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D

ie M3 war frei und auch auf der A303 Richtung Martock herrschte wenig Verkehr. Robert, der es nicht ausstehen konnte, im Stau zu stehen, war hervorragender Laune, trotz der merkwürdigen Neuigkeiten, die er am Morgen von Tanya erfahren hatte. Mit undurchdringlicher Miene saß Erin neben ihm. Ihr Haar flatterte im Wind. Robert hatte vorgeschlagen, das Verdeck hochzuklappen, doch Erin und Ruby fanden es schön, sich vom Wind durchpusten zu lassen. Sobald London hinter ihnen lag, schienen alle drei gleich besserer Stimmung zu sein.

»Bevor du fragst, Ruby: noch ungefähr eine Dreiviertelstun­de.« Robert grinste in den Rückspiegel. Bis zum frühen Nachmittag hatte er seine dringendsten Arbeiten erledigt, sodass er Ruby rechtzeitig von der Schule abholen konnte. Sie hatte ihre erste Woche in der neuen Schule hinter sich. Dann waren sie zusammen zu »Floristik taufrisch«, Erins Blumenladen, gefahren. Robert hatte seiner Frau bereits mehrmals versichert, dass Tanya durchaus in der Lage sei, am Samstag im Geschäft die Stellung zu halten.

»Bist du wirklich sicher, dass Tanya vertrauenswürdig ist?«, fragte Erin erneut, als sie von der Schnellstraße auf eine Landstraße abbogen. Sie strich sich das Haar glatt und band sich ein kirschrotes Tuch um den Kopf. Offenbar wollte sie bei ihrer Ankunft nicht allzu zerzaust wirken.

»Tanya arbeitet schon seit Jahren für mich. Ich habe sie gut erzogen.« Robert grinste abermals und warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, bevor er die Augen wieder auf die Straße richtete. »Entspann dich einfach und genieße das Wochenende.« Als ihm Tanyas sonderbare Worte vom Morgen wieder in den Sinn kamen, packte er unwillkürlich das Lenkrad fester. Es musste eine ganz normale Erklärung dafür geben. Er wollte sich jedenfalls nicht das Wochenende verderben lassen und beschloss, Erin erst darauf anzusprechen, wenn sie wieder zu Hause waren.

Das Maples Country House Hotel war ein großes imposantes Gebäude direkt neben der Kirche. Die Mauern aus dem für die Gegend typischen gelblichen Stein leuchteten im Licht der untergehenden Sonne orangefarben, und das Laub der nahen Bäume malte ein Spitzenmuster auf die Fassade.

»Sehr hübsch«, bemerkte Erin zurückhaltend, während sie das Gebäude und die Grüppchen von Gästen in der Einfahrt betrachtete. »Ich könnte mir vorstellen, dass sich Louisa sehr freuen wird, dich wiederzusehen.«

Robert seufzte angesichts der Spur von Bitterkeit in Erins Worten. »Sie ist in erster Linie wegen der Hochzeit ihrer Cousine hier. Und wir sind zur Erholung hier.« Er stieg aus und schloss die Wagentür. Bevor er das Gepäck aus dem Kofferraum holte, legte er Erin die Hände auf die Schultern und küsste sie zärtlich auf den Mund. Das Letzte, was er wollte, war, dass sich Erin unbehaglich fühlte. »Ja, es wird nett sein, Louisa mal wieder zu treffen. Ich bin sicher, dass ihr Mann, dieser Willem Soundso, keinerlei Probleme damit haben wird.«

Die Augen gegen die tief stehende Sonne zusammenge­kniffen, blinzelte Erin zu ihm hoch. »Warum nennst du seinen Namen dann in solch einem … säuerlichen Ton?«

Nicht säuerlicher als der Ton, in dem du Louisa erwähnt hast, dachte Robert, sagte jedoch nichts, um das Wochenende nicht von vornherein zu verderben.

»O Dad, hier sieht es traumhaft schön aus!«, rief Ruby und rutschte vom Rücksitz. »Und schau mal da, Pferde!« Sie zeigte auf ein Gespann mit zwei gescheckten Tieren, das gemächlich durchs Dorf zockelte. »Kommt, wir suchen unsere Zimmer!«

Nein, an diesem Wochenende durfte einfach nichts schiefgehen, dachte Robert und blickte Ruby nach, die mit ihrem etwas schlaksigen Gang im Eingang zum Hotel verschwand. Auch wenn sie allmählich eine junge Frau wurde, hatte sie ihre Kindlichkeit noch nicht völlig verloren. Er hob die beiden Reisetaschen aus dem Kofferraum und folgte ihr mit raschen Schritten.

