17

S

arah besucht mich einmal die Woche. Das ist uns beiden mittlerweile ein Bedürfnis. Ich lege ihr jedes Mal umsonst die Tarotkarten und schwindele ihr etwas vor, um ihr ein bisschen Mut zu machen. Sie hat ihrem Vater noch nicht erzählt, dass sie ein Baby erwartet. Da kann man mal sehen, wie viel Aufmerksamkeit er seiner schönen Tochter schenkt, denn ihr Bauch geht auf wie ein Hefekuchen.

Diesmal will sie am Samstag um sechs kommen. Ihr Vater und ihre Brüder gehen zu einer Familienfeier, zu der sie, wie es sich für Aschenputtel gehört, nicht eingeladen ist.

»Es ist nur für Männer«, erklärt sie mir, als endlich Samstag ist. Die letzte Woche zog sich hin; ich hatte kaum Kunden. Schon zwei Stunden, bevor sie kommt, mache ich mich fertig. »Ich bin froh, dass ich nicht mitgehen musste«, sagt Sarah. »Mir ist nicht besonders gut.«

Ich führe sie zum Sessel und schalte einen Heizstab vom elektrischen Kamin an. Es ist so dunkel, als wäre die Sonne schon untergegangen, und ungewöhnlich kühl für Juni. Andy und ich hatten immer vor, den kleinen Kamin wieder so herzurichten, dass wir ein echtes Feuer mit Holz hätten machen können, aber wir sind nie dazu gekommen.

Ich umfasse Sarahs Bauch mit beiden Händen und heiße ihr Baby willkommen. Sarah lächelt.

»Ich kann seine Umrisse fühlen«, sage ich ihr. »Das hier ist sein Fuß und der Knubbel da könnte ein Ellbogen sein.« Als ich Sarahs Hand auf ihren Bauch lege, damit sie es selbst spüren kann, wird ihr Lächeln noch breiter. So kann ich sie glücklich machen. Und ich bin glücklich, weil wieder ein Baby im Haus ist. »Du wirst mich doch noch besuchen kommen, wenn er auf der Welt ist, oder?« Womöglich braucht sie meine Freundschaft ja nicht mehr, wenn sie ein Kind zum Liebhaben hat.

»Ich möchte, dass du seine Patin wirst«, sagt sie. Da ist mir, als würde sich die Zimmerdecke öffnen und strahlend gelber Sonnenschein auf mein armseliges Leben fallen.

Nach der Pressekonferenz ließen Andy und ich das Telefon und den Fernseher nicht aus den Augen. Sheila zog zu uns, ließ Don aber zu Hause. Vielleicht weil er Mitleid mit mir hatte, was ich ihrer Ansicht nach nicht verdiente.

Am nächsten Tag stand unsere Geschichte auf den Titelblättern der meisten regionalen und überregionalen Zeitun­gen. Als sich jedoch abzeichnete, dass es so schnell keine Neuigkeiten – wie zum Beispiel eine Leiche – geben würde, verschwanden wir aus den Schlagzeilen und nach und nach rückten auch die Reporter vor unserem Haus ab.

In den nächsten Tagen wurde der Fall noch am Rande in den Abendnachrichten erwähnt, und dann war Schluss. Eine Woche später brachten mehrere große Zeitungen noch einmal einen Folgeartikel mit Bildern von Natasha, doch bald hatte das Land uns vergessen. Nur die Polizei befasste sich noch mit uns.

Wenn Natasha heil und unversehrt wieder aufgetaucht wäre, hätten die Medien wahrscheinlich einen Tag lang darüber berichtet, doch worauf sie wirklich scharf waren, war eine Leiche. Eine tote Natasha wäre die Sensation gewesen, doch so gab es wichtigere Nachrichten, zum Beispiel die Atomwaffen­lager der Russen.

Sheila mit ihrer strengen Frisur und dem verkniffenen Mund war ziemlich kurz angebunden, aber sie half uns, die ersten Wochen nach Natashas Verschwinden zu überstehen. Sie kochte, machte sauber, kaufte ein, wusch die Wäsche, ging ans Telefon und wimmelte unerwünschte Besucher ab, damit Andy und ich in Ruhe trauern konnten, als nach und nach das letzte Fünkchen Hoffnung verlosch. Ende Februar, nach sieben Wochen ohne Natasha, war uns klar, dass wir unser Baby nie wiedersehen würden.

