Pippa schluckte ein paarmal und fand ihre Stimme wieder. »Oh, wie herrlich! Ein Hund, der mir ganz allein gehört! Ich — ich bin dir — «

»Laß gut sein«, wehrte James brüsk ab. »Was ist eigentlich mit deinem Teetopf? Vermutlich inzwischen explodiert.«

Sie stürzte ins Haus, rettete den Kessel im letzten Augenblick, trank hastig einen Schluck Wasser und lief wieder hinaus.

»Ich danke dir viel — vielmals, James. Ein eigenes Haus kam mir schon wie ein Wunder vor, und jetzt noch ein Hund... Weißt du, ich habe noch nie ein Tier für mich gehabt, nicht mal ein Kätzchen. Erst war ich immer im Internat und dann in einer Stadtwohnung, wo man keins halten darf. Ich kann’s gar nicht fassen.«

»Er ist ein Jahr alt. Einen Welpen hätte ich dir nicht gebracht«, sagte James trocken. »Der wäre für dich ja ohne praktischen Nutzen. Außerdem würdest du ihn verwöhnen — von Erziehung und Dressur gar nicht zu reden. Der Mann hätte sich nie von ihm getrennt, wenn er nicht nach England versetzt worden wäre. Er hing sehr an ihm. Aus mir scheint sich der Hund nichts zu machen, aber ich bilde mir auch nicht ein, etwas von Hunden zu verstehen. Du mußt dich natürlich erst mit ihm anfreunden. Er war nun die lange Fahrt über im Wagen eingesperrt und wird ziemlich zappelig sein.«

Pippa trat näher und staunte ihren neuen Besitz an. Der Hund schaute mit ebenso großen Augen zurück, ergeben und geduldig, aber ohne jedes Interesse. Seine Gedanken waren weit fort bei seinem Herrn, der ihn auf so unerklärliche Weise im Stich gelassen hatte. Pippas Herz strömte über von Mitleid.

»Übrigens, das da hinten auf dem Gepäckhalter ist seine Hütte. Der Mann meinte, ich sollte sie lieber mitnehmen, er würde sich dann besser eingewöhnen. Ich werde gleich durch den Torweg hineinfahren und sie in den Garten bringen. Aber hole ihn erst heraus und halte vor allen Dingen die Leine fest. Diese Neufundländer finden über weite Entfernungen den Weg zurück. Er heißt Mohr. Ich gebe dir nachher seinen Stammbaum.« Pippa fiel von einem Erstaunen ins andere. Eine Hundehütte auf James’ Autogepäckhalter, der sonst nicht einmal durch etwas so Leichtes wie einen Obstkorb entheiligt werden durfte! Sie wickelte sich die Leine um die Finger und versuchte, Mohr aus dem Wagen zu locken.

Aber als sie ihn beim Namen rief, sah er sie nur teilnahmslos an, ohne zu reagieren, und es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als ihn mit sanfter Gewalt herauszuziehen. Wenigstens knurrte er sie nicht an. Sie streichelte ihn, und er duldete es, wenn auch ohne Begeisterung, und als sie ihn mit innerem Widerstreben an der Hundehütte festband, die James inzwischen aufgestellt hatte, blieb er davor sitzen und starrte über ihren Kopf hinweg mit einem Ausdruck grenzenloser Trauer in die Ferne.

James hatte wirklich an alles gedacht. Sogar ein dickes Fleischpaket brachte er aus den Tiefen seines Wagens zum Vorschein. »Ich wußte nicht, wie es hier mit Metzgern bestellt ist, deshalb besorgte ich das gleich unterwegs. Hoffentlich belastet er dich finanziell nicht allzusehr.« Pippa ergriff ungestüm seinen Arm. »Als ob ich mich darum scheren würde! Ach, James, es tut wohl, dich zu sehen. Du bist für mich wie ein Bruder, der plötzlich auftaucht.«

»Ziemlich alter Bruder, fürchte ich«, brummte er verlegen.

