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J

ed Bowman war nicht begeistert, als Robert ihn bat, in einer halben Stunde wiederzukommen. Sein ohnehin schon gerötetes Gesicht wurde noch eine Spur dunkler, und seine kalten Augen musterten Robert von oben bis unten, als überlegte er, wohin er am besten schlagen sollte. Robert schloss die Eingangstür hinter Jed ab, damit er und Tanya ungestört waren. Den war den ganzen Morgen auf einer Sitzung, und Alison, seine Sekretärin, hatte sich krank gemeldet. Sie beide hatten also die Kanzlei für sich allein.

»Gut. Und jetzt gehen Sie ans Telefon.« Ein wenig schuldbewusst stellte Robert fest, dass er mit Tanya sprach wie ein Lehrer mit einem unfolgsamen Kind. Doch auch wenn sie Erins Laden am vergangenen Samstag noch so gut gehütet hatte, konnte sie hier ihre Sachen packen, wenn es ihr nicht gelang, Rubys Geburtsurkunde aufzutreiben.

»Stellen Sie auf ›Lautsprecher‹«, sagte er.

»Hier Standesamt Northampton, guten Morgen. Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Hallo«, sagte Tanya. »Ich rufe wegen der Kopie einer Geburtsurkunde an.«

»Bleiben Sie bitte dran, ich versuche, Sie durchzustellen.«

»Die sind ständig beschäftigt«, beklagte sich Tanya mit einer Hand auf dem Telefonhörer. Ihr Chef starrte missmutig auf sie herab. Als sie ihn so sah – mit steifem Rücken, die Arme über der breiten Brust verschränkt –, wusste Tanya, dass er sich nicht abwimmeln lassen würde. Dabei hatte sie ihn in all den Jahren als seine Assistentin immer für einen vernünftigen Mann gehalten …

Eine Bandansage teilte ihr mit, dass sie die Fünfte in der Warteschleife war. Während sie warteten, las Robert noch einmal das Schreiben vom Standesamt: »… leider nicht möglich, aufgrund Ihrer Angaben eine Kopie der betreffenden Geburtsurkunde auszustellen … fanden sich keine Unterlagen zu Ruby Alice Lucas, geboren 1.1.1992 …« Die Angaben stimmten. Vielleicht lautete Rubys zweiter Vorname ja anders oder Ruby war überhaupt nur ein Spitzname. Er würde Erin danach fragen. Er brauchte korrekte Angaben.

Während sie auf die Verbindung zu einem Sachbearbeiter warteten, zog Robert in Erwägung, dass Erin ihrer Tochter nach der Trennung von ihrem Mann möglicherweise ihren eigenen Mädchennamen gegeben hatte. Vielleicht war es eine Art Trotzreaktion gewesen, mit der sie sich endgültig von dem Mann lösen wollte, den sie nicht mehr liebte. Ein solches Verhalten war Erin durchaus zuzutrauen – stolz und auf ihre Unabhängigkeit bedacht, wie sie nun einmal war. Ruby war jedoch vermutlich unter dem Familiennamen ihres Vaters registriert worden. Das würde erklären, warum ihre Geburtsurkunde unter Ruby Lucas nicht aufzutreiben war.

Verständlicherweise hatte Erin nie von Rubys Vater gesprochen, und Robert war auch nicht sonderlich auf Einzelheiten erpicht gewesen. Er hatte allerdings angenommen, dass Lucas der Name ihres ersten Ehemannes gewesen war. Robert hatte sie nie danach gefragt, zum einen, weil es ihm nicht wichtig erschien, und zum anderen, weil er aus bitterer Erfahrung wusste, wohin es führen konnte, wenn man zu tief im Privatleben eines anderen Menschen herumwühlte. Um seine Beziehung zu Erin nicht zu strapazieren, hatte er sich daher mit ihren spärlichen, unverbindlichen Auskünften zufriedengegeben. Dass ihn diese Art von Selbstschutz frustrierte, mochte er sich nicht eingestehen.

»Standesamt, Urkundenstelle. Was kann ich für Sie tun?«

Tanya wollte gerade etwas sagen, da riss Robert ihr den Hörer aus der Hand. Er wollte nicht, dass die Frau auf dem Standesamt schon wieder alles vermasselte. Die Zeit wurde langsam knapp.