Andy verlor seinen Job in derselben Woche, als ich merkte, dass sie mich verdächtigten, Natasha umgebracht zu haben. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Detective Inspector Lumley und Police Constable Miranda mich zum Verhör mitnahmen, bevor oder nachdem Andy wutentbrannt nach Hause kam und erzählte, sie hätten ihn gefeuert, weil er zu viel Zeit auf der Toilette verbrachte. Als ich die hellen Streifen auf seinen schmutzigen Wangen sah, wusste ich, dass er in der Toilette geweint hatte. Wir weinten beide jeden Tag, aber nicht voreinander und nicht aus demselben Grund.

Schließlich ging Sheila wieder nach Hause, kam aber weiterhin regelmäßig vorbei, vor allem um Andy zu besuchen, und brachte eingefrorenen Eintopf oder Suppe mit. Auch an dem Tag, als man mich zum Verhör abholte, war sie unverhofft gekommen und hatte mir was zu essen gebracht, weil sie wusste, dass ich noch immer nicht einkaufen konnte. Aber als sie hörte, dass Andy nicht da war, wollte sie nicht hereinkommen.

Ein paar Minuten, nachdem sie gegangen war, klopfte es wieder an der Tür. Ich dachte schon, sie hätte es sich anders überlegt und wäre zurückgekommen. Vielleicht gab sie mir ja nicht länger ganz allein die Schuld am Verschwinden ihrer Enkelin. Voller Hoffnung lief ich zur Tür – ich sehnte mich so sehr danach, von Sheila geliebt zu werden –, aber es war die Polizei. Detective Inspector George Lumley und PC Miranda forderten mich mit ernster Miene auf, sie zu einem Verhör aufs Präsidium zu begleiten. Wieder einmal brach für mich eine Welt zusammen.

Ich durfte noch Schuhe und meinen Mantel anziehen und die Tür abschließen. Dann saß ich neben PC Miranda im Polizeiwagen. Am liebsten hätte ich sie bei den Schultern gepackt, an ihren Haaren gerissen, ihr das Gesicht zerkratzt, die Augen ausgestochen – nur damit sie sich an die Tage erinnerte, die wir unmittelbar nach Natashas Entführung miteinander verbracht hatten. Damals war sie meine Verbündete gewesen, die mir geholfen und mich getröstet hatte. Immer wieder hatte sie mir versichert, dass es eine Zukunft für mich gab, und einmal, als ich mich übergeben hatte und mein Haar ganz verfilzt war, hatte sie mich sogar gebadet. Damals hatte PC Miranda weit mehr getan, als sie musste. Jetzt tat sie nur ihre Pflicht.

»Wir verhaften Sie nicht, Cheryl. Der Detective Inspector möchte nur noch einmal hören, was an jenem Tag genau passiert ist.« Als PC Miranda mir das Knie tätschelte und mir gezwungen zulächelte, wusste ich, dass ich doch so gut wie verhaftet war.

Auf dem Revier brachten sie mich in ein Vernehmungs­zimmer und sagten, ich sollte warten. PC Miranda blieb bei mir, sprach aber kein Wort. Es war kalt, und der ganze Raum war grau in grau. Als sie sah, dass ich zitterte, holte sie mir eine grobe Decke. Die war auch grau. Sie gab mir eine Tasse Tee, aber ich konnte nichts trinken. Bin ich jetzt auf einmal eine Verbrecherin?, dachte ich.

DI Lumley kam mit einem anderen Polizisten zurück, den ich nicht kannte. Lumley war groß und hatte breite Schultern und ein ungeduldiges Gesicht mit erstaunlich zarten Gesichtszügen. Seine Augen sahen aus wie gelutschte Bonbons, und seine gebogene Nase war viel zu schmal für so einen kräftigen Kerl. Jetzt, wo er nicht mehr auf meiner Seite stand, gefiel er mir auch nicht mehr besonders.