An der Anmeldung dauerte es lange, doch Robert machte es nichts aus zu warten. Wegen der Hochzeitsgesellschaft war das Hotel ausgebucht. Sie hatten Glück gehabt, kurzfristig noch zwei Zimmer zu bekommen. Robert ließ seine Blicke durch die Eingangshalle wandern und tat so, als bewundere er die Landschaftsgemälde, die Bilder mit Jagdszenen und die antiken Möbel. Doch in Wahrheit suchte er in der Menge der Hochzeitsgäste Louisas Gesicht. Er hatte ihr oft gesagt, dass es einem dank der jadegrünen Augen und des rotbraunen Haars sofort ins Auge fiel. Was in ihrem Beruf eher hinderlich war, dachte Robert.

Plötzlich glaubte er, Louisa für einen kurzen Augenblick entdeckt zu haben, wie sie am anderen Ende der Halle in der Damentoilette verschwand. Es war nur das flüchtige Bild eines aufgesteckten roten Haarschopfes über einem blassen, schlanken Hals, dazu die hochgewachsene Gestalt und der elegante Gang …

»Wonach hältst du denn Ausschau?« Erin spähte in dieselbe Richtung wie Robert und zuckte dann die Achseln. »Schau mal, wir sind dran.« Sie stupste Robert an und drängte ihn zur Rezeption. Jetzt, da Erin so dicht bei ihm stand und sogar den Arm um seine Taille geschlungen hatte, mochte er sich nicht nach Louisas Zimmernummer erkundigen.

Nachdem er das Anmeldeformular ausgefüllt hatte, ging Robert seiner Frau und Ruby voraus zum Fahrstuhl. Dabei huschten seine Blicke immer wieder zur Tür der Damentoilette hinüber. Als die Fahrstuhltür aufging, traten sie einen Schritt zurück, weil ein älteres Ehepaar sich damit abmühte, einen riesigen Koffer aus der engen Kabine zu zerren. Dann hüpfte Ruby in den Aufzug und drückte den Knopf, der die Türen offen hielt. Erin folgte ihr und zuletzt kam Robert mit den beiden Reisetaschen.

»Robert?« Die Stimme war unverkennbar. Er schob einen Fuß zwischen die sich schließenden Türen, die daraufhin wieder auseinanderglitten. Das Erste, was er sah, war ihr breites Lächeln und die hübschen grünen Augen hinter einer nüchternen, schwarz gefassten Brille. »Ich habe mir schon gedacht, dass du bereits hier bist«, sagte Robert und erwiderte ihr Lächeln. Er stellte sich mit dem ganzen Körper zwischen die Aufzugtüren, die mit leisem Klicken immer auf- und zugingen. »Die ist hübsch«, sagte er, wobei er jedoch keine Hand frei hatte, um zu zeigen, dass er Louisas neue Brille meinte.

»Dad, du machst noch den Aufzug kaputt!«

Für ein paar lange Sekunden schauten sie einander schweigend an. Robert wusste nicht, ob er den Fahrstuhl verlassen oder mit den Worten »Wir sehen uns dann später« nach oben fahren sollte. Louisa löste das Problem für ihn.

»Wir treffen uns mit ein paar anderen um sieben in der Bar. Kommt doch auch dazu«, sagte sie mit einem Blick, der Erin und Ruby in die Einladung mit einschloss.

»Also dann, bis nachher«, antwortete Robert und gab die Tür frei. Sie schloss sich zischend.

Die Hotelzimmer waren klein, doch ansprechend möbliert, in dem ländlichen Stil, den Erin so mochte.

Behutsam, um die Steppdecke nicht völlig in Unordnung zu bringen, streckte sie sich auf dem Bett aus.

»Ich lasse dir ein heißes Bad ein«, sagte Robert. »Und im Kühlschrank ist Wein.« Es war schon beinahe halb sieben. Bis Erin ein langes Bad genommen hatte und dann fertig angezogen war … Robert zog mit einem Plopp den Korken aus der Weinflasche. Er wollte unbedingt ein paar Minuten mit Louisa allein sein und sie um Rat fragen. Danach würde er voller Stolz seine Familie präsentieren.

»Sollen wir uns wirklich mit Louisa und ihren Bekannten treffen?«, fragte Erin. »Ich hatte mich eigentlich auf ein ruhiges Abendessen im Hotelrestaurant gefreut. Wir könnten Ruby etwas zu essen ins Zimmer bringen lassen – im Fernsehen gibt es bestimmt genug Programme, um sie für eine Weile zu beschäftigen.« Erin stand vom Bett auf.