»Hallo … ja … Vor etwa einer Woche habe ich dringend darum gebeten, dass Sie mir von der Geburtsurkunde meiner Stieftochter eine Kopie zuschicken. Daraufhin haben Sie mir geschrieben, dass Sie die Urkunde nicht finden könnten. Würden Sie bitte noch einmal nachschauen? Schließlich gibt es meine Stieftochter ja, ich habe sie immerhin heute Morgen noch gesehen.« Ein humorvoller Ton schien Robert angeraten, um die Sachbearbeiterin bei Laune zu halten. Sie konnte die Sache sonst endlos kompliziert machen.

»Haben Sie zufällig die Betreffnummer unseres Schreibens?«

Robert las die Nummer langsam vor, während die Angestellte sie in ihren Computer eintippte.

»Nein, tut mir leid. Da steht, dass es keine Unterlagen …«

»Das ist mir schon klar. Ich habe den Brief ja hier. Ich möchte aber wissen, warum es keine Unterlagen gibt.«

Robert, der inzwischen auf der Kante von Tanyas Schreibtisch saß, nannte noch einmal Rubys vollen Namen und ihr Geburtsdatum, doch die Frau unterbrach ihn. Offensichtlich dachte sie an die anderen Leute in der Warteschleife.

»Ihre Angaben auf dem Antrag waren völlig ausreichend. Ich kann es mir nur so erklären, dass der Name des Kindes nicht stimmt oder, was wahrscheinlicher ist, dass die Geburt nicht hier bei uns gemeldet wurde. Ansonsten weiß ich nicht, warum wir keine Eintragung finden. Vielleicht gehen Sie die Angaben noch einmal genau mit der Mutter des Kindes durch. Nur um sicherzustellen, dass Sie sich alles richtig gemerkt haben.«

»Ich denke, dass ich den Namen meiner Stieftochter korrekt nennen kann«, erwiderte Robert ungehalten. »Könnten Sie nicht mal alle Eintragungen für das entsprechende Geburtsdatum überprüfen lassen?«

»Tut mir leid, Sir, aber für so etwas haben wir weder das Personal noch die Zeit. Wenn wir …«

»Danke für Ihre Hilfe.« Robert legte abrupt den Hörer auf und biss sich auf die Lippen. So kam er nicht weiter. Er goss sich einen Kaffee ein und hätte fast vergessen, Tanya zu fragen, ob sie auch eine Tasse wollte. Sie nickte, als er ihr eine anbot, und eine Zeitlang tranken sie schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Er musste sich bei Rubys Geburtsdatum geirrt haben, dachte Robert. Wenn er Erin danach fragte, würde sie wahrscheinlich reagieren wie jede Frau, deren Mann ein wichtiges Datum vergessen hatte und unter fadenscheinigen Ausreden zu spät mit einem Geschenk ankam.

»Erster Januar neunzehnhundertzweiundneunzig«, murmelte er versonnen, und dann: »Einunddreißigster Dezember einundneunzig.« Es war mit Sicherheit der erste Januar, dachte er. Aber vielleicht einundneunzig?

Das Einzige, was er zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte, war, dass er keine Erfahrung als Vater hatte. Bevor er sich in Erin verliebt hatte, hätte er sich niemals träumen lassen, einen Teenager zu adoptieren. Aber Ruby gehörte nun einmal dazu. Vater sein war eine schwere und zuweilen undankbare Aufgabe, doch sie drei gehörten für immer zusammen. Er wählte Erins Nummer.

»Floristik taufrisch, Erin am Apparat.«

Als Robert die Stimme seiner Frau hörte, fiel die Anspannung von ihm ab. Nach allem, was er mit Jenna durchgemacht hatte, war es wohl ganz normal, dass er misstrauisch war. Er musste zugeben, dass Louisa recht gehabt hatte. Es war wirklich alles zu schnell gegangen. Obwohl … wenn er damals nicht umgekehrt wäre, um seinen Schirm zu holen, und Erin angesprochen hätte …

»Hallo, mein Schatz. Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Ja, im Moment ist niemand im Laden. Was gibt’s denn?«

»Sag mir doch noch mal Rubys Geburtsdatum und den Geburtsort. Die Leute auf dem Standesamt können den Eintrag nach wie vor nicht finden, und sie braucht doch für Wien einen Reisepass.« Robert zog Tanyas Schreibtischschublade auf und nahm einen Stift heraus. Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Kinn und war bereit zu schreiben. »Erin?«

»Fang nicht schon wieder damit an, Robert. Wir wollten doch nicht mehr von dieser Klassenfahrt reden.«

Robert lächelte Tanya zu. Er hätte nicht so unfreundlich zu ihr sein sollen. Schließlich war sie eine loyale Mitarbeiterin und immer sehr bemüht, ihm alles recht zu machen. Sie lächelte zurück und tippte weiter am Computer.

