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E
s ist kalt und regnerisch, und ich muss die Tür festhalten, die der Wind mir aus der Hand zu reißen droht. Als ich drinnen meinen Schirm gegen die Wand lehne, schießt mir durch den Kopf, dass ich ihn wohl vergessen werde. Ich lächle bei der Erinnerung daran, wie Robert und ich uns kennengelernt haben – durch einen liegengebliebenen Schirm. Dann blicke ich mich im Café um, weil ich wissen will, ob sie schon da ist.
Zwischen den Köpfen der zahlreichen Gäste reckt sich ein Arm in die Höhe. Er gehört Louisa, die mich mit einem breiten Grinsen begrüßt.
»Toll, dass du einen Tisch ergattert hast.« Ich ziehe den Mantel aus und hänge ihn über meine Stuhllehne. »Wird hier am Tisch serviert?«
Sie nickt und winkt der jungen Kellnerin, die gleich darauf neben uns steht und meine Bestellung aufnimmt.
»Wie ist es gelaufen?« Louisas grüne Augen unter den grau geschminkten Lidern blitzen erwartungsfroh.
»O Mann«, antworte ich. »Wo soll ich da anfangen?« Ich lasse sie ein bisschen schmoren und trinke erst einmal einen Schluck Kaffee.
Sie wartet.
»Schau mal.« Ich ziehe ein kleines Album mit etwa einem Dutzend Fotos aus meiner Handtasche und reiche es ihr. Ausgiebig betrachtet Louisa jedes Bild, registriert jedes Detail. Genauso, wie ich es hundertmal am Tag tue.
»Sie hat deine Augen«, sagt Louisa. »Und deine Nase auch und den Mund und –«
»Sie ist einfach wunderschön«, falle ich ihr ins Wort. Ich weiß, wie eingebildet das klingt.
»Hast du es ihr gesagt?«
Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und schlage die Beine übereinander.
»Ich habe gar nicht mit ihr gesprochen.«
»Hat ja auch keine Eile«, sagt Louisa.
Stimmt. Das hat jetzt keine Eile mehr.
Es dauerte mehrere Monate, bis wieder Normalität eingekehrt war. Wenn man allerdings nie Normalität erlebt hat, kann man eigentlich gar nicht genau wissen, ob sie herrscht oder nicht.
Robert traf jedenfalls eine wichtige berufliche Entscheidung. Er spezialisierte sich auf Kinderrechte und trat von nun an unermüdlich für Minderjährige ein, die sonst keinen Fürsprecher hatten. Alles habe mit zwei Kindern, Alice und Joe Bowman, begonnen, sagte er. Er half ihnen, sich von ihren Eltern zu lösen, die in Dauerfehde miteinander lagen. Zurzeit befinden sich die Kinder, glaube ich, in einer Pflegefamilie, bis sie sich entschieden haben, wo sie leben wollen. Rob sagt, sie lernen gerade, dass Glück auch etwas mit Verzeihen zu tun hat. Das lernt er selbst wohl auch im Moment.
Ein weiterer Grund für Robs berufliche Neuorientierung war meine Geschichte. Das behauptete er wenigstens eines Abends im Bett, etwa eine Woche, nachdem Ruby und ich von Brighton zurückgekommen waren. Die Situation war noch immer ein wenig heikel, daher fassten wir einander mit Samthandschuhen an. Robert musste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass mein Onkel mich als Kind missbraucht hatte und dass Ruby aus dieser Beziehung hervorgegangen war. Aber vielleicht hatte es ja auch sein Gutes, sagte ich zu ihm. So musste er wenigstens nicht mit einem leiblichen Vater wetteifern, den Ruby womöglich angehimmelt hätte. Ich sagte Robert nie, dass unsere Tochter keineswegs das Ergebnis von Gustaws Übergriffen war.
