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obert überlegte, ob er Erins und Rubys Verschwinden der Polizei melden sollte. Aber die Polizei war für Verbrechen zuständig, und wie man es auch drehte und wendete, Erin hatte nichts Unrechtes getan, jedenfalls nicht im Sinne des Strafgesetzbuches. Wenn eine Frau ihren Mann verließ, weil er ihr nachspionierte, ging das die Polizei nichts an. Sie würden ihn nur auslachen und wieder nach Hause schicken.
Robert nahm ein Taxi zu Dens Haus, wo sein Auto stand. Dann fuhr er zu »Floristik taufrisch« und schloss die Ladentür mit dem Ersatzschlüssel auf. Zum Glück hatte Erin den Alarmcode nicht geändert. In dem dunklen Verkaufsraum roch es nach Blumen und abgestandenem Wasser.
Durch die große Schaufensterscheibe blickte Robert in den prasselnden Regen hinaus. Er war froh, dass sich die tüchtige Louisa der Angelegenheit angenommen hatte. Dennoch wurden seine Schuldgefühle immer größer, als er darüber nachdachte, wie sie jetzt trocken und sicher in seinem Haus saß, während sich Erin und Ruby womöglich irgendwo draußen herumtrieben.
Ob Erin wohl auch gerade zu den dunklen Regenwolken hinaufblickte? Hatte sie die Blitze gesehen, die quer über den Horizont zuckten? Lief sie vielleicht ziellos und durchnässt durch die Straßen, Ruby hinter sich herziehend? Robert trommelte mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. Ein weiterer Blitz erhellte den Himmel.
»Hol dich der Teufel, Erin Knight!«, stieß Robert hervor. Vor lauter Liebe zu ihr tat ihm das Herz weh.
Er wusste nicht recht, was er jetzt tun sollte. Die Arbeit in der Kanzlei konnte warten. Zunächst einmal wollte Robert den Blumen neues Wasser geben. Er hatte eine ungefähre Idee davon, was der Warenbestand wert war. Wenn die Blumen verdarben, war das ein teurer Spaß. Robert hoffte insgeheim, dass Erin auf irgendeine Weise spüren konnte, dass er sich um ihre Blumen kümmerte. Dann würde sie wissen, dass die Liebe zwischen ihnen trotz allem noch nicht erloschen war.
Robert hatte sich auf den ersten Blick in Erin verliebt und bald gemerkt, dass ihre Liebe wie eine zarte Blüte war, die gehegt und gepflegt werden wollte. Während er jetzt behutsam ein Dutzend safrangelbe und kirschrote Orchideen aus einem Eimer nahm, hatte er das Gefühl, als hielte er schöne Frauen in seidenen Saris in seiner Hand, Frauen, die sanft die Köpfe neigten, als er sie auf dem Ladentisch ablegte. Er ging ins Hinterzimmer, goss das alte Wasser aus, füllte den Eimer neu und stellte die Blumen dann vorsichtig wieder hinein. Das Gleiche machte er mit allen zwanzig Eimern, bevor er die Blüten besprühte und verwelkte Blumen aus dem Schaufenster entfernte. In der Zeit rüttelten mehrere Kunden an der Tür, an der noch immer das »Geschlossen« -Schild hing.
Als Robert fertig war, setzte er sich auf Erins Stuhl hinter den Ladentisch und sehnte sich nach einer Zigarette. Er fühlte sich so leer wie noch nie zuvor.
Beim Anblick des Strafzettels unter dem Scheibenwischer versetzte Robert dem Autoreifen einen wütenden Tritt und ließ den Wagen, wo er war. Er wanderte ziellos durch die Straßen, bis er in einer Kneipe landete. Dort trank er mehrere Bourbon und steckte ein paar Münzen in den Zigarettenautomaten. Gleich darauf inhalierte er tief den Rauch und genoss den leichten Schwindel, den ihm diese erste Zigarette seit langer Zeit verursachte. Seit er Erin kannte, hatte er nicht mehr geraucht. Stundenlang saß er schweigend da und bedauerte sich selbst, weil sein Schicksal eine so grausame Wendung genommen hatte.
Als Robert schließlich aus der Kneipe trat, spürte er den Regen gar nicht. Erst als er sich mit der Hand über das Gesicht strich, merkte er, dass er völlig durchnässt war. Die Straßen, durch die er abermals aufs Geratewohl lief, waren ihm fremd und fern, wie die Linien auf einem Stadtplan. Sein nasses Hemd klebte ihm am Körper und er dachte unwillkürlich daran, wie er Erin unter der Dusche zugesetzt hatte. Er hätte wissen müssen, dass sein Verhalten sie aus dem Haus treiben würde.