»Was meinst du damit, Erin?« Robert zwang sich, die Stimme zu dämpfen. »Wie kannst du das so einfach abtun, wenn es doch um deine Tochter geht?«

»Eben«, erwiderte sie prompt. »Es ist meine Tochter.«

Robert seufzte. Darüber wollte er sich in Tanyas Gegenwart nicht streiten. »Könntest du mir bitte wenigstens bestätigen, dass ihre Geburt unter dem Namen Lucas beim Standesamt von Northampton registriert wurde? Du hast doch gesagt, sie ist dort geboren, nicht? Mal ganz abgesehen von der Klassenfahrt braucht sie auf jeden Fall einen Pass. Es sei denn, du willst nie wieder in Urlaub fahren.«

»Ich muss jetzt Schluss machen, Robert. Ich habe einen Kunden. Tschüss.« Erin hauchte einen Kuss in den Hörer, bevor sie auflegte.

Jed Bowman tauchte nicht wieder auf. Die Zeit, die er für ihn eingeplant hatte, nutzte Robert, um noch einmal die ganzen schmutzigen Einzelheiten in der Akte durchzugehen. Der Fall zog sich hin; er hätte längst abgeschlossen sein sollen. Eigentlich war es ein Fall wie tausend andere, nur mit vertauschten Rollen.

Der Mann will das alleinige Sorgerecht für seine beiden Kinder. Die Frau ist Alkoholikerin, drogensüchtig und misshandelt die Kinder, die bislang noch nicht einmal gefragt wurden, bei wem sie leben wollen. Der Mann hat jetzt eine eigene Wohnung und einen Job. Ende der Geschichte.

»Tja, schön und gut«, murmelte Robert vor sich hin und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. »Wenn es bloß nicht um diesen verdammten Jed Bowman ginge.« Als er den Blick hob und Tanya in der Tür stehen sah, schämte er sich ein wenig, dass er mit sich selbst geredet hatte.

»Da ist jemand, der Sie sprechen möchte, Mr Knight. Mary Bowman.«

Rasch kam Robert hinter dem Schreibtisch hervor und schloss die Tür.

»Mary Bowman – etwa Jeds zukünftige Exfrau?«

»Genau die.« Tanya wirkte ganz aufgekratzt. Solche unerwarteten Ereignisse machten ihr einen diebischen Spaß.

»Hat sie gesagt, was sie will?«

»Nur, dass sie mit Ihnen sprechen muss. Soll ich sie reinführen?«

Robert zögerte einen Augenblick lang. Als Jeds Anwalt durfte er sich eigentlich nicht mit der gegnerischen Partei unterhalten, aber Den war noch nicht von seiner Sitzung zurück, und Tanya würde in ihrem eigenen Interesse so klug sein, den Mund zu halten. Außerdem hatte Robert den Eindruck, dass bei diesem Fall irgendetwas nicht stimmte. Und da die Zukunft und das Glück von Kindern auf dem Spiel standen, fühlte er sich verpflichtet, Mary Bowman wenigstens anzuhören. Flüchtig kam ihm Ruby in den Sinn.

»Bringen Sie sie herein.«

Mary war klein, vermutlich noch nicht einmal einen Meter sechzig. Die Mittdreißigerin trug ein altmodisches, beige und blau gemustertes Polyesterkleid, in dem sie zwanzig Jahre älter aussah. Robert konnte sich erinnern, dass seine Mutter ein ähnliches Kleid besessen hatte.

Marys schmales Gesicht war zum großen Teil hinter einer gleichfalls unmodischen, riesigen Sonnenbrille verborgen; ihre mausbraunen Haare hingen glatt und schlecht geschnitten bis auf die Schultern. Offensichtlich hatte sie versucht, sich für den Anlass hübsch zu machen, wirkte jedoch wie eine Frau mit wenig Geld, wenig Selbstachtung und ohne Hoffnung. Robert war überrascht, dass sie es überhaupt fertiggebracht hatte, in die Kanzlei zu kommen. Auf ihn machte Mary Bowman den Eindruck eines Menschen, der sich nur noch mit einem Finger ans Leben klammerte.