»Wir werden darüber hinwegkommen«, sagte er und strich mir mit der Hand über den Bauch – wie ein Künstler, der einen Werkstoff begutachtet. »Wenn ich daran denke, wie schlecht ich mich während deiner Abwesenheit gefühlt habe, bin ich da ganz sicher.«
»Aber gleichzeitig waren deine Gefühle an meiner Abwesenheit schuld.« Ich drehte mich auf die Seite, sodass seine Hand auf meiner Hüfte ruhte. Er sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Du reitest schlimmer auf der Wahrheit herum als jeder Anwalt.« Ich musste wegschauen. Es gab eine Wahrheit, die er nie erfahren würde. »Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, eine Barriere zwischen mir und den anderen Menschen zu errichten«, fuhr ich fort. »Das war mir schon zur zweiten Natur geworden, bis du kamst und die Schranke niedergerissen hast.« Hoffentlich verstand er, was ich damit sagen wollte. »Stell dir vor, wie jemand das Pflaster von einer Wunde abreißt und nicht nur ein wenig mit dem Finger an das rohe Fleisch tippt, bis der andere zusammenzuckt, sondern richtig zupackt und die Fingernägel hineingräbt.«
Robert stieß einen erschrockenen Laut aus. »Und so etwas habe ich dir angetan?«
Ich nickte. »Die Wunde war immer da, doch nie zuvor hat jemand darin herumgestochert.« Jetzt hatte er begriffen. Ich sah es daran, wie sich seine Augen verengten und dunkler wurden, während er seinen Blick über meinen Körper wandern ließ.
»Aber jetzt kann diese Wunde doch endgültig heilen, nicht wahr?«, fragte er.
Um nicht antworten zu müssen, rollte ich mich auf meinen Mann und lenkte ihn auf die einzige Art und Weise ab, die mir einfiel. Er drang in mich ein – als könnte er so die Antwort auf seine Frage finden und dann in einen geruhsamen Schlaf hinübergleiten.
Wir bestellen Panini mit Mozzarella, Basilikum, Rauke und einem Pestodressing, das mir beim Hineinbeißen über die Finger läuft. Louisa lacht.
»Wisch dir mal das Kinn ab«, sagt sie und lächelt, als ihr das gleiche Missgeschick passiert. »Ist Rubys Geburtsurkunde angekommen?«
»Ja, endlich«, antworte ich. »Das schmeckt gut!« Ich lecke mir über die Lippen, bevor ich weiterrede. »Die Urkunde kam vor ein paar Wochen. Robert hat sich um den ganzen Papierkram gekümmert.« Bei dem Gedanken, wie erleichtert ich war, als ich endlich das Dokument in der Hand hielt, muss ich seufzen. Dann zeigte ich es Ruby, als Beweis dafür, dass sie nun auch offiziell auf der Welt war. Lächelnd umschlang sie meine Taille und legte den Kopf an meine Schulter. Sie wird einmal sehr groß werden.
»Und die Adoption?«
»Das Verfahren läuft. Theoretisch benötigen wir die Einwilligung von Rubys leiblichem Vater, dass Robert sie adoptieren darf.« Während ich den Rest von meinem Panini auf den Teller lege, frage ich mich, was uns eigentlich das Recht gibt, Ruby zu behalten. Als ich sie damals in dem Schrank fand, glaubte ich wirklich, sie sei mein krankes Baby. Ich könnte verrückt werden, wenn ich mir ausmale, wie ihre richtige Mutter verzweifelt im ganzen Land nach ihr gesucht hat. Doch im Grunde meines Herzens weiß ich, dass Ruby einfach zurückgelassen wurde, so wie Becco mein erstes Kind einfach beseitigt hat. »Aber da sich mein Onkel an mir verging, seit ich vier war, und er jetzt sowieso tot ist, steht seine Erlaubnis gar nicht zur Debatte«, setze ich hinzu und zwinge mich zu einem Lächeln.
Ich habe mich daran gewöhnt, mit Louisa über all das zu sprechen. Sie ist der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit kennt. Langsam schaffe ich es auch, offener mit meiner Therapeutin zu reden, doch wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde, bestünde die Gefahr, dass man mir Ruby wegnimmt. Andererseits hätte ich ohne diese Therapie die vergangenen Wochen nicht überstanden. Und unsere Ehe hätte auch nicht gehalten. »Und wie ist es mit dir?«, frage ich. »Bleibst du noch ein bisschen hier?«
»Ja, mit Willem«, erwidert sie und beißt herzhaft in ihr Brot.