Sie lächelte ihn glücklich an, in Gedanken nur mit dem Hund beschäftigt. »Aber Brüder sind doch meistens alt.« Wieder eine ihrer spontanen Behauptungen, die ihn so irritierten. Und als sie ihm unbefangen anbot, das Feldbett für ihn im Wohnzimmer aufzuschlagen, lehnte er ziemlich steif ab. »Ausgeschlossen. Bitte, denke daran, daß du hier allein in einem kleinen Dorf lebst und alles vermeiden mußt, was Anlaß zu Gerede geben könnte.«

Pippa lachte laut vor Vergnügen. Das war wieder typisch für James.

Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt jemals jung gewesen war. In den acht Jahren, die sie ihn näher kannte, hatte er sich nicht im geringsten verändert.

»Außerdem muß ich bereits in einer Stunde wieder aufbrechen«, bemerkte er. »Ich habe mir unterwegs für die Rückfahrt ein Hotelzimmer bestellt, damit ich morgen rechtzeitig um zehn Uhr im Büro sein kann.«

Dann müßten sie die kurze Zeit aber gründlich ausnützen, drängte Pippa. Er sollte mit ihr zum Strand hinunterfahren, um alles kennenzulernen, sie wollen den Hund mitnehmen und mit ihm einen Spaziergang machen. »Paß nur auf, wenn du erst die vielen Sommervillen und die großen Parkplätze siehst, dann wirst du auch überzeugt sein, daß man hier ein Vermögen verdienen kann.«

»Derartig leichtfertige Behauptungen würde ich nie aufstellen«, entgegnete er abweisend, willigte aber doch in ihren Vorschlag ein, im stillen überrascht, wie froh er war, sie wiederzusehen, und wie erleichtert, sie in besserer Umgebung und Verfassung anzutreffen, als er gefürchtet hatte.

Der Hund ließ sich folgsam auf der Decke nieder, die James für ihn auf dem Rücksitz ausgebreitet hatte, zeigte aber keinerlei Anteilnahme an den Dingen, die um ihn herum geschahen. Die seltsamen und schrecklichen Ereignisse, die während der letzten Stunden über ihn hereingebrochen waren, hatten seine Gefühle abgestumpft. Nur ein einziger Instinkt beherrschte ihn noch, der Drang zur Flucht. >Er ist weit weg, aber ich finde ihn wieder<, sagten seine Augen.

James konnte nicht umhin, den Strand zu bewundern. »Offenbar wohlhabende Leute, die von so weit herkommen, um hier ihre Ferien zu verleben. Sehr hübsches Fleckchen, das muß ich zugeben. Merkwürdig, daß bisher noch keiner auf die Idee einer Leihbücherei gekommen ist. Wenn kein Haken bei der Sache ist und du vernünftig und geschäftstüchtig bist — ich sage, >wenn< — dann sehe ich keinen Grund, weshalb dein Abenteuer fehlschlagen sollte.«

Pippa mußte wieder lachen. »Guter James, du bist immer so wahnsinnig überschwenglich. Aber zu deiner Beruhigung — ich habe bereits den Segen der Honoratioren empfangen, vom Vorsitzenden des Gemeinderates — einem widerlichen Ekel übrigens — und vom Dorfarzt. Ach, was ich dich noch fragen wollte, er war im Krieg, und vielleicht kennst du ihn. Sein Name ist Horton?«

»Horton? Ich erinnere mich an einen jungen Militärarzt, der so hieß. Hatte gerade erst promoviert, als er zu uns kam, gegen Ende des Afrikafeldzuges. War ebenso lange dabei wie ich, durch ganz Italien. Feiner Bursche. Wurde mit dem Military Cross ausgezeichnet und verdiente es auch, was man nicht von allen behaupten kann. Wie sieht er denn aus?«

»Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen und kann nicht viel sagen. Groß und ein bißchen feierlich, ist aber wie ausgewechselt, wenn er lacht. Irgend jemand erwähnte mal, er hieße mit Vornamen John.«

»Das könnte er sein. Ich wunderte mich schon, daß man nichts mehr von ihm hörte. War nämlich ein sehr tüchtiger Kerl und schien das Zeug zu einer außergewöhnlichen Karriere zu haben. Aber weshalb sollte er sich hier in diesem trübseligen Nest vergraben halten?«