Als Robert ihr die Hand schüttelte, bemerkte er, dass ihre Finger eiskalt waren und leicht zitterten. Sie trug keinen Ring. Er schickte Tanya, die offensichtlich gern dageblieben wäre, aus dem Zimmer und bat die Besucherin, Platz zu nehmen.

Zögernd ließ sich Mary Bowman auf der Kante des Besuchersessels nieder und wartete reglos und mit gesenktem Kopf, bis sich Robert seinen Schreibtischsessel herangezogen und ihr gegenübergesetzt hatte. Dann sah sie langsam auf und nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Bewegungen waren so mühsam und schwerfällig, als hingen Bleigewichte an ihren Armen. Mit ausdrucksloser Miene blickte sie an Robert vorbei ins Leere. Als Robert ihr Gesicht sah, wusste er alles über den Fall Bowman gegen Bowman. Marys Nase war gebrochen – ein dicker geschwollener Wulst zog sich über den Nasenrücken, und die zarte Haut um ihre Augen hatte die Farbe überreifer Pflaumen, was durch ein zu dunkles Make-up nur unzureichend verdeckt wurde.

Unwillkürlich zog Robert scharf die Luft ein. Seitdem er seine Ausbildung beendet hatte, war er als Anwalt für Familienrecht tätig und hatte in dieser Zeit einige schwere Fälle erlebt. Doch nun, da Mary Bowman – sozusagen als lebender Beweis – vor ihm saß, kamen ihm erhebliche Zweifel, ob er Jed Bowman weiter vertreten sollte. Dabei ging es nicht nur darum, dass es sich hier um eine Vertretung im Rahmen der gesetzlichen Rechtshilfe handelte. In der Vergangenheit hatte es Robert mit ähnlich unappetitlichen Fällen zu tun gehabt, wo Männer, die Autos für hunderttausend Euro fuhren, ihre Frauen prügelten. Seltsamerweise war ihm so etwas früher nicht derart nahe gegangen.

»Womit kann ich Ihnen helfen?« Wie blödsinnig seine Frage klang! Wer konnte dieser Frau schon helfen?

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich aufgebe.« Mary Bowman faltete die Hände im Schoß, als wollte sie ihren Worten dadurch Nachdruck verleihen. »Ich bin eine unfähige Mutter und will meine Kinder nicht behalten.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und verschmierte dabei ihren Lippenstift.

Robert war wie vor den Kopf geschlagen. Damit hatte er nicht gerechnet. Gewiss, ihre Entscheidung würde dafür sorgen, dass die Akte endlich von seinem Schreibtisch verschwand, doch nachdem er Mary Bowmans verwüstetes Gesicht gesehen hatte, erschien ihm das so grausam, als würde er Ruby wieder auf ihre alte Schule schicken.

»Das hat das Gericht zu entscheiden«, sagte er. »Ihr Anwalt wird Sie nach besten Kräften vertreten und der Beauftragte der Fürsorge wird sicherstellen, dass die Rechte Ihrer Kinder gewahrt werden. Am Ende wird der Richter festlegen, was für die Kinder das Beste ist. Als Rechtsbeistand Ihres Mannes habe ich die Pflicht …« Robert zögerte. Angesichts der Frau, die dort vor ihm saß, verlor seine Pflicht gegenüber Jed Bowman beträchtlich an Bedeutung.

Durch die Anwesenheit der Beklagten hier in seinem eigenen, vierzig Quadratmeter großen Büro mit dem schiefergrauen Teppichboden, dem Mahagonischreibtisch und den Aquarellen an den eichengetäfelten Wänden, bekam der Fall ein menschliches Gesicht. Robert holte tief Luft, bevor er weitersprach: »… die Pflicht, Ihren Mann vor Gericht zu vertreten. Und da es Beweise gibt, dass die Kinder vernachlässigt wurden, und Ihr Verhalten, zum Beispiel der Ehebruch …«