PC Miranda führte mich zu einem Resopaltisch, die Polizisten setzten sich mir gegenüber. Sie hielten beide einen Notizblock in der Hand, und auf dem Tisch zwischen uns stand ein Kassettenrekorder. Einer von ihnen schaltete ihn ein und nannte das Datum und die Nummer des Falls und wer im Zimmer anwesend war. So etwas hatte ich schon mal in einem Krimi gesehen, wenn ein Verbrecher verhaftet wurde. Ich überlegte krampfhaft, was ich getan haben sollte, aber mir fiel nur ein, dass ich mein Baby verloren hatte.

Mein Baby verloren, mein Baby verloren … Immer wieder sagte ich es mir vor.

Vielleicht verhörten sie mich, weil ich fahrlässig gewesen war und den Wagen nicht abgeschlossen hatte. Vielleicht war es ja überhaupt ein Verbrechen, ein Baby allein im Auto zu lassen. Vielleicht war ich eine schlechte Mutter und verdiente es, eingesperrt zu werden.

»Es dauert nicht lange, Mrs Varney. Wir müssen nur ein paar Dinge klären über …« DI Lumley zögerte und warf einen Blick zu seinem Kollegen hinüber. »Über den Tag, an dem Ihr Baby entführt wurde. Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, und ich versichere Ihnen, dass einige meiner besten Männer an dem Fall arbeiten. Aber damit wir weiterkommen, brauchen wir noch ein paar Auskünfte von Ihnen.«

»Natürlich«, sagte ich. Meine Schultern waren gebeugt und schmerzten, egal wie ich mich hinsetzte. Seit Natasha nicht mehr da war, schien mein Körper zu schrumpfen und zu verdorren. Ich brachte zwar jeden Tag ein paar Bissen hinunter und trank auch etwas Wasser und Tee. Trotzdem standen meine Knochen hervor und taten so weh, als wollten sie im nächsten Moment zerbrechen. Außerdem fielen mir die Haare aus. »Ich werde versuchen, behilflich zu sein.«

»Kommen wir zunächst zu dem Babyschuh.« Lumley schaute seinen Partner an und nickte. Der andere Mann zog eine versiegelte Plastiktüte unter seinem Notizblock hervor. Darin lag Natashas gestrickter Schuh, den ich auf der Straße gefunden hatte. Er war ganz plattgedrückt und sah grauer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Erkennen Sie dieses Beweisstück wieder, Mrs Varney?«

Nur zu gern hätte ich ihnen unter dem Tisch einen Tritt vor das Schienbein gegeben, einen Kinnhaken versetzt, ihnen die Finger in die Augen gestoßen, damit sie eine vage Vorstellung davon bekamen, wie ich leiden musste und immer leiden würde. Aber damit hätte ich mir nur selbst geschadet. Ich käme ihnen als Verdächtige gerade recht, weil sie nicht weiterwussten. DI Lumley hatte bestimmt nicht gern einen Haufen ungelöster Fälle auf seinem Schreibtisch. Er hatte ohnehin nie viel Verständnis für mein traumatisches Erlebnis aufgebracht und jetzt, wo sie nicht weiterkamen, verfielen sie auf mich. Ich nahm die Plastiktüte in die Hand. Der Babyschuh darin war ein bisschen schmutzig, aber mit Sicherheit derjenige, den ich an jenem grauenvollen Tag gefunden hatte.

»Natürlich erkenne ich ihn wieder. Das habe ich Ihnen doch schon alles erzählt.«

»Schauen Sie ihn sich genau an, Mrs Varney. Könnte es sein, dass er nicht Ihrem Baby gehört?«

»Nein, es ist ganz bestimmt Natashas.« Ich warf erneut einen kurzen Blick auf den Schuh. »Sheila, meine Schwiegermutter, hatte diese Babyschuhe und eine passende Mütze gestrickt. Den hier habe ich auf der Hauptstraße gefunden, nachdem ich bemerkt hatte, dass Natasha fort war. Ich sah jemanden mit einem Baby auf dem Arm über den Parkplatz laufen. Wahrscheinlich hat Natasha den Schuh verloren, als der …« – das Wort auszusprechen fiel mir so schwer – »… der Entführer sie mitnahm. Sie hat öfter ihre Schuhe verloren.«