»Es ist doch nur auf ein Glas. Wir können es ja kurz machen und bald zum Essen gehen. Aber ich denke, Ruby sollte nicht allein in ihrem Zimmer bleiben.« Robert reichte Erin ein Glas Wein und schob sie mit sanftem Nachdruck ins Badezimmer.

Während der ersten zehn Minuten stand Robert an der Bar, seinen Whisky noch unberührt in der Hand, und schaute müßig zu der Band hinüber, die neben der Tanzfläche ihre Instrumente auspackte. Dabei warf er hin und wieder einen Blick auf das halbe Dutzend Männer, die sich um Louisa geschart hatten, und überlegte, wer von ihnen wohl Willem sein mochte, ihr Ehemann. Robert hielt sich in der Nähe der Gruppe auf, aber dennoch weit genug entfernt, um nicht zu Louisas Hofstaat gezählt zu werden.

»Rob!« Das war keineswegs ein Hilferuf – Louisa war nicht die Frau, die man vor dem Ansturm ihrer Verehrer retten musste.

»Hallo«, antwortete er gelassen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Mit gespielt verzweifeltem Augenaufschlag löste sich Louisa aus der Gruppe der Bewunderer. Ihr Mann war offenbar nicht darunter. Robert fragte sich, wer von den Männern wohl zu gegebener Zeit die ersten Annäherungsversuche gemacht hätte.

»Das Wasser steht dir bis zum Hals, was?«, sagte Robert.

»Nun, zum Glück kann ich schwimmen! Und wenn ihre Frauen herunterkommen, verziehen sie sich sowieso.« Als Louisa lächelte, bemerkte Robert die feinen Fältchen in ihren Augenwinkeln, die hinter den Brillengläsern noch deutlicher sichtbar waren.

Sie hielt Robert ihr leeres Glas hin. »Ich habe Durst«, klagte sie, »und ich hasse Hochzeiten.«

Robert hätte ihr am liebsten seinen eigenen Drink angeboten, um mit der Bestellung nicht noch mehr kostbare Zeit zu vergeuden.

»Aber du hast doch selbst gerade erst geheiratet«, sagte er, während er versuchte, die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf sich zu lenken.

Sie lachte. »Ich hasse Hochzeiten trotzdem.«

Als Robert schließlich Louisas Drink in Empfang genommen und bezahlt hatte, saß sie bereits an einem der kleinen Hochglanztischchen auf einem ebenso glänzenden Ledersofa. Er ließ sich neben ihr in den quietschenden Ledersessel sinken. Louisa spielte mit einer Haarsträhne, die ihr über die Wange fiel, und seufzte.

»Eine Hochzeit hat mehr mit Besitzergreifung als mit Liebe zu tun. Finde ich wenigstens«, sagte sie.

»Probleme?« Robert war versucht, ihr über die Schulter zu streicheln. Ihr bedauernder Tonfall machte ihn traurig. Er musste daran denken, wie sie beide am Telefon mit ihren glücklichen Ehen geprahlt hatten. Als sie zustimmend nickte, wollte er nicht weiter darauf eingehen, doch Louisa blieb beim Thema.

»Und du? Genießt du die Freuden des Ehelebens?« Ihre Blicke trafen sich.

»Es ist wirklich schön«, erwiderte er und wunderte sich, warum die Worte in seinen Ohren wie eine Lüge klangen. »Obwohl es nicht leicht ist, gleich eine ganze Familie frei Haus geliefert zu bekommen. Also inklusive einem Kind.«

»Sieht sie ihren Vater oft?« Louisas klare Stimme klang angenehm beruhigend in seinen Ohren.

»Das ist ja das Seltsame. Es gibt keinen Vater. Ruby ist ein nettes Mädchen, auch wenn sie Probleme mit ihren Mitschülern hatte. Aber davon will ich jetzt nicht anfangen.« Kaum hatte er die Worte gesagt, hätte sich Robert am liebsten selbst geohrfeigt. Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt, Louisa von Tanyas Information zu erzählen und sie um Rat zu fragen! Schließlich konnte er ihr voll und ganz vertrauen.

»Es sollte wohl nicht sein, was?« Louisa wandte die Augen ab, als bedauerte sie ihre Worte sogleich.

Robert brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sie gemeint hatte. »Nein«, antwortete er dann mit einem Auflachen, um nicht zu zeigen, wie sehr ihn ihre Bemerkung erschüttert hatte. Er trank einen großen Schluck.