In jener Woche geschah eine Menge. Zunächst einmal bekam ich einen Preis für »Floristik taufrisch«. Schon komisch, wenn man bedenkt, dass ich gar nicht bei einem Wettbewerb mitgemacht hatte. Später stellte sich heraus, dass Baxter mich für einen landesweiten Floristenwettbewerb angemeldet hatte, bei dem mein Laden dann für die originellste Schaufensterauslage prämiert wurde. Mein Bild war sogar in der Zeitung. Diesmal habe ich den Ausschnitt aufbewahrt.
Dann, eines Morgens, als der Herbst allmählich in den Winter überging und der Himmel sich wie eine eisige Glocke über der Stadt wölbte, winkte ich gerade der fröstelnden Ruby zum Abschied, als die Post gebracht wurde. Zusammen mit der Gasrechnung und einem Schreiben von der Bank kamen meine ärztlichen Unterlagen.
Aus ihnen erfuhr ich, dass ich ein bemerkenswert gesundes Kind gewesen war. Doch dann, als ich fünfzehn war, brachen die Berichte auf einmal ab. Der letzte Untersuchungsbefund unseres Hausarztes stammt von dem Tag, als Mutter mit mir zu Dr. Brigson ging, weil ich so dick geworden war. Wenn ich zurückdenke, glaube ich, dass ich damals schon Bescheid wusste. Und Dr. Brigson offensichtlich auch.
Deutlich erkennbare Narben und lokale Traumata im Vaginalbereich … Kind eindeutig verstört und nicht bereit/ in der Lage, über die Schwangerschaft zu sprechen … möglicherweise Vergewaltigung/ Missbrauch? Sozialamt verständigen …
Während ich die Notizen überflog, wurde mir klar, dass ich Sehnsucht nach meinen Eltern hatte, wie ein Kind, das sich nach Geborgenheit und Anerkennung sehnt. Geborgenheit werde ich bei ihnen nicht mehr finden, dafür ist es zu spät – wahrscheinlich muss ich mich bald eher um sie kümmern –, doch ich möchte ihnen zeigen, dass ich überlebt habe und was aus mir geworden ist. Ich will sie fragen, warum sie mein Baby zur Adoption freigeben wollten, warum sie mir nicht zutrauten, eine gute Mutter zu sein, und warum sie nie mitbekommen hatten, was Onkel Gustaw mir antat.
Ich will, dass sie mich sehen und wieder als ihre Tochter annehmen. Nachdem ich mir das eingestanden hatte, nahm ich mir fest vor, in absehbarer Zeit einmal zu dem tristen Haus zu fahren, in dem ich mein Kind zur Welt gebracht habe. Ich versprach mir, wieder nach Hause zu gehen.
Das Sozialamt erfuhr nie etwas von dem Missbrauch. Dennoch hatten diese ausführlichen ärztlichen Unterlagen einen enormen Wert für mich. Sie waren der Beweis dafür, dass ich damals mit einem einzelnen Kind schwanger war und der errechnete Geburtstermin in der ersten Januarwoche 1992 lag. Was anschließend mit mir geschah, interessierte den obersten Standesbeamten nicht weiter. Um eine – wenn auch verspätete – Geburtsurkunde ausstellen zu lassen, benötigte er nur diese Angaben, die ich jetzt vorlegen konnte. Dank Louisa.
Zwei Tage nach meiner Rückkehr aus Brighton rief ich sie an. Robert und ich kamen wieder besser miteinander aus, dennoch musste ich unbedingt mit ihr reden. Mir war klar, dass sie wusste, dass ich die E-Mail von James Hammond manipuliert hatte, und ich wollte sichergehen, dass dieses Wissen bei ihr gut aufgehoben war. Nie wieder wollte ich Gefahr laufen, Robert zu verlieren. Und außerdem wollte ich Louisa alles erklären.