»Ich verstehe.« DI Lumley machte sich ein paar Notizen und sagte dann leise etwas zu seinem Kollegen. Der reichte ihm ein Blatt Papier. »Was würden Sie sagen, Mrs Varney, wenn ich Ihnen erzählte, dass Sie sich irren? Dies hier ist nicht der Schuh Ihres Babys. Selbstverständlich haben wir Ihre Schwieger­mutter, Sheila Varney, ebenfalls vernommen und sie gebeten, uns eine Probe der Wolle zu überlassen, aus der sie die Schuhe und die Mütze gestrickt hat. Glücklicherweise hatte sie noch welche übrig, sodass wir die Wolle analysieren konnten. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine völlig andere Wollzusammensetzung handelte als bei diesem Babyschuh.« DI Lumley nahm mir die Tüte aus der Hand, hielt sie hoch und schüttelte sie. Das Schühchen rutschte hin und her. »Die Laborergebnisse sind eindeutig. Dieser Schuh ist nicht derselbe, den Sheila Varney gestrickt hat.«

DI Lumley schob mir das Blatt Papier über den Tisch zu. Ich las den Bericht der forensischen Abteilung, verstand aber kein Wort von dem ganzen Wissenschaftler-Kauderwelsch.

»Aber es ist Natashas. ich schwöre es!« Meine Stimme zitterte, und mir kamen die Tränen. Wie konnten sie mir das antun? Es war mein letzter Hoffnungsschimmer, die einzige Spur, die vielleicht zu Natasha führte, und jetzt machten sie alles kaputt. »Wie viele solcher Babyschühchen kann es denn schon geben? Vielleicht hat Sheila Ihnen die falsche Wolle gegeben. Sie hat einen ganzen Korb voller Wollreste.« Sie mussten mir unbedingt glauben.

»Diese Möglichkeit haben wir natürlich auch in Betracht gezogen. Deshalb haben wir zusätzlich eine DNS-Analyse der Hautzellen durchführen lassen, die sich an dem Schuh fanden.« Lumley verstummte und presste die Lippen zusammen, so als könnte er sich kaum beherrschen, mir die nächsten Worte ins Gesicht zu schleudern. Sein Partner schob mir noch ein Blatt zu, dessen Text mir ebenso schleierhaft war. »Wir haben gehofft, dass sie mit der DNS-Probe aus Natashas Haarbürste übereinstimmt.«

Ich zwang mich zur Aufmerksamkeit. »Und?«, fragte ich mit gepresster Stimme. DI Lumley sollte nicht merken, wie aufgewühlt ich war.

»Der Vergleich war negativ, Mrs Varney. Keine Übereinstimmung. Dieser Schuh gehört eindeutig nicht Ihrem Baby.«

Wie können sie das alles wissen?, dachte ich. Warum glauben sie mir nicht einfach?

Ich kam aus dem Laden und mein Baby war weg. Das Auto war leer. Ich sah jemanden rennen … fand das Schühchen …

»Außerdem haben wir noch Fragen zu dem Kuchen, Mrs Varney.«

»Haben Sie den vielleicht auch noch hier? Der dürfte mittlerweile ein bisschen verschimmelt sein.« Ich legte meine Stirn auf die Tischplatte und stieß den Atem aus. Auf einmal stand PC Miranda neben mir und strich mir über den Rücken. Wahrscheinlich wollte sie mir ein Zeichen geben, dass ich aufpassen sollte, was ich sagte. Es soll ja schon vorgekommen sein, dass jemand unschuldig festgenommen wurde. Vielleicht würden sie ja aus meinen verzweifelten Worten einen Beweis basteln und mich dann verhaften. Aber was für ein Verbrechen sollte ich denn begangen haben? Wie sollte ich denn mein eigenes Baby entführen? Worauf wollten sie hinaus?

»In Ihrer Aussage vom Nachmittag des vierten Januar steht, dass Sie Ihren Wagen auf dem Parkplatz des Supermarkts abstellten – zum genauen Standort des Pkw siehe beigefügten Plan – und mit Ihrer Geldbörse in der Hand in das Geschäft gingen, um einen Kuchen zu kaufen, den Sie mit zu Ihren Schwiegereltern nehmen wollten. Sie ließen Ihren Säugling Natasha schlafend im Wagen zurück. Nachdem Sie den Kuchen an der Schnellkasse bar bezahlt hatten und zu Ihrem Wagen zurückkamen, war Natasha nicht mehr da.« Sein forschender Blick bohrte sich in meine Augen.

