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obert zuliebe sagte Louisa ihre Konferenz in Birmingham ab. Bei dem kurzen Telefongespräch, das Robert von der belebten Promenade in Brighton aus mit ihr geführt hatte, hatte er ihr in kühlem Ton und ohne auf Einzelheiten einzugehen mitgeteilt, dass er sie als private Detektivin engagieren wollte. Da wusste sie, dass es um weit mehr ging als um ein vages Misstrauen seiner Frau gegenüber. Das Verhängnis nahm wieder einmal seinen Lauf.

Robert wartete am Bahnhof Euston auf Louisa. Er hielt eine halb volle Kaffeetasse in der Hand und sah aus, als hätte er seit zwei Tagen weder geschlafen noch sich gewaschen. Wären da nicht die Designer-Sonnenbrille und die Schlüssel für den Mercedes gewesen, mit denen er nervös herumspielte, hätte man ihn für einen Obdachlosen halten können.

Mit langen Schritten bahnte sich Louisa einen Weg durch die Menge bis zu Robert. »Also«, sagte sie in ihrem gewohnt munteren Ton, »da bin ich.«

Während ihrer kurzen Umarmung schien das geräuschvolle Treiben um sie herum zu verstummen. Es versetzte Robert einen kleinen Stich, ihr üppiges Haar, das ihr lose auf die Schultern fiel, an seiner Wange zu spüren. Sie duftete nach Himbeeren.

»Ja, da bist du.« Mit einem leisen Lachen wandte sich Robert ab und strich sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. Er war bestimmt ein schöner Anblick für Louisa! »Mein Wagen steht unten. Gehen wir?«

Da er keine Lust hatte, ihr die Geschichte mitten im Getümmel ins Ohr zu schreien, wollte Robert einen ruhigen Platz finden, wo sie ungestört miteinander reden konnten. Als sie in den Mercedes stiegen, nahm Louisa einen Chiffonschal vom Beifahrersitz.

»Erins?«

Robert nickte. Er erwartete beinahe, dass Louisa an dem Schal schnupperte, so als könne der Geruch ihr bei ihren Ermittlungen helfen. Wenn sie denn überhaupt bereit war, den Auftrag zu übernehmen. Robert überlegte krampfhaft, wie er ihr die ganze Sache beibringen sollte, damit sie nicht auf die Idee kam, alles würde wieder genau so anfangen wie bei Jenna.

»Ich war mir nicht sicher, ob du jemals wieder mit mir reden würdest.« Als Robert den Wagen aus der Tiefgarage lenkte, setzten sie beide ihre Sonnenbrillen auf.

»Ich hätte es auch beinahe nicht getan«, erwiderte sie und berührte ganz leicht seine Hand, die auf dem Schalthebel lag.

In der Weinbar, die gerade erst geöffnet hatte, war es dunkel und kühl. Sie sagten der Kellnerin, dass sie nichts essen wollten, nahmen auf einer lederbezogenen Sitzbank im hinteren Teil des Lokals Platz und bestellten sich je ein Glas Weißwein der Hausmarke. Über ihnen summte die Klimaanlage.

»Ich weiß, was du denkst, aber damit hast du unrecht.« Robert stellte sein Glas auf den Tisch und legte die Unterarme auf seine Knie. Louisa saß neben ihm, die schlanken Beine übereinandergeschlagen. Ihre kurze Leinenhose war ein wenig hochgerutscht und ließ die glatten Knie sehen.

»Aber du wirst zugeben, dass du ein außergewöhnlich misstrauischer Mensch bist, Robert.«

»Habe ich bei Jenna vielleicht nicht recht gehabt?«

»Diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter war kein Beweis.« Louisas Seufzen ging im Brummen der Klimaanlage unter.

»Es war zumindest ein Beweis dafür, dass sie sich ohne mein Wissen mit einem Mann traf, oder?«

»Weiß Erin, dass wir beide hier sind?«

»Natürlich nicht.«

Louisa machte eine Handbewegung, als wolle sie sagen: Siehst du? Dann griff sie nach ihrem Glas. »Dann könnte sie doch auch behaupten, du hättest eine Affäre mit mir.«

»Der Unterschied dabei ist, dass wir beide eben keine Affäre haben.« Er verstummte kurz, als ein anderer Gast auf dem Weg zu den Toiletten an ihrem Tisch vorüberging. »Aber was hat das damit zu tun, dass du einen Job für mich übernehmen sollst? Wirst du nun für mich arbeiten oder nicht?« Um sich zu beruhigen, trank Robert einen großen Schluck Wein.