»Na hör mal«, sagte sie, »schließlich bin ich Detektivin. Da weiß ich auch, wann ich aufhören muss zu wühlen.« Anscheinend war es der Anblick von Ruby, Robert und mir, als wir eng umschlungen dastanden wie die Teile eines Puzzles, bei dem ihr plötzlich einiges klar wurde. »Es interessiert mich nicht, wer Ruby ist«, sagte sie. »Wichtig ist nur, was aus ihr werden kann.«
Über ihre Gefühle für Robert sprach sie nicht. Das war auch nicht nötig.
Also beauftragten Robert und ich Louisa damit, meine Arztberichte aufzutreiben. Mit dem, was damals zwischen mir und Onkel Gustaw geschehen war, fand sich Robert schließlich ab – er hatte im Laufe seines Arbeitslebens weiß Gott oft genug mit Fällen von Kindesmissbrauch zu tun gehabt – und er versucht auch so gut es geht, zu akzeptieren, wie mein Leben dann weiter verlief. Und ich gehe mittlerweile zu einer Therapeutin. Einmal die Woche, immer mittwochs.
Und schließlich, ohne dass ich Robert etwas davon sagte, bat ich Louisa herauszufinden, was aus Ruby geworden ist. Meiner ersten Ruby.
»Lass mich noch mal sehen«, bittet sie. Ich schiebe ihr das Album über den Tisch, wobei ich aufpasse, dass kein Dressing darankommt.
»Mir war schon ein bisschen komisch dabei, heimlich ein junges Mädchen zu fotografieren«, sage ich und recke den Hals, um auch noch einen Blick auf die Bilder zu werfen. »Hier kommt sie gerade mit ihren Freunden aus dem Kino. Wir haben uns Oliver Twist angesehen …«
»Wir?«
»Ich saß hinter ihr, sah zu, wie sie Popcorn aß, und belauschte ihre Gespräche.« In Wahrheit bin ich ihr so nahe auf die Pelle gerückt, dass es ein Wunder ist, dass sie nicht die Polizei gerufen hat.
Ich habe mich auf den ersten Blick in meine Tochter – meine leibliche Tochter – verliebt. Sie ist noch viel außergewöhnlicher, als ich gehofft hatte. Wie eine Löwin unter Katzen, eine schlanke Jacht, umringt von Ruderbooten, eine Orchidee in einer Wiese voller Gänseblümchen, ein Rubin in einer Schale mit Glasperlen.
»Wirst du’s Robert erzählen?«
»Was, dass ich mein Baby verloren habe?«
»Du hast damals nicht nur dein Baby verloren, Erin, sondern auch den Verstand.« Mit einer abrupten Bewegung schlägt Louisa das Album zu. »Jemand hat dir dein Kind gestohlen und es einfach weggeworfen.«
Sie rief mich im Laden an, ganz atemlos vor Aufregung. Knisternd drang ihre Stimme durch die Leitung. »Ich habe sie gefunden!«, sagte Louisa, und ich wunderte mich, wie einfach es gewesen war. »Sie lebt in London.« Der Schock war so groß, dass ich mich hinter dem Ladentisch setzen musste. Die ganze Zeit über war sie nur einen Katzensprung entfernt gewesen.
Als wir uns das erste Mal in dem Café trafen, brachte Louisa die Zeitungsausschnitte mit. Es war damals wirklich die Nachricht des Tages gewesen, diese rührende Geschichte über das Baby im Müll. Ich hatte nur nichts davon mitbekommen, weil ich weder Zeitungen las noch Fernsehen schaute. Ich hatte zu viel damit zu tun, Geld für mein krankes Kind zu verdienen.
»Nach deinem Bericht war mir klar, dass es in der Zeitung gestanden haben musste, falls man dein Baby gefunden hatte.« Louisa strich sich eine feuerrote Strähne hinters Ohr.
»Sie haben mir erzählt, es sei krank«, sagte ich noch einmal, damit Louisa nicht auf die Idee kam, ich selbst hätte mein Kind beiseitegeschafft. »Und dass ich sie wiederbekommen würde, sobald es ihr besser ging.« Aber warum rechtfertigte ich mich eigentlich? Ich war damals doch selbst noch ein Kind. »Sie haben behauptet, Ruby sei im Krankenhaus, und ich habe ihnen geglaubt.«
5. Januar 1992
Neujahrsbaby auf den Müll geworfen
Gestern Nachmittag wurde in einer Mülltonne ein wenige Tage altes Mädchen gefunden. Ein Passant, der ungenannt bleiben möchte, hörte gegen drei Uhr das Baby schreien und rief die Polizei.