»Zuerst heiratest du, dann ich, dann wieder du und jetzt ich auch noch einmal. Das könnte man schlechtes Timing nennen, nicht?« Sie griff nach Roberts Hand, doch er zog sie zurück. Auf keinen Fall wollte er Erin verärgern. Was er einmal für Louisa empfunden hatte, lag gut verborgen in seiner Erinnerung.

»Für jemanden, der Hochzeiten hasst, bist du ganz schön eifrig dabei gewesen.« Robert nahm noch einen Schluck Whisky.

»Wenn wir beide daran beteiligt gewesen wären, hätte es mich nicht gestört.« Angesichts ihrer offenen Worte verstummten beide.

Robert wollte gerade mit einer Bemerkung über Ruby das Schweigen brechen, als er sah, wie sich Louisas Körper versteifte. »Willem«, sagte sie in munterem Ton und stand auf. Ihr gemeinsamer Augenblick war vorüber. »Das ist mein alter Freund, Rob Knight. Er ist Anwalt, und ich habe früher im Auftrag seiner Kanzlei Nachforschungen durchgeführt.«

Willem war jünger, als Robert ihn sich vorgestellt hatte. Er trat einen Schritt näher und streckte Robert die Hand hin. »Nett, Sie kennenzulernen.« Offenbar machte es ihm nicht das Geringste aus, dass seine schöne Frau mit einem Mann zusammensaß, den er nicht kannte. Willem sprach mit einem angenehmen Akzent, und Robert konnte auf Anhieb nichts Unsympathisches an dem Mann finden.

»Die anderen warten in der Lobby auf uns. Wir müssen gehen.«

Louisa wandte sich an Robert. »Wir sind zum Essen mit meiner Cousine und ihrem zukünftigen Mann verabredet. Ich soll als Erste Brautjungfer fungieren, deshalb müssen wir noch einiges besprechen.«

»Du kannst ihr ja von den Freuden des Ehelebens berichten.« Roberts Ton verriet nichts vom Hintersinn seiner Bemerkung, den zwar Louisa erfassen würde, nicht jedoch Willem, der mit den Feinheiten der englischen Sprache ohnehin nicht so vertraut war. »Vielleicht sehen wir uns ja morgen früh. Ich werde nämlich eine Runde joggen.« Robert erinnerte sich noch gut daran, wie sehr Louisa ihr Jogging am Morgen liebte. Louisa lächelte ihm zu und ging am Arm ihres Mannes davon.

Vielleicht lag es ja an den beiden Gläsern Whisky, die er getrunken hatte, während er auf Erin und Ruby wartete. Oder es wäre sowieso geschehen. Im Nachhinein sollte es Robert jedenfalls bitter bereuen, dass er am ersten Abend ihres Wochenendausflugs Erin gegenüber erwähnte, was er von Tanya erfahren hatte.

»Es ist, als würde es Ruby gar nicht geben«, sagte er und trank einen Schluck Wein. Sie saßen im Speisesaal beim Essen, und Robert warf hin und wieder einen Blick in die Bar, um zu sehen, ob Louisa und ihre Freunde schon weder zurück waren. Er schob den Teller ein wenig von sich.

»Sie ist doch nur kurz zur Toilette gegangen«, antwortete Erin und zerlegte ihr Lachsfilet. Sie blickte erst auf, als ihr Roberts eigenartige Wortwahl bewusst wurde. »Du meinst, so wie den Weihnachtsmann oder die Heinzelmännchen?« Vergeblich versuchte sie, die plötzlich bedrückende Atmosphäre mit einem Scherz zu klären.

»Nein, so nicht. Ich meinte …« Er zögerte, linste erneut zur Bar hinüber, trank noch etwas Wein. »Ich meinte damit, dass Tanya nirgendwo einen Nachweis für Rubys Geburt finden konnte.«

Wieder diese unbehagliche Stille. Dann sagte Erin: »Und ich soll mich erholen, während dieses Mädchen meinen Laden hütet?« Sie zupfte weiter an ihrem Fisch herum, ohne einen Bissen zu essen.

»Sie wird es schon schaffen, einen Tag lang Blumen zu verkaufen.«

»Aber sie schafft es nicht, einfache Dokumente aufzutreiben, obwohl das doch wohl zu ihrer täglichen Arbeit gehört.« Erin lächelte ihrer Tochter zu, die gerade wieder ihren Platz am Tisch einnahm.

»Kann ich ein Dessert bekommen?«, fragte Ruby Robert, scheinbar in der Hoffnung, dass er es eher erlauben würde als ihre Mutter.