»Hier sind die Beweise für Jeds Verhalten.« Mary strich sich das Haar aus dem Gesicht und drehte ihr Gesicht zum Fenster. Die Verletzungen waren beträchtlich. »Ich gebe auf, weil ich einfach nicht mehr kann. Selbst wenn ich die Kinder zugesprochen bekomme, wird er mich niemals in Ruhe lassen. Eure ganzen dummen Gesetze können ihn nicht von mir fernhalten, nachdem er mich mit seinem Bruder erwischt hat. Das hat ihm mehr zugesetzt als alles andere.« Sie wandte sich wieder zu Robert um. »Da ist in seinem Gehirn was ausgehakt.« Sie zog ein Päckchen Zigaretten aus der Handtasche und steckte sich eine an, ohne Robert zu fragen. »Ich werde immer das Eigentum dieses Mannes sein, egal, wie der Richter entscheidet. Ich hoffe, Sie können bei dem Gedanken gut schlafen.«

»Einen Augenblick mal.« Wie viel Mitleid er auch mit dieser misshandelten Frau haben mochte, in seiner Berufsehre ließ sich Robert nicht kränken. »Was zwischen Ihnen und Jed vorgeht, ist nicht meine Sache. Wenn es Jed einfällt, Sie für den Rest Ihres Lebens jeden Tag zu verprügeln, dann geht mich das nichts an.« Ob es nun am Kaffee oder am Zigarettenqualm lag oder an seinem schlechten Gewissen – Robert hatte einen bitteren Geschmack im Mund, der sich hartnäckig hielt, sooft er auch schluckte. »Meine Sache ist es, im Auftrag Ihres Mannes die Scheidung einzureichen und das alleinige Sorgerecht für die Kinder zu beantragen. Für zwei hilflose Kinder, die mitansehen müssen, wie ihr Vater ihre Mutter verprügelt, und die zu hören bekommen, dass ihre Mutter mit ihrem Onkel geschlafen hat. Ganz zu schweigen von den Drogen und dem Alkohol und davon, dass die Kinder nur unregelmäßig zur Schule gehen.« Robert verstummte und rief sich selbst zur Ordnung. Er befand sich hier schließlich nicht im Gerichtssaal und Mary war schon gestraft genug.

Mary schnaubte, wobei eine Wolke Tabaksqualm aus ihren Nasenlöchern quoll. »Hat er Ihnen das erzählt? Dass ich Alkoholikerin bin und Drogen nehme?«

Robert ging zum Fenster und öffnete es. Mit der feuchtwarmen Luft drangen der Verkehrslärm und der Gestank nach Autoabgasen ins Zimmer. Er starrte hinunter auf das Heer der Einkaufenden, auf die Frauen mit den Kinderwagen, die Büroangestellten, Autos, Taxis … Sie alle konnten ihren Geschäften nachgehen, ohne bedroht und eingeschüchtert zu werden. Als er an Jenna und Ruby dachte, die beide unter Nachstellungen und Schikanen gelitten hatten, schnürte ihm das schlechte Gewissen beinahe die Kehle zu. Er drehte sich um, ging zu Mary hinüber und zog seinen Sessel noch dichter an sie heran. Nachdem er sorgsam die Bügelfalten seiner maßge­schnei­derten Hose hochgezogen hatte, setzte er sich und nahm ihre Hand. Dabei klingelten alle Alarmglocken in seinem Kopf. Er konnte geradezu hören, wie sich Den aufregen würde, wenn er von der Dummheit seines Partners erfuhr. Er sah sich selbst, wie er seine Habseligkeiten zusammenpackte und sein Büro räumte – die vornehme, kostspielige Zimmerflucht, die er und Den sich nur mit Mühe leisten konnten. Doch dann tauchte Ruby in ihrer alten Schuluniform vor seinem inneren Auge auf, wie sie von den Nachwuchs-Jed-Bowmans dieser Welt drangsaliert wurde. Genau wie Mary war auch sie ein Opfer gewesen, bis er die Sache in die Hand genommen und sie zu einer anderen Schule gebracht hatte. Und dann Jenna, die er so lange mit seinem Misstrauen und seiner Eifersucht verfolgt hatte, bis sie es nicht mehr aushielt. Dabei spielte es gar keine Rolle, dass sein Verdacht begründet gewesen war. Noch bevor sie die geringste Chance gehabt hatte, sich zu verteidigen, hatte er Jenna zum Tode verurteilt. Er hatte sich zum Richter über Leben und Tod aufgeschwungen. Robert schüttelte den Kopf, um die quälenden Gedanken loszuwerden, die jetzt und hier nichts zu suchen hatten.

»Erzählen Sie mir alles, Mary. Von Anfang an.«

Mary senkte den Kopf. Bevor sie begann, bat sie um ein Glas Wasser.