Er steckte sich eine neue Zigarette an und sog den scharfen Rauch tief in die Lungen. Der Rauch hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund, so bitter wie an dem Tag, als er nach Brighton gefahren war und die Wahrheit über Erins Vergangenheit herausgefunden hatte. In seinem vom Alkohol benebelten Hirn formte sich der Gedanke, dass er auf der Stelle Baxter King anrufen sollte, um noch mehr über Erin herauszubekommen.
Robert kauerte sich in einem Ladeneingang zusammen und kramte in der Tasche nach seinem Mobiltelefon. Es war nicht da. Vor Wut fluchend trat er kräftig gegen die Hauswand. Nach und nach dämmerte es ihm, dass er das Handy wohl in der Kneipe vergessen hatte, doch er wusste nicht mehr, welche Kneipe es gewesen war und wo sie sich befand. Seine Brieftasche war jedoch noch da. Er schaute sich nach einer Telefonzelle um.
Die Zelle war eng und stank nach Urin, doch zumindest war er im Trockenen. Durch die feuchten Kleider und seinen Atem beschlugen die Scheiben im Handumdrehen. Er nahm den klebrigen Hörer ab und wollte gerade die Auskunft anrufen, als sein Blick auf ein halbes Dutzend rosafarbene, rote und schwarze Visitenkarten fiel, die an der Wand über dem Telefon hingen.
Heiße Massagen … Scharfe Krankenschwester … Domina … Dicke Titten … Exotische Mädchen … Blonde Mädchen … Junge Mädchen …
Die Worte verschwammen Robert vor den Augen. Auf einigen der angeschmuddelten Karten waren Mädchen abgebildet, die nicht viel älter aussahen als Ruby. Willkürlich riss er eine Karte ab und schaute sich das Foto näher an. Die stark geschminkte Frau, die hier ihren Körper anbot, schien älter als die anderen zu sein. Auf einmal verwandelten sich ihre Züge und er sah Erins Gesicht, glücklich lächelnd am Tag ihrer Hochzeit.
»Helena verwöhnt dich im privaten Ambiente«, las er leise. Trotz ihrer aufreizenden Pose und der dicken Schicht Makeup war Helena eine attraktive Frau mit einem wohlgeformten Körper.
Ohne nachzudenken wählte Robert ihre Nummer. Er war noch immer so betrunken, dass er gar nicht recht wusste, was er tat. Er wusste nur, dass er irgendeinen Menschen brauchte, der ihn tröstete und ihm Antworten auf seine Fragen gab. Womöglich war Helena dieser Mensch.
Robert rief ein Taxi und ließ sich zu Helenas Adresse bringen. Ihre Stimme hatte am Telefon angenehm geklungen, und sie war offenbar sehr darauf aus gewesen, sich diesen Kunden zu sichern. Auch Robert konnte es kaum erwarten, sie zu treffen. Doch die Gründe für ihrer beider Ungeduld hätten unterschiedlicher nicht sein können: Ihr ging es ums Geld, er suchte nach Erklärungen.
Während der Fahrt malte er sich aus, wie die Frau ihre Kleider abstreifte und in ihrem Boudoir zwischen seidene Betttücher glitt. Wie sie seine Sinne mit Vanille- und Moschusparfums kitzelte und sich alle erdenkliche Mühe gab, ihren Kunden zufrieden zu stellen – genauso wie es Erin wohl hunderte Male getan hatte.
»Macht dreizehn Pfund, Kumpel.« Der Taxifahrer hatte vor einigen Reihenhäusern gehalten und die Trennscheibe heruntergelassen. Robert bezahlte und stieg aus. Im strömenden Regen ging er bis zu Helenas Haustür und klingelte. Er fühlte sich schon jetzt beschmutzt.
Die Übergardinen vor den Fenstern waren zugezogen, obwohl es erst Nachmittag war, und die Eingangstreppe war mit Abfall und Zigarettenkippen übersät. Im Laufe der Taxifahrt war Roberts Kopf etwas klarer geworden, doch nicht klar genug, um den Rückzug anzutreten. Er musste um jeden Preis etwas über Erins früheres Leben in Erfahrung bringen.
Robert glättete mit den Händen sein nasses Haar. Unrasiert, wie er war, bot er vermutlich einen traurigen Anblick, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er brauchte ja keinen guten Eindruck zu hinterlassen. Da wurde die Tür geöffnet, und eine Frau in einem dunkelblauen Männerbademantel stand vor ihm.