»Wie in alten Zeiten, was?« Louisa lachte. »Aber ich habe das Gefühl, dass es diesmal nicht darum geht, Unterlagen zu finden oder einen Vermissten aufzuspüren.«

Robert hatte ihr noch nichts von seinem Gespräch mit Baxter King erzählt. Er hatte am Telefon nur gesagt, dass er sie brauche und dringend mit ihr reden müsse.

»Doch, in gewisser Weise sollst du eine vermisste Person ausfindig machen. Jemanden, den ich mal kannte. Das dachte ich zumindest«, fügte er hinzu. »Rubys Geburtsurkunde ist nirgends aufzutreiben und …«

»Ja, ich weiß, Robert. Das hast du mir schon erzählt. In diesen Fällen wende ich mich immer an eine Agentur, die landesweit nach solchen Unterlagen forscht, auch wenn man nur wenige Anhaltspunkte hat. Ich nehme an, du hast einfach beim falschen Standesamt nachgefragt. Was gibt es sonst noch für ein Problem?«

»Es geht um Erin.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie war nicht ehrlich zu mir. Und Rubys neue Schule hat schon ein paar Mal angerufen und nach ihren Anmeldeunterlagen gefragt. Erin hat sich überhaupt noch nicht darum gekümmert.«

»Du hast doch selbst gesagt, dass sie nicht davon begeistert war, Ruby auf diese Schule zu schicken.«

»Doch, anfangs war sie durchaus dafür«, antwortete Robert mit einem kleinen verwunderten Lachen. »Sie war es ursprünglich sogar, die sich die Prospekte schicken ließ und einen Termin mit der Direktorin vereinbart hat. Erst als es um die Formalitäten ging, machte sie auf einmal einen Rückzieher. Und wenn man die Fahrt nach Wien nur erwähnt, ist es so …«

»Als würde man gegen eine Mauer rennen.«

Robert bemerkte, wie Louisas schlichter goldener Ehering im Lampenlicht glänzte. »Genau«, sagte er.

»Die arme Frau hat wahrscheinlich mit ihrem Geschäft und dem Alltag mit ihrer Tochter so viel um die Ohren, dass sie die Formalitäten einfach vergessen hat.«

»Deswegen habe ich ja Tanya gebeten, sich um Rubys Pass zu kümmern. Aber sie kann nichts ausrichten, weil es eben keine Geburtsurkunde gibt.«

»Rob, wenn ich dir diese Urkunde besorge, ist es dann gut? Gibst du dann Ruhe?« Louisa legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Gestern um diese Zeit hätte ich noch ja gesagt und mich davon überzeugen lassen, dass Erin die Geburtsurkunde verloren und nie die Zeit gefunden hat, eine neue ausstellen zu lassen. Oder dass sie eine übermäßig besorgte Mutter ist, die Ruby einfach nicht allein nach Wien fahren lassen will. Damit hätte ich umgehen können.« Als Robert nach seinem Weinglas griff, ließ Louisa den Arm sinken. Die Stelle auf seiner Schulter, wo ihre Hand gelegen hatte, fühlte sich auf einmal ganz kalt an. »Aber nach dem, was ich gestern erfahren habe, weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«

Louisa winkte die Kellnerin herbei und im Handumdrehen stand eine ganze Flasche Wein auf dem Tisch. »Am besten, du erzählst mir alles«, sagte Louisa seufzend, öffnete ihre Ledermappe und nahm einen silbernen Stift heraus.

»Ohne Kommentare? Ohne Unterbrechungen deinerseits?«

Louisa nickte, strich sich das Haar hinter die Ohren und nahm unwillkürlich den Stift zwischen die Lippen.