»Sicher«, antwortete er abwesend. An Erin gewandt, sagte er: »Es ist nicht Tanyas Schuld.« Er hatte die Stimme gesenkt, denn er wollte die Angelegenheit nicht in Rubys Gegenwart besprechen. Dennoch konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Wie ich schon sagte, es gibt keine entsprechenden Unterlagen beim Standesamt.«

Ruby wurde hellhörig. »Geht es um meinen Pass, damit ich nach Wien fahren kann?« Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her und griff nach der Dessertkarte.

Robert nickte. »Keine Sorge, ich kriege das schon hin.«

»Ja, mein Schatz. Er hat den Fall schon seiner Super-Sekretärin übergeben.« Erin wischte sich den Mund mit der Serviette ab und erhob sich. »Du kannst ihr sagen, sie braucht sich keine Mühe zu machen, Robert. Ruby fährt nicht nach Wien.«

Erin verließ abrupt den Raum. Robert schaute ihr mit starrem Blick nach, um nicht Rubys enttäuschte Miene sehen zu müssen.

»Wie wäre es mit einem großen Schokoladeneis?«, fragte er schließlich, wohl wissend, dass es für Ruby nicht der geringste Trost sein würde.

Erin saß gegen die Kissen gelehnt im Bett und las in einem Buch. Im Zimmer roch es leicht nach Gesichtscreme und Kräutertee. Robert warf seine Schlüssel und die Brieftasche auf die Frisierkommode und streifte die Schuhe ab. »Sie ist im Bett«, sagte er.

Erin legte das Buch mit dem Rücken nach oben neben sich. Robert warf einen Blick auf den roten, geprägten Einband – es war die hoteleigene Bibel.

»Liest sich’s gut?«

»Spannend. Du solltest sie auch mal lesen.« Erin löschte die Nachttischlampe und kuschelte sich unter das Federbett, obwohl die Luft im Zimmer feuchtwarm war.

»Ich sagte, sie ist im Bett. Falls es dich interessiert.« Robert zog sein Hemd aus und ging ins Bad. Er putzte sich die Zähne, spritzte sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und sah in den Spiegel. Seine Züge wirkten angespannt – vielleicht kam es vom kalten Wasser, vielleicht lag es aber auch an dem wachsenden Argwohn, der an ihm nagte.

»Danke.« Ihre Stimme klang gedämpft unter der Decke hervor. Robert verstand Erins Verhalten nicht. Sonst gab sie Ruby doch immer einen Gutenachtkuss! Er trat ans Bett und zog die Decke weg. Seine Frau lag zusammengerollt wie ein Embryo da. Trotz ihres Schlafanzugs konnte er sehen, wie verkrampft ihr ganzer Körper war.

»Was machst du nur mit dem Mädchen?«, fragte er. »Gerade hat sie die erste Woche in einer neuen Schule hinter sich, was übrigens nicht dein Verdienst ist, und jetzt legst du ihr in Bezug auf die Fahrt nach Wien schon wieder Steine in den Weg.«

Robert wandte sich ab. »Du weißt doch, dass ich für die Reise aufkomme, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«

Die Stille lag schwer im Raum. Nur von ferne, vom anderen Ende des Hotels, hörte man das leise Stimmengewirr der Gäste, die sich noch in der Bar aufhielten. Wie eine schwere Daunendecke lastete die warme Nachtluft auf Erin und Robert. Mit einem Seufzer setzte er sich auf den Bettrand und versuchte, Erin wieder zuzudecken, doch sie stieß die Decke mit den Füßen fort. Sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein.

»Soll ich dich mal daran erinnern, worum es hier geht?« Robert kramte in der Reisetasche nach seinem iPod, den er für seine morgendliche Joggingrunde mitgebracht hatte. In Louisas Leben gab es wohl kaum einen Tag, an dem sie nicht vor dem Frühstück gelaufen war, ging es ihm durch den Kopf. Er tippte sich durch das Menü und steckte dann Erin die Kopfhörer ins Ohr. Als Rubys Klavierspiel erklang, begannen ihre Lippen zu zittern. Sie schloss die Augen.

Robert kannte das Stück in- und auswendig. Ruby hatte ihm den Titel »Flucht« gegeben. Robert würde niemals vergessen, wie Ruby ihm voller Stolz von ihrer Komposition erzählt hatte. Das Stück, so hatte sie ihm erklärt, handelte vom Weglaufen und davon, dass man alles stehen und liegen ließ und sein altes Leben einfach aufgab. Es war eine außergewöhnliche Musik. So außergewöhnlich wie sie selbst.