Die Krankenschwestern gaben dem Kind, das zurzeit im St. Thomas Krankenhaus ärztlich betreut wird, den Namen Felicity, da es nach den Worten der Oberschwester »trotz seines Fehlstarts ins Leben ein fröhliches kleines Wesen« sei. Ein Sprecher der Polizei äußerte sich wie folgt zu dem Vorfall: »Wir haben die gesamte Umgebung des Fundortes abgesucht, können aber bislang keine Informationen an die Öffentlichkeit geben. Wir sind sehr besorgt um das Wohlergehen der Mutter und bitten sie dringend, sich zu melden.«
Felicity, dachte ich, während ich vor ihrem Haus auf sie wartete. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, und ich hatte Robert gesagt, ich wolle zu einer Fachmesse. Er versprach, sich um Ruby zu kümmern, während ich mich in Wahrheit daranmachte, dem Baby vom Müll nachzuspionieren.
Das Haus, in dem Felicity wohnte, war hübsch und lag in einer gutbürgerlichen Gegend mit Bäumen und sauber gestutzten Hecken. Es war weiß gestrichen, mit unechten Fachwerkbalken, die sich kreuz und quer über die Fassade zogen, und wurde zu Weihnachten bestimmt mit jeder Menge Lichterketten geschmückt. Ein Volvo Kombi stand in der Einfahrt, und um Punkt zehn nach acht kam Felicitys Mutter aus dem Haus. Sie trug einen Stapel Schulbücher und rief etwas über ihre Schulter, um das Mädchen zur Eile anzutreiben.
Mit ihrer ordentlichen Bob-Frisur und den vernünftigen Laufschuhen wirkte sie mütterlicher als ich.
Dann kam Felicity heraus. Sie hatte ihre Schulkrawatte schief gebunden und trug eine schwarze Hose, deren Saum auf dem Boden schleifte. Sie sah aus wie jedes andere junge Mädchen auch – nur dass sie eben mein Mädchen war. Nachdem sie in aller Seelenruhe in den Volvo gestiegen war, brauste ihre Mutter mit ihr davon.
Ich ließ den Wagen an und folgte ihnen dichtauf. Eine Viertelstunde später hielten wir vor der Schule und Felicity stieg aus, ohne ihrer Mutter einen Abschiedskuss zu geben.
Ich habe dich zum Abschied auch nicht küssen können.
An diesem Tag sah ich sie noch dreimal. Als es um halb elf zur Pause klingelte, marschierte sie an der Spitze einer Gruppe von fünf Mädchen über den Schulhof zu einem anderen Gebäude. Sie war die Größte, die Hübscheste und auch die Beliebteste, nach der Art und Weise zu urteilen, wie die anderen ihr wie eine Eskorte folgten. Nichts an ihr erinnerte an Onkel Gustaw. Ihr blondes Haar flatterte im kalten Wind.
Zieh deinen Mantel an, junge Dame.
Um die Mittagszeit schlenderten Felicity und ein anderes Mädchen zu der Imbissbude ein Stück die Straße hinunter. Ich stieg aus, um mir auch eine Portion schön fettige Pommes zu genehmigen. An die Wand gelehnt aß ich sie, während Felicity und ihre Freundin auf einer Bank saßen und sich Fisch und Pommes teilten. Ich konnte nicht alles verstehen, was sie sagten, aber sie lästerten über irgendwelche Jungen, bis sie sich vor Lachen krümmten und Cola durch die Nase prusteten.
Mir wurde ganz warm ums Herz. Felicity war glücklich.
Um halb vier sah ich sie noch einmal, als sie am Straßenrand auf ihre Mutter wartete. Ich war froh, dass Felicity abgeholt wurde und nicht, wie so viele andere Kinder, mit dem Schulbus fahren musste. Nachdem sie ihre Schultasche auf den Rücksitz geschleudert hatte, gab sie ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Ich blieb stehen und sah dem Wagen nach, bis er in der Ferne verschwand. Das nächste Mal würde ich einen Fotoapparat mitbringen.