»Gar kein trübseliges Nest! Und vielleicht zieht er das Landleben vor.«

»Na ja, eigenbrötlerisch war er immer ein wenig. Kann auch sein, daß irgend etwas dazwischengekommen ist. Ein tragisches Erlebnis womöglich oder dergleichen. Ich hätte ihn gern mal besucht, aber die Zeit reicht nicht dazu.«

»Ein tragisches Erlebnis?« Pippa stürzte sich auf diese Andeutung wie ein Hund auf frische Fährte. »Der arme Mensch. Am Ende ist er einsam und sehnt sich nach jemanden, mit dem er sich aussprechen kann.«

Doch schon erhob James warnend die Stimme: »Ich gebe dir den guten Rat, dich nicht in anderer Leute Angelegenheit zu mischen. Nein, versuche keine Ausflüchte. Ich kenne diesen überspannten Ausdruck in deinen Augen. Um Himmels willen keinen weltverbessernden Unfug, ich bitte dich. Du wirst dir nichts als Scherereien zuziehen, und ich kann nicht jedesmal durch ganz Neuseeland angerast kommen, wenn du dich wieder in die Nesseln gesetzt hast.«

»Sei doch nicht so aufgeblasen. Ich gerate schon nicht in die Nesseln, und wenn, dann würde ich bestimmt nicht heulend zu dir rennen und dich anflehen, mich wieder rauszuholen.«

Darin mußte er ihr recht geben, sie hatte sich nie beklagt oder bei ihm um Hilfe gebettelt, trotzdem ließ er nicht locker: »Und schlag dir die fixe Idee aus dem Kopf, du seist so etwas wie eine Reinkarnation dieses albernen kleinen Müllermädchens. Lieber Gott, wenn Browning geahnt hätte, was er mit seinem verschrobenen Gedicht angestellt hat! Er kannte dich eben nicht.«

Sie lachte und vergaß augenblicklich ihren Ärger, denn mittlerweile waren sie wieder in der Nähe des Hauses angelangt, und sie bat ihn zu halten, weil dieser Platz ihr geeignet schien, einen kleinen Dauerlauf mit Mohr zu machen. Diesmal folgte er ihr williger aus dem Wagen, begann aber sofort heftig an der Leine zu ziehen und entwickelte so erstaunliche Kräfte, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mitzerren zu lassen, bis sie schließlich anfing, mit ihm zu sprechen und ihm gut zuzureden. Da gab er seinen Fluchtversuch allmählich auf und trottete gehorsam, wenn auch mißvergnügt, hinter ihr her.

James zeigte keine Lust, sich ihnen anzuschließen. Er war müde von der morgendlichen Gerichtsverhandlung und von der langen Fahrt. Im allgemeinen rauchte er höchst selten, aber jetzt zündete er sich eine Zigarette an, blieb sitzen und sah Pippa nach. Sie war doch ein attraktives kleines Geschöpf. Sicherlich würde sie sich hier schnell beliebt machen, bei Männern sowohl wie bei Frauen. Sie gab sich so einfach und natürlich und nahm sich selbst so wenig wichtig. Womöglich fand sie einen passenden Mann unter den ansässigen Farmern. Es wäre ja doch das beste und wünschenswerteste für sie, zu heiraten.

Jeden, nur nicht ihn — James Maclean. Er spürte kein Verlangen nach einem derartigen Wagnis. Einmal, vor langer Zeit, hatte er sich die Finger verbrannt. Und was Pippa anbetraf, so wäre er, erst recht nach diesem verrückten Einfall neulich — James hätte das Wort >ritterlich< empört zurückgewiesen —, gerade nach diesem übereilten und völlig wahnwitzigen Antrag, überglücklich, sie unter der Haube zu sehen. Er würde sie dem betreffenden Unglücksraben mit Freuden geben und dabei kaum mehr als einen ganz leisen Anflug brüderlichen Bedauerns empfinden.