Jetzt beobachtete er Erin. Sie lag unbeweglich da und lauschte der Musik. Eine Träne hing in ihrem Augenwinkel. Robert wusste, dass Erin daran dachte, wie Ruby das Stück komponiert hatte. Stunde um Stunde hatte sie sich über den Stutzflügel gebeugt, den sie mit Mühe und Not im Wohnzimmer untergebracht hatten. Das Ergebnis war eine Reihe von Liedern gewesen, die Robert professionell mischen und auf CD aufnehmen ließ. Ruby hatte sich wie eine richtige Komponistin gefühlt.

Erin war nur unter der Bedingung bereit gewesen, bei ihm einzuziehen, dass der Flügel auch mitkam. Sie und Ruby und das Klavier gab es nur im Dreierpack. Ohne Zögern war Robert einverstanden gewesen. Er liebte Rubys Klavierspiel und außerdem erschien es ihm, als sei sein Leben durch Erin und Ruby fröhlicher und emotionaler geworden.

»So.« Robert stellte die Musik leiser. »Erinnerst du dich jetzt wieder, warum wir sie unbedingt nach Greywood schicken wollten?«

Erin nickte. Sie wirkte auf einmal ganz klein, zart wie eine Motte, die vergeblich versucht, dem faszinierenden Lichtkreis zu entkommen.

»Das mit der fehlenden Geburtsurkunde verstehe ich nicht«, fügte Robert leise hinzu, wobei er ihr sanft über den Kopf strich.

Erin setzte sich auf und wischte sich die Träne ab. »Da hat wohl jemand einen Fehler gemacht«, sagte sie mit einem kleinen zweifelnden Lächeln. Sie erhob sich und tappte ins Badezimmer. »Irgendwo ist sicher etwas schiefgelaufen!«, rief sie durch die angelehnte Tür.

Robert verharrte unbeweglich vor der Badezimmertür. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er seufzend. Er wollte Erin nicht noch mehr aufregen. »Es ist etwas schiefgelaufen. Irgendwo …« Dann zog er sachte die Tür ins Schloss.

Bereits um sieben Uhr morgens war die Luft drückend. Es duftete süß nach taufeuchten Rosen und den letzten Blüten des Geißblatts. Während sie nebeneinander die Landstraße entlangliefen, blickte Robert unwillkürlich auf die winzigen Schweißperlen an Louisa Hals.

»Schon ’ne Weile nicht mehr trainiert, was?« Sie lachte. Robert bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. Sie liefen schon seit einer Viertelstunde, und Louisa schien nicht im Geringsten außer Atem zu sein. Bei dem Gedanken, dass er jetzt an Erin geschmiegt im Bett hätte liegen können, verzog Robert missmutig das Gesicht.

»Sonntags spiele ich meistens Squash und gehe ins Fitnessstudio, sooft ich es schaffe.« Robert blieb stehen und stützte die Hände auf die Knie, doch Louisa lief unbeirrt weiter. Ihre schlanken Beine hoben und senkten sich in gleichmäßigem Rhythmus. Nach wenigen Sekunden schaute sie sich nach ihm um und blieb dann stehen – eine weiße Gestalt vor dem blauen Himmel.

»Und wie geht’s unserem lieben Den?«, rief sie und setzte hinzu: »Nun mach schon! Mit dieser schlechten Kondition wirst du nicht mal vierzig.« Sie kam zurückgelaufen, hakte sich bei Robert unter und zog ihn mit sich. Beide brachen in Lachen aus, und es war ihnen klar, dass Robert niemals die geplante Strecke schaffen würde.

»Den ist immer noch der Alte«, sagte Robert. »Die Kanzlei läuft gut.«

»Und wer besorgt jetzt für euch die Schnüffelei?« Louisa band die Schleife am Bund ihrer grauen Jogginghose neu.

»Brian Hook. Er ist so unauffällig wie ein Clown auf einer Beerdigung.«

Robert berührte mit der Hand Louisas vor und zurück schwingenden Ellbogen. »Zu schade, dass du nicht mehr für uns arbeitest.«

Sie trabten an den letzten Häuschen aus gelbem Sandstein vorüber. Hier, am Ende des Dorfes, wurde die Landstraße so schmal und gewunden, dass sie zur Sicherheit hintereinander laufen mussten.

»Sollen wir uns ein bisschen die Gegend anschauen?« Robert blieb an einem Weidegatter stehen, und als sich Louisa umdrehte, bedeutete er ihr, anzuhalten. »So können wir uns doch nicht unterhalten«, keuchte er.