»Robert Knight?«, fragte sie. Ihre Stimme war tief und rau. Sie hielt eine Zigarette in der Hand. Robert nickte. »Dann kommen Sie mal rein.« Es war nicht die Frau auf dem Foto. Das konnte unmöglich Helena sein.
Robert folgte ihr die Treppe hinauf nach oben. Im schummrigen Licht konnte er nicht viel erkennen, doch er roch Bier und hörte, dass irgendwo unten ein Fußballspiel im Fernsehen lief. »Hier rein«, sagte die Frau und ließ ihm den Vortritt.
»Nett, Sie kennenzulernen, Mr Knight«, sagte sie mit breitem Lächeln. »Mein Name ist Helena, wie Sie ja wissen.« Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen, wie um ihm zu verstehen zu geben, dass es kein Entkommen gab.
Doch Robert wollte gar nicht entkommen, ganz gleich, wie Helena aussah. Er brauchte sie – vermutlich dringender als ihre sonstigen Kunden –, denn er musste unbedingt etwas über das geheime Leben seiner Frau herausfinden. Dabei lag ihm nichts daran, sie zu berühren. Im Gegenteil, allein der Gedanke widerte ihn schon an. Worum es ihm ging, waren ihre Gedanken und Gefühle. Und ihre Beweggründe. Warum tat sie das hier?
»Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem.« Helena deutete auf das Bett und schob den Riegel vor die Tür.
Allmählich gewöhnten sich Roberts Augen an das Zwielicht. Obwohl die dunkelroten Nylongardinen zugezogen waren und nur eine Lampe brannte, sah er, dass das Zimmer klein und – abgesehen von dem Bett – lediglich mit einem Stuhl voller Kleider und einem hölzernen Garderobenständer hinter der Tür möbliert war. Mit Schaudern erkannte er, dass Peitschen, lederne Kleidungsstücke und mehrere Paar Handschellen daran hingen. Helena hatte seinen Blick bemerkt.
»Haben Sie Lust darauf?« Sie zwinkerte ihm zu.
»Ist nicht unbedingt mein Ding«, krächzte er, worauf sich Helena neben ihn auf die Bettkante setzte.
»Was ist denn Ihr Ding, Mr Knight? Was kann Helena heute Nachmittag für Sie tun?«
Statt einer Antwort musterte er sie und fragte sich, wie sie wohl zur Prostitution gekommen war. Er sah den leeren Augenausdruck, die wächserne Haut, die sich über den Wangenknochen spannte, und das lange, zu häufig gebleichte Haar, das dringend einen Friseur nötig gehabt hätte. Obwohl sie noch immer ihren Bademantel trug, konnte Robert sehen, dass Helena sehr dünn war. Ihre knochigen Finger, die die Zigarette im Aschenbecher ausdrückten, ihr magerer Hals, der aus dem Kragen des Bademantels ragte, und ihre Stirn, die sich über den eingefallenen Zügen wölbte, all das verriet ihm, dass sie zu wenig aß.
»Ich weiß nicht … Vielleicht könnten wir uns ein bisschen unterhalten.« Robert schluckte. Warum weckte Helenas ausgemergelter Körper nur diesen Beschützerinstinkt in ihm? Im Augenblick interessierte sie ihn mehr als jede andere Frau auf der Welt, dabei fand er sie so anziehend wie eine tote Ratte. Stand sie in seinen Augen für Erin? War es das?
Helena drückte ihn sanft auf das Bett, knöpfte sein Hemd auf und wollte ihm gerade die Hosen ausziehen, als Robert ihre Hand festhielt und ihr damit Einhalt gebot. Plötzlich drang der Lärm des Fernsehers noch lauter nach oben. Helena sprang auf und lief zur Tür.
»Stell das verdammt noch mal leiser, Josh!« Sie trat wieder ans Bett, legte ihren Bademantel ab und lächelte auf Robert hinunter, der wie erstarrt dalag. Dann begann sie mit schnellen, kreisenden Bewegungen seine Brust zu massieren. »Schauen Sie doch nicht so ängstlich, Mr Knight. Ich werde Ihnen schon nichts tun.« Helena bekam einen Hustenanfall. Es klang, als würden sich ganze Schichten von Teer und Schleim in ihrer Kehle lösen.
»Nein!« Er richtete sich auf und starrte auf ihren Körper, vor den sich jetzt Erins wunderschönes Bild schob. Er wollte diesen Körper berühren, um herauszufinden, ob es wirklich Erin war. Mit der Hand über den flachen Bauch streichen, dessen Haut schon lange ihre Spannkraft verloren hatte.