»Das ist richtig«, sagte ich.

»Nun, Mrs Varney, könnten Sie uns dann erklären, warum Sie laut den Belegen der Supermarktkasse den Kuchen mit Ihrer Kreditkarte bezahlt haben, und zwar volle zwanzig Minuten später, als von Ihnen angegeben?«

Wie sollte ich nur Detective Inspector Lumley und seinem schweigsamen Assistenten erklären, dass ich den Kuchen zweimal bezahlt hatte? Würden sie mich nicht erst recht verdächtigen, wenn sie hörten, dass die jämmerliche Person, die da vor ihnen saß, tatsächlich zweimal denselben Kuchen gekauft hatte, anstatt die Polizei wegen ihres vermissten Babys zu alarmieren?

»Sie sollte den Kuchen gar nicht noch mal einscannen. Ich wollte es ihr gerade sagen …«

»Wem?«, blaffte Lumley.

»Dem Mädchen an der Kasse.«

»Was wollten Sie ihr sagen?«

»Dass ich mein Baby verloren hatte.«

»Und warum haben Sie es nicht getan?«

»Weil …« Die Worte fielen mir schwer. Ich wusste, dass ich mich damit ganz schön reinreiten würde, aber sie wollten ja unbedingt die Wahrheit hören. »Weil ich dachte, ich hätte mich geirrt. Als die Kassiererin den Kuchen über den Scanner zog, kam es mir plötzlich vor, als hätte ich mir alles nur eingebildet. Ein paar Minuten lang war ich davon überzeugt, dass Natasha noch im Wagen läge und ich nur mal eben den Kuchen gekauft hätte.«

»Zum ersten Mal?«, fragte Lumley.

»Ja, ich dachte, ich würde ihn zum ersten Mal kaufen und Natasha wäre noch im Auto.«

»Aber in Wirklichkeit war Natasha zu diesem Zeitpunkt bereits vermisst und Sie kauften den Kuchen zum zweiten Mal.«

»Ja.« Ich hasste mich selbst. Ich wollte der Kassiererin doch sagen, dass sie die Polizei holen sollte! Aber ich hab’s nicht getan. Das war mein erster Fehler.

»Warum, glauben Sie, waren Sie so verwirrt, Mrs Varney? Nachdem Sie doch festgestellt hatten, dass Ihr Baby nicht mehr im Wagen war, warum glaubten Sie dann trotzdem, es sei noch dort, als Sie an der Kasse standen und den Kuchen ein zweites Mal kauften?«

Ich schluckte und musste husten. PC Miranda schob mir die Tasse Tee zu und ich nahm einen kleinen Schluck. Er war kalt.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. »Ich war müde. Ich war die ganze Nacht auf gewesen und völlig durcheinander.«

»Warum waren Sie denn die ganze Nacht auf?« Lumley lehnte sich zurück, und der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. Wahrscheinlich musste er sich seine Kleidung in einem Geschäft für Übergrößen kaufen.

»Natasha wollte nicht schlafen. Ich konnte sie nicht zur Ruhe bringen.« Vielleicht, dachte ich, hat sie ja geahnt, was ihr bevorstand, und deswegen wie am Spieß geschrien.

»Kam das oft vor? War sie ein Kind, das gut oder eher schlecht schlief?«

»War?«, fragte ich.

»Das ›war‹ bezog sich auf die Zeit, bevor Ihr Baby entführt wurde, Mrs Varney. Mehr wollte ich damit nicht ausdrücken. Also, schlief sie gut?«

Als ich nickte, begannen beide wie besessen auf ihren Notizblöcken zu kritzeln. Lumley warf seinem Kollegen einen Blick zu.

»Uns liegt die Aussage der zuständigen Sozialarbeiterin vor, Mrs Varney. Danach schlief Natasha keineswegs gut. Offensichtlich haben Sie seit der Geburt des Kindes im November siebendunddreißigmal die Sozialarbeiterin aufgesucht oder angerufen, da Sie Probleme mit Natasha hatten. Dabei ging es in erster Linie um Durchschlafen und Schreien. Hat Natasha viel geschrien, Mrs Varney?«

Ich zuckte die Achseln. »Sie war ein Baby, und Babys schreien nun mal.« Sie ist ein Baby, verbesserte ich mich im Stillen.