»Wie ich schon sagte«, begann Robert, »bin ich gestern nach Brighton gefahren. Ich war auf der Suche nach einem Mann namens Baxter King, der sich seit ein paar Jahren mit Erin Briefe und E-Mails schreibt. Das habe ich herausgefunden, als ich in Erins Büro nach einer Kopie von Rubys Geburtsurkunde suchte. Ruby hat mir gezeigt, wo ihre Mutter solche Papiere aufbewahrt. Aber ich fand nicht viel – außer Erins abgelaufenem Reisepass und eben diesen Briefen von Baxter King.

Aus ihnen konnte ich entnehmen, dass er der Inhaber eines Ladens in Brighton namens ›King’s Blumen‹ ist. Die Briefe wirkten an manchen Stellen ziemlich verfänglich. Es ging darum, wie sehr er sie liebt und vermisst und dass sie schon mal das Bett für ihn machen soll. Also fuhr ich zu ihm.«

»O Rob«, flüsterte Louisa, doch er hörte es nicht.

»Wie auch immer, es stellte sich heraus, dass King kein Verhältnis mit Erin hat.« Kleine Lachfältchen bildeten sich in Roberts Augenwinkeln, und seine Stimme klang leicht amüsiert. »Er ist nämlich schwul.«

»Siehst du, es gibt immer eine Erklärung …«

»Das Beste hast du ja noch gar nicht gehört. Erin hat ein paar Jahre bei King und seinem Partner – der offenbar bei einem Brand umgekommen ist – gewohnt, und vorher lebte sie in London. King hat sie damals beim Stehlen erwischt. Doch als er ihre traurige Geschichte hörte, bekam er Mitleid und nahm sie und Ruby unter seine Fittiche. Sie waren eine glückliche, wenn auch etwas ungewöhnliche Familie.«

»Und was weiter?«, fragte Louisa, die sich ein paar kurze Notizen gemacht hatte. Robert trank sein Glas aus, schenkte sich gleich noch eines ein und leerte auch das zügig.

»Es stellte sich weiterhin heraus«, fuhr er fort, »dass Erin vor ihrer Karriere als Blumendiebin für ihren Lebensunterhalt die Beine breit gemacht hat.«

Rasch stürzte er sein drittes Glas hinunter, lehnte sich gegen das weiche Polster und streckte die Arme links und rechts auf dem Rand der Rückenlehne aus. Dann legte er einen Fußknöchel auf das andere Knie und schaute Louisa von der Seite an. Er wartete auf ihre Reaktion, darauf, dass sie sagen würde, es sei alles ein Irrtum oder pure Einbildung.

Doch sie sagte gar nichts, sondern saß nur steif da, den Silberstift in der Hand. Die einzigen Geräusche waren das leise Surren über ihren Köpfen und das Stimmengemurmel der übrigen Gäste. Schließlich fügte Robert hinzu: »Meine Frau war eine Prostituierte, Louisa. Eine Nutte. Eine Hure. Ein Callgirl.«

Robert nahm Louisas schockierten Gesichtsausdruck wahr. Er selbst fühlte sich dagegen schon ein wenig besser, weil er ihr sein Herz ausgeschüttet hatte.

»O Mann!«, sagte sie nach einer Weile. »Das ist aber eine schwere Anschuldigung. Glaubst du wirklich, dass es stimmt?« Sie griff nach ihrem Weinglas.

Robert zuckte die Achseln. »Wenn ich jetzt ja sage, wirst du behaupten, ich wäre paranoid. Sage ich nein, was wohl jeder vernünftige Mensch täte, der seine Ehe retten will, werde ich mich immer fragen, ob sie mir sonst noch etwas verheimlicht.«

»Vielleicht verheimlicht sie dir ja gar nichts.«

»Siehst du? Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Robert fuhr sich mit den Fingern durch seine ohnehin schon verstrubbelte Frisur, mit der er wie ein alternder Rockstar aussah.