Doch da löste sich Erins Bild auf, und Robert starrte auf Helenas schlaffe Brüste, deren riesige Nippel aussahen, als hätte sie sie in geschmolzene Schokolade getunkt.
Ohne auf Roberts Einspruch zu achten, drückte Helena ihn mit ihren sehnigen Armen zurück aufs Bett und begann, ihn kraftvoll zu massieren. Als sie um ihn herumging, erhaschte er einen Hauch ihres natürlichen Geruchs, einer Mischung aus dem Duft regennasser Erde und altem Schweiß.
»Das da unten ist mein Sohn, er stellt den verdammten Fernseher immer so laut.« Helena stieß ein gackerndes Lachen aus, ohne von Robert abzulassen. »Darf s jetzt vielleicht ein bisschen mehr sein, mein Schatz? Du bist scheinbar nicht mehr ganz so verkrampft.«
»Ihr Sohn?« Wieder setzte Robert sich auf. Er fühlte sich unbehaglich.
»Mach dir keine Gedanken. Er ist daran gewöhnt. Wie sonst sollte ich das Geld beschaffen, um ihn zu ernähren und auf die Universität zu schicken? Ich selbst gehe auch wieder zur Schule, musst du wissen. Weil ich was Gescheites lernen will.« Helena drückte Robert abermals aufs Bett und machte sich an seiner Hose zu schaffen.
»Auf welche Schule gehen Sie denn?«, fragte er ungläubig.
»Ich mache das Abitur nach. Meine Hauptfächer sind Psychologie und Englisch. Anschließend will ich Therapeutin werden, damit ich all den verkorksten Weibern da draußen helfen kann.« Sie lachte und musste erneut husten. »So wie ich eins bin«, fügte sie hinzu, als sie wieder sprechen konnte.
Dann, mit einer behänden Bewegung, legte sich Helena plötzlich auf Robert und begann, aufreizend mit ihren Hüften zu kreisen. Er hatte das Gefühl, als läge ein dünnes Ledertuch auf ihm.
Angesichts ihrer Worte war Robert wie erstarrt. Wie verzweifelt und zugleich wild entschlossen musste diese Frau sein, dass sie ihren Körper an fremde Männer verschacherte, während unten ihr Sohn fernsah? Als sie abermals versuchte, seine Hose zu öffnen, zog er rasch die Beine an und rollte sich auf die Seite.
»Tut mir leid, aber ich kann nicht. Wegen Ihrem Sohn und … überhaupt.«
Im selben Augenblick wurde Robert klar, dass Erin der eigentliche Grund war. Dass sie sein ganzes Leben bedeutete und er sie um jeden Preis wiederhaben wollte.
»Und überhaupt?« Helena war nicht böse. Sie schien sich über seine Weigerung eher zu amüsieren.
»Mir geht so viel im Kopf herum«, antwortete Robert. »Ich bin in Wahrheit auch gar nicht hergekommen, weil ich Sex mit Ihnen haben wollte.«
»Ich richte mich ganz nach den Wünschen meiner Kunden. Dann eben nur die Massage, wenn Ihnen das lieber ist.« Helenas Stimme bekam einen verzweifelten Unterton. »Sie können mir auch die Peitsche geben, wenn Sie wollen.«
»Ich werde natürlich bezahlen. Es ist nur so, dass …« Robert vergrub die Hände in seinem Haar. »… Ich würde gern mehr über Ihre Arbeit wissen. Über Prostituierte ganz allgemein.« Es fiel ihm schwer, dieses Wort zu benutzen. Es erinnerte ihn zu sehr an seine Frau – und gleichzeitig wehrte er sich dagegen, Erin mit Helena auf eine Stufe zu stellen.
»Was gibt es da schon zu wissen?« Helena zog sich den Bademantel über und setzte sich ans Fußende des Bettes. »Ich tue es für meinen Lebensunterhalt. Vielleicht auch aus Verzweiflung. Aber eigentlich bin ich gar nicht verzweifelt«, fügte sie nachdenklich hinzu und zog ihre Zigaretten aus der Tasche. Nachdem sie Robert eine angeboten hatte, saßen sie beide in einer Wolke aus blaugrauem Rauch und unterhielten sich darüber, wie Helena zu ihrem Gewerbe gekommen war.