»Ich dachte, wie wollten laufen.« Sie kam zurück und lehnte sich neben ihn an das hölzerne Tor. Sie schauten auf den Flickenteppich aus grünen und goldenen Feldern dahinter. Für eine Weile sprach keiner ein Wort. Sie warteten, bis Atem und Herzschlag ruhiger gingen und die Morgensonne den Schweiß auf ihrer Haut getrocknet hatte. Es war ein seltener, vollkommener Augenblick. Robert ging so viel durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. Spontan zog er in Erwägung, gar nichts zu sagen, um den friedlichen Morgen nicht zu zerstören.

»Du und Erin – seid ihr wirklich glücklich miteinander?«, fragte Louisa schließlich und schaute Robert direkt ins Gesicht. »Das klang mir gestern Abend nicht besonders überzeugend.« Ihr Atem ging wieder ganz ruhig, nur noch eine schwache Röte auf Wangen und Hals zeugte von der Anstrengung. Robert hatte den Verdacht, dass ihre Frage nur die Einleitung zu dem Thema sein sollte, über das sie wirklich reden wollte: ihre eigene Ehe.

»Erin und ich kommen gut miteinander aus.« Robert spürte ein leichtes Ziehen in den Bauchmuskeln. »Wir lieben uns sehr. Und Ruby ist wirklich ein braves Mädchen. Sie spielt hervorragend Klavier.«

»Aber seid ihr tatsächlich glücklich?«

Bei jedem Atemzug taten Robert die Rippen weh. »Sicher«, sagte er.

»Warum fällt es mir so schwer, dir zu glauben?« Louisa stieß mit der Spitze ihres Schuhs gegen einen der Torpfosten und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.

Robert zuckte mit den Schultern. »Wir haben natürlich auch unsere Probleme, so wie jedes andere Ehepaar.« Da Louisa schwieg, fuhr er fort: »Wenn man heiratet, vor allem zum zweiten Mal, ist es ja nicht so, als würde man in einen See aus kristallklarem Wasser eintauchen.«

»Nein«, antwortete Louisa nachdenklich. Dann lachte sie auf. »Es ist mehr wie ein schlammiger Tümpel.«

»Genau. Über kurz oder lang merkt man, dass auf dem Grund etwas haust. Und dann möchte man herausfinden, was es ist.« Robert trommelte nervös mit den Fingern auf das Holz, bevor er unvermutet hervorstieß: »Irgendwas stimmt nicht mit Erin, Lou. Sie benimmt sich komisch. Als ob sie etwas zu verbergen hätte.«

Sie schwiegen. Eine Schar Enten flog über ihre Köpfe hinweg. Auf der Straße rumpelte ein Lastwagen vorüber und hinterließ eine schwache Abgaswolke.

»Nicht schon wieder, Robert.« Louisa stöhnte auf. »Mein Gott, nicht schon wieder.«

Robert versetzte dem alten Gatter einen so heftigen Stoß, dass Louisas Fuß vom untersten Querbalken abrutschte. »Glaubst du vielleicht, ich hätte nichts dazugelernt?«, rief er und fuchtelte mit einem Arm in der Luft herum.

»Nein, es ist nur …«

»Es gibt etwas, was ich dir nach Jennas Tod nie erzählt habe.« Roberts für gewöhnlich volle, tiefe Stimme war nur noch ein dünnes Wispern.

Louisa sagte nichts, sondern wartete darauf, dass er weitersprach. Sie wusste, dass ihm dieses Gespräch schwerer fiel als jeder Zehn-Kilometer-Lauf.

»Es gab eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Von einem Mann. Er sagte, dass er ihren gemeinsamen Nachmittag im Hotel kaum noch erwarten könne.«

Louisa legte Robert die Hand auf den Arm. »War dir danach besser zumute?«

»Warum? Weil ich mit meinem Verdacht, sie hätte eine Affäre, richtig gelegen hatte? Weil es mir im Nachhinein die Berechtigung gab, sie Tag und Nacht verfolgen zu lassen und wie besessen in ihrer Post, ihren E-Mails und Anrufen herumzuschnüffeln?« Atemlos stieß Robert die Worte hervor. »Sollte ich mich besser fühlen, weil ich ein krankhaft eifersüchtiger Ehemann war, der seine Frau derart in Wut gebracht hatte, dass sie sich nach unserem letzten Streit ins Auto setzte, obwohl sie eine Flasche Wein getrunken hatte, und so weit wegfuhr wie nur irgend möglich, um mich endlich loszuwerden?«

Obgleich der Tag so heiß zu werden versprach wie der vorige, bekam Louisa eine Gänsehaut. Sie hatte die Geschichte schon oft gehört und war doch immer wieder erschüttert.