»Gut. Nehmen wir mal an, Erin hat ihren Lebensunterhalt wirklich als Prostituierte verdient. Als alleinerziehende Mutter mit einem kleinen Kind blieb ihr möglicherweise nichts anderes übrig.«

Plötzlich wünschte Robert, er hätte Erin zehn Jahre früher kennengelernt oder sogar noch vor Rubys Geburt. Dann hätte er sie retten und Rubys richtiger Vater werden können. »Willst du damit etwa sagen, dass alle jungen Mütter Prostituierte werden sollten, um ihre Kinder ernähren zu können?«

»Natürlich nicht, Rob. Aber vielleicht hatte Erin wirklich keine Wahl. Und anscheinend hat sie dieses Leben ja irgendwann aufgegeben. Und hat sich stattdessen aufs Stehlen verlegt.«

Robert blickte nachdenklich drein. Offensichtlich erwog er diese Möglichkeit. Doch dann verzog er auf einmal schmerzlich das Gesicht. »Und was ist mit Ruby?«, fragte er, als müsste Louisa auf alles eine Antwort haben. »Glaubst du, sie weiß, womit ihre Mutter ihr Geld verdient hat?«

In diesem Augenblick klingelte Louisas Handy. Mit einem ungehaltenen Kopfschütteln zog sie es aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display und schaltete das Gerät einfach aus. Es gefiel Robert, dass sie ihn für wichtiger hielt als den Anrufer. »Wer weiß? Es kommt darauf an, wie alt das Kind damals war.«

»King sagt, Ruby war erst ungefähr drei, als Erin nach Brighton kam. Damals konnte die Kleine es wohl noch nicht verstehen, aber irgendwas hat sie bestimmt mitbekommen. Mein Gott, wahrscheinlich hielt sie sich sogar im selben Haus auf!« Robert wurde blass, als ihm noch etwas anderes einfiel. Offensichtlich hatte Louisa den gleichen Gedanken, denn sie sagte: »Denk nicht daran, Rob. Schließlich kann Ruby doch nichts dafür, oder? Jetzt ist sie deine Tochter, und ihr Vater, wer immer er sein mag, weiß bestimmt gar nicht, dass es sie gibt.«

»Richtig, er hat seine fünfzig Piepen auf den Tisch gelegt und dafür bekommen, was er wollte. Und hat nebenbei Ruby gezeugt.« Auf Roberts gequältes Stöhnen hin drehten sich mehrere Gäste zu ihnen um. Er beugte sich vornüber und legte den Kopf zwischen die Knie. Ihm war schlecht. Wie sollte er jemals wieder seine Stieftochter ansehen, ohne daran denken zu müssen, dass sie womöglich das Ergebnis eines längst vergessenen, geschäftsmäßigen Aktes war? Wie sollte er jemals wieder seine Frau berühren, ohne sich zu fragen, wie viele Männer es vor ihm gegeben hatte? Mit leerem Blick starrte er vor sich hm. »Wenn diese Ehe nicht auch in die Brüche gehen soll, brauche ich deine professionelle Hilfe, Louisa. Du musst der Sache auf den Grund gehen«, sagte er und stand auf.

Auf dem Weg zur Toilette fragte sich Robert, ob sich Louisa wirklich alle Mühe geben würde, seine Ehe zu retten. Außerdem wusste er, dass sie bei ihrer Arbeit dem Grundsatz »Der Zweck heiligt die Mittel« folgte. War eine solche Einstellung wirklich moralischer als Erins Dasein als Prostituierte? Wahrscheinlich schon.

Als er an den Tisch zurückkam, sagte Louisa: »Ich brauche eine Unterkunft, einen Wagen, einen Internetanschluss, fünfhundert Pfund im Voraus und noch mal tausend als Entschädigung für den Job, der mir durch die Lappen geht.« Sie nahm die Brille mit dem dunklen Rahmen ab und blickte ihn mit ihren geradezu unnatürlich grünen Augen an. Da musste Robert einfach ja sagen.

Eine Stunde später hatte sich Louisa ein Zimmer in einem Hotel genommen. Robert folgte ihr durch das Foyer und betrachtete dabei ihre durchtrainierten Beine. Sie rief in ihrem bisherigen Hotel an und bat darum, dass man ihr das Gepäck nach London nachschickte. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, mit in ihr Zimmer zu gehen, doch da sie immer noch auf dem Handy telefonierte und er sich von ihr verabschieden wollte, folgte er ihr. Er schaute auf die Uhr – er wurde sicher noch nicht vermisst.