»Ich finde nichts Schlimmes dabei. Dank dieser Arbeit kann ich meine Rechnungen bezahlen, meinem Sohn eine Ausbildung ermöglichen und ich habe ein Dach über dem Kopf. Ich biete euch armen, zu kurz gekommenen Männern meine Dienste an, damit ihr euch nicht an jungen Mädchen vergreift.« Robert räusperte sich und wollte gerade protestieren, da fügte sie augenzwinkernd hinzu: »Anwesende natürlich ausgenommen. Ich fing damit an, als mein Mann mich verließ«, fuhr sie fort. »Anfangs ergab es sich nur gelegentlich unten im Pub. Wenn jemand mit mir anbändeln wollte, machte ich ihm gleich klar, dass er dafür bezahlen musste. Wenn ich im Pub einen Maurer kennenlerne, der mir einen Anbau ans Haus machen soll, dann erwarte ich doch auch nicht, dass er es umsonst tut.«
Robert verkniff es sich, solche Nebensächlichkeiten wie Liebe und Ehe, Vertrauen und Respekt zu erwähnen. Vor seinem inneren Auge sah er Erin, wie sie sich mit einem Kunden traf, sich auszog, mit ihm schlief und hinterher Geld dafür einstrich. Hatte sie es für Ruby getan? Wusste Ruby, dass ihre Mutter eine Nutte war? Wortlos knöpfte Robert sein Hemd zu und schickte sich an zu gehen.
»Warum fragen Sie das überhaupt?«
Robert starrte Helena an. Er fröstelte – wegen des feuchten Hemdes und weil er das Bild von Erin mit einem Freier einfach nicht loswurde. »Eine Frau, die ich liebe, hat mal auf diese Art ihr Geld verdient. Ich wollte den Grund dafür herausfinden.« Er stieß den Atem aus.
»Und? Haben Sie ihn herausgefunden?«
Robert zögerte für einige Sekunden, den Blick noch immer auf Helena geheftet. Er betrachtete ihre offenen, ehrlichen Augen und ihren verbrauchten Körper und wusste auf einmal, dass er wirklich etwas über Erins früheres Leben erfahren hatte. Er hatte dem neuen Bild seiner Frau ein weiteres winziges Mosaiksteinchen hinzugefügt. Doch das Bild gefiel ihm nach wie vor nicht.
»Ich glaube schon«, antwortete er. »Sie ist Ihnen nämlich ähnlich. Eine Überlebenskünstlerin.« Robert beugte sich vor und gab Helena einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann nahm er fünfzig Pfund aus seiner Brieftasche. »Das war der teuerste Kuss meines Lebens«, sagte er lakonisch und gab ihr das Geld. Sie stopfte es in die Tasche ihres Bademantels.
»Sie können sich noch glücklich schätzen, Mr Knight. Küssen ist bei mir normalerweise nicht drin.«
»Danke«, fügte Robert hinzu und fragte sich im selben Augenblick, ob er für die neuen Einsichten in Erins Vergangenheit wirklich so dankbar war. »Und viel Glück bei Ihrer Ausbildung.«
»Ihnen auch viel Glück«, sagte Helena leise und brachte ihn zur Tür.
Als er endlich wieder einigermaßen nüchtern war, bekam Robert schreckliche Sehnsucht nach seiner Frau. Er wollte sie in den Armen halten, sie berühren und lieben, ganz egal, ob sie schon mit zahllosen anderen Männern geschlafen hatte oder nicht. Wenn ja, hatte sie es bestimmt nicht ohne triftigen Grund getan, sagte er sich.
Zu Hause erinnerte ihn alles an Erin. Die halb verwelkten Blumen, der volle Wäschekorb, ihre Jacke, schief über eine Stuhllehne gehängt, der Einkaufszettel, der sie daran erinnern sollte, Tamarindenpaste und Mandelsplitter zu kaufen – beim Anblick dieser alltäglichen Dinge wusste er plötzlich, dass er es jetzt, nach dem Besuch bei Helena, fertigbringen würde, Erin zu verzeihen. Es würde ihn viel Kraft und Überwindung kosten, doch es war möglich. Wenn sie nur wieder nach Hause käme.
Robert schaute sich noch einmal in dem leeren Haus um – Louisa war gegangen, ohne eine Spur zu hinterlassen – und legte sich dann hin, um die letzten Reste seines Rausches auszuschlafen.
Er hatte das Gefühl, gerade erst eingenickt zu sein, als ihn am nächsten Morgen das Klingeln des Telefons weckte. Einen Augenblick lang hoffte er, Erin würde ihn anrufen, doch es war Louisa. Sie amüsierte sich über seine verschlafene Stimme und teilte ihm auf ihre ruhige, besonnene Art mit, dass sie interessante Neuigkeiten für ihn habe.