»Die Yorks sprachen ganz offen darüber. Sie nahmen sogar an einer Talkshow teil, in der es um die Frage ging, ob man ein Baby adoptieren sollte, dessen Herkunft man nicht kennt. Darauf käme es doch gar nicht an, sagten sie damals. Viel wichtiger sei es, mit der Zeit eine liebevolle Beziehung zu dem Kind aufzubauen.«
»Tatsächlich?« Das klingt ja gut, denke ich und sage mir im Stillen den Namen meines Kindes vor: Felicity York. Hört sich nett an und passt gut zu ihr. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie sie in der Mülltonne liegt und später von einer anderen Frau in den Arm genommen wird. »Louisa«, sage ich, »du wirst doch Robert ganz bestimmt nichts davon erzählen, nicht wahr?« Das ist eher eine rhetorische Frage.
Sie schaut mich groß an. »Natürlich nicht«, sagt sie ernsthaft und wischt sich einen Krümel vom Mund. »Warum sollte ich ihm wehtun wollen? Oder dir und Ruby?«
Ich glaube ihr. Wir essen unsere tropfenden Panini auf, schwatzen noch ein bisschen über den Krach der Espressomaschine hinweg und sehen zu, wie die silberglänzenden Regentropfen an den Scheiben hinabrinnen. Dann ist es Zeit für mich, nach Hause zu gehen.
Gerade muss Robert an der Playstation eine gewaltige Schlappe von Ruby einstecken. Wie ein verletzter Käfer lässt er sich stöhnend auf den Rücken fallen und legt zum Zeichen der Kapitulation seinen Joystick weg.
»Ha! Ich bin einfach unschlagbar!«, ruft Ruby und kitzelt Robert mit den Zehen in den Rippen. Er schnappt sich ihren Fuß und kitzelt sie ebenfalls. Vor lauter Toberei hören sie mich gar nicht hereinkommen. Ich gehe in die Küche und packe die Lebensmittel aus, die ich auf dem Rückweg von meinem Treffen mit Louisa eingekauft habe.
Ob Robert wohl irgendwie spürt, dass ich mit ihr zusammen war? Riecht er ihr Parfum, das mich umgibt, hört er ihre Worte in meinen Ohren, ahnt ihren leichten Abschiedskuss auf meiner Wange? Sicherheitshalber gehe ich mir die Hände waschen.
»Huch, hast du mich aber erschreckt!« Ich fahre zusammen, weil Robert plötzlich hinter mir steht und mir die Arme um die Mitte legt.
»Na, mein Dickerchen, wie geht’s dir?«
»Nimm dich in Acht«, antworte ich. »Sollen wir etwas kochen oder essen gehen?« Robert braucht keine Sekunde, um zu entscheiden, dass er lieber ausgehen möchte.
»Aber leg dich doch vorher noch ein bisschen hin oder nimm ein Bad!« Er massiert mir sanft den Bauch. Demnächst wird er ihm noch klassische Musik vorspielen.
»Leistest du mir dabei Gesellschaft?« Er versteht, was ich meine, und folgt mir nach oben. Ruby sitzt inzwischen am Klavier. Ob Felicity wohl auch ein Instrument spielt?
»Schaust du das bitte noch mal durch?« Robert deutet auf eine gepackte Tasche auf dem Treppenabsatz.
»Sie ist so aufgeregt, dass sie gestern schon gepackt hat, obwohl die Klassenfahrt erst in einer Woche beginnt«, sage ich. Robert führt mich in der Hand ins Schlafzimmer und legt mich aufs Bett. Die Wäsche riecht nach Weichspüler. Als Robert leise die Tür schließt, muss ich lächeln.
»Was ist?«, fragt er und zieht sich das Hemd über den Kopf, ohne es aufzuknöpfen.
»Nichts«, antworte ich und denke dabei: Wie gut, dass meine drei Kinder in Sicherheit sind. Ruby, Felicity und das Baby, das mit atemberaubendem Tempo in meinem Bauch heranwächst.