»Haben Sie Natasha jemals dafür bestraft, dass sie ständig schrie oder nicht schlafen wollte?«

Ich starrte Lumley mit kaltem Blick an. Wie konnte er es wagen! Man hatte mir mein Baby gestohlen!

»Vielleicht haben Sie sie ja geschüttelt, damit sie ruhig ist. Oder ihr das Kissen einige Sekunden zu lange aufs Gesicht gedrückt, damit Sie endlich ein paar Minuten Ruhe hatten.« Lumley beugte sich über den Tisch. Sein Atem roch nach Kaffee. »Ist es so gewesen, Mrs Varney?«

Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und beugte mich ebenfalls vor, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. »Ich habe meine Tochter nicht umgebracht, wenn Sie das damit andeuten wollen, Detective Inspector. Und das Einzige, was mich davon abhält, Sie anzuschreien, ist die Tatsache, dass ich kaum noch den Willen zum Weiterleben aufbringe. Wenn Sie wüssten, wie viel Kraft es mich kostet, auch nur den nächsten Atemzug zu tun, würden Sie Ihre Anschuldigungen zurücknehmen. Und wenn Sie auch nur eine Spur Mitgefühl hätten, würden Sie mich nach Hause gehen lassen, damit ich zusammen mit meinem Mann trauern kann.«

Doch Lumley war unnachgiebig. »Trauern, Mrs Varney? Ist das nicht ein bisschen verfrüht? Es besteht immer noch die Hoffnung, dass wir Natasha wohlbehalten wiederfinden. Sie haben selbst gesagt, dass die Hoffnung Sie aufrecht hält.«

»Ja schon, ich meinte nur …«

»Die Vernehmung von Mrs Cheryl Varney wurde um siebzehn Uhr beendet.« Lumley erhob sich und blickte wie eine finstere Regenwolke auf mich herab. »Sie können jetzt gehen. Wir danken Ihnen für Ihre Hilfe und werden Sie sofort benachrichtigen, wenn es etwas Neues gibt.«

Die beiden Polizisten verließen das Zimmer. PC Miranda ging mit mir in die Eingangshalle und sagte, dass mich ein Wagen nach Hause bringen würde. Ich wartete anderthalb Stunden vergeblich, dann rief ich ein Taxi. Ich fuhr nach Hause und legte mich schlafen.

Zwei Tage später stand Lumley mit drei anderen Polizisten um sechs Uhr morgens vor unserer Tür. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl. Zwölf Stunden lang sah ich zu, wie sie Schränke und Schubladen durchforsteten, Möbelstücke zerlegten und dabei Dinge fanden, die ich schon längst vergessen hatte. Sie krochen auf dem Dachboden herum und stöberten in alten Fotos und Büchern, dann wühlten sie in meinen Kleidern und meiner Unterwäsche und hielten sich erstaunlich lange in Natashas Zimmer auf, wo sie Sachen in verschiedene Beutel stopften.

Anschließend ging es im Garten weiter. Ich machte mir eine Tasse Tee und beobachtete vom Küchentisch aus, wie sie durch mein verwildertes Stückchen Grün krabbelten wie riesige Käfer. Es herrschte große Aufregung, als sie auf das Skelett unserer lange verstorbenen Katze stießen. Sonst fanden sie nichts.

Ich frage Sarah, was wohl ihr Vater dazu sagen wird, dass sie ihr Kind taufen lassen will. Sie meint, wenn es so weit ist, wäre sie schon längst aus der Familie verstoßen. Er würde von der Taufe also gar nichts mitbekommen. Sie hat sich dem Vater ihres Kindes zuliebe, der Engländer ist, für die Taufe entschieden. Jonathan ist in der Schule eine Klasse über ihr, sagt sie, und Jonathan ist nicht sein richtiger Name, so wie ihrer nicht Sarah ist. Trotzdem will sie mich weiterhin besuchen kommen, weil sie sich bei mir wohl fühlt.