Jenna … zusammengesunken über dem Lenkrad … mit gebrochenem Genick … ihr lebloser grauweißer Körper … nur ein kleiner Blutfleck an ihrer rechten Schläfe …

»Ich sehe sie immer noch ständig vor mir.« Robert sprach jetzt so gefasst und sachlich, als stünde er im Gerichtssaal. »Oben an der Treppe. Unter dem Baum im Garten. Für mich ist sie noch so wirklich …« Erwartungsvoll sah er Louisa an.

»Es ist noch kein Jahr her, Rob. Meiner Meinung nach ging bei dir anschließend sowieso alles zu schnell.« Louisa tupfte sich mit dem Saum ihres Shirts den Hals ab. »Da ist es kein Wunder, wenn du Gespenster siehst.«

»Bei mir ging also alles zu schnell? Das ist nicht schlecht, Louisa. Das ist wirklich nicht schlecht.« Robert trat noch einmal gegen das Tor, ging zornig ein paar Schritte weiter und kam wieder zurück. »Meine Frau verunglückt im April. Zwei Monate nachdem du diesen William Soundso geheiratet hast, den du erst ein paar Wochen vorher auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt hattest …«

»Willem!«, unterbrach Louisa ihn mit schneidender Stimme. »Der Name meines Mannes ist Willem van Holten. Und richtig, wir haben uns auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt und acht Wochen später geheiratet. Und ebenso richtig, zwei Monate später war Jenna tot …« Louisa holte tief Luft. »Es ist eine Tatsache, dass wir beide niemals zusammenkommen werden, weil immer einer von uns verheiratet ist.« Sie sprintete plötzlich los wie ein nervöses Rennpferd, wohl wissend, dass Robert keinen Versuch unternehmen würde, ihr zu folgen.

Er starrte noch weitere zwanzig Minuten über das Gatter hinweg in die Ferne, bevor er sich auf den Rückweg nach Martock machte. Wir werden nie zusammenkommen, dachte er und fragte sich, was Louisa, die es normalerweise an heiterer Gelassenheit mit einem buddhistischen Mönch aufnehmen konnte, so aus der Fassung gebracht hatte.

Erin und Ruby befanden sich im Speisesaal. Ruby bediente sich gerade am reichhaltigen Frühstücksbüfett, wahrend Erin gedankenverloren an ihrem schwarzen Kaffee nippte. Selbst als Ruby Robert freudig begrüßte, hob Erin den Blick nicht von der gestärkten weißen Tischdecke.

»Hallo.« Robert gab seiner Frau einen Kuss auf den Kopf. Er hatte rasch geduscht und Jeans sowie ein grün gestreiftes Hemd angezogen. Sein dunkles Haar war noch feucht und glänzte im gedämpften Lampenlicht. »Isst du nichts?«, fragte er. Er hatte für den Tag einen Ausflug nach Sherborne Castle geplant, da er nicht die geringste Lust verspürte, die Hochzeitsfeier von Louisas Cousine mitzuerleben. Zwar war Louisa nicht die Braut, doch er fürchtete, es nicht einmal ertragen zu können, sie als Erste Brautjungfer zu sehen. Er nahm zwischen Mutter und Tochter Platz.

»Hat das Laufen Spaß gemacht?« Erins Stimme klang so bitter wie ihr schwarzer Kaffee.

»Ja, danke.« Robert entfaltete seine Serviette, während die Kellnerin die Bestellung aufnahm.

»Du bist mit Louisa gelaufen.«

»Dad, können wir zu dem Schloss fahren, von dem du uns erzählt hast?« Als Ruby ihr Würstchen durchschnitt, rutschte ein Stück über den Tellerrand auf den Tisch.

»Du hättest wenigstens fragen können, ob ich mitkommen will.« Erin legte verneinend die Hand auf ihre Tasse, als die Kellnerin ihr noch einen Kaffee anbot.

»Ich wusste nicht, dass du gerne joggst.«

»Magst du es denn etwa?« Erin stand auf und begab sich mit energischen Schritten zum Ausgang des Speisesaals.

»Sicher können wir zu dem Schloss fahren, Ruby«, sagte Robert und rührte in seiner Tasse. Im gleichen Augenblick bemerkte er, wie Louisa und Erin in der Tür aneinander vorbeiliefen. Sie taten, als würden sie sich nicht kennen.