»Wirst du mir denn den richtigen Namen deines Babys verraten?«

»Sicher«, erwidert sie und beißt in einen von meinen selbstgebackenen Scones. Ein paar Krümel fallen auf ihren gewölbten Bauch. Ich ärgere mich ein wenig darüber, dass Sarah mir nach sechs oder sieben Wochen noch immer nicht ihren echten Namen sagen will. Ich weiß, sie hat Angst, dass ich ihr Geheimnis ihrem Vater verrate, aber wenn seine Tochter mit einem Baby nach Hause kommt, weiß er es sowieso.

»Warum bringst du Jonathan nicht mal mit? Ich würde ihn gern kennenlernen.« Mit niedergeschlagenen Augen isst Sarah ihr Scone. Sie antwortet nicht.

Wir unterhalten uns eine ganze Weile lang und sehen fern, und dann hole ich ein paar Fotos aus dem unbenutzten Zimmer. Ich setze mich dicht neben Sarah und lege den Arm um sie. Weil sich ihre Schultern so knochig anfühlen, biete ich ihr noch ein Scone an. Ihr Baby soll doch nicht untergewichtig zur Welt kommen. Obwohl ihre Schwangerschaft schon weit fortgeschritten ist, sieht man ihr nicht sehr viel an. Eine ganz bestimmte Schachtel mit Fotos habe ich oben gelassen. Es sind die Bilder von Natasha.

»Hier sind Andy und ich im Urlaub. Wie ich da ausgesehen habe!«

»War er dein Mann?«, fragt Sarah.

»Ja, aber wir sind schon lange geschieden.«

»Du hattest einen Mann und hast ihn tatsächlich gehen lassen?« Sarah schaut mich mit großen Augen an. Sie hat ein paar Krümel am Mund. Sie ist schön, und ihr Baby wird bestimmt ebenso schön werden.

»Wir hatten viele Probleme«, erkläre ich ihr. »Die hätten wir nie lösen können.«

Ich erzähle ihr nichts davon, wie Andy sich in ein hasserfülltes Nervenbündel verwandelte. Wie er mich anspuckte und schlug und meine Kleider zerriss und mir das Haar abschnitt, als ich schlief.

Ich erzähle Sarah auch nicht, dass Andy meinen Wagen manipulierte, sodass ich in eine Hecke krachte, und wie er versuchte, mich mit Terpentin zu vergiften. Wahrscheinlich würde sie nicht verstehen, dass seine Wut auf mich schließlich so riesengroß wurde, dass ich sie noch spüren konnte, wenn er gar nicht da war. Sie wuchs und wuchs in ihm wie ein Tumor, aber er wollte sich von niemandem helfen lassen. Andy machte mich allein für Natashas Verschwinden verantwortlich.

»Jonathan und ich werden nie Probleme haben. Wir lieben uns.« Sarah hebt die Füße hoch und wärmt sich die Zehen am elektrischen Kamin. Heute trägt sie einen Sari, um ihren Babybauch zu verstecken, und dazu leuchtend rosa und grüne Zehensocken. Der bestickte Stoff des Saris fällt in großen Falten über das Baby. Er ist smaragdgrün und purpurrot und hat eine goldene Kante. Sarah trägt kein Make-up und in diesem letzten Stadium der Schwangerschaft wirkt ihre Haut wie feines Wildleder. Ihr Haar ist lang und glänzend. Ich bin so aufgeregt wegen des Babys!

»Lies noch mal meine Hand«, sagt Sarah lachend und kuschelt sich enger an mich. »Zeig mir die Kinderlinie.« Sarah duftet nach Kardamom und Kreuzkümmel und Zimt. Wie ein großer Tandoori-Kochtopf. Ich nehme ihre Hand und studiere die krakeligen braunen Linien in ihrer hellen Handfläche.

»Schau, das hier ist dein Baby.« Von den unterbrochenen Linien und all den anderen Kindern, die sie noch bekommen wird, sage ich nichts.

Lächelnd greift sie nach meiner linken Hand und fährt mit ihrem langen Fingernagel über meine Handfläche. »Also muss das hier deine Kinderlinie sein. Schau nur, Cheryl, du wirst noch ein Baby bekommen!«

Ich lächle ebenfalls und schaue hoch. Unsere Gesichter sind sich so nahe, doch unsere Gedanken so weit voneinander entfernt …

»Ja«, sage ich, hebe ihre Hand an meinen Mund und drücke einen kleinen Kuss darauf.