1

Dreißig Sekunden, nachdem ich bemerkt hatte, dass mein Baby weg war, tropfte mir Milch aus den Brüsten. Ich weiß noch, wie mir der blöde Gedanke durch den Kopf schoss, dass ich jetzt meinen Pflichtbesuch bei den Schwiegereltern mit feuchten Flecken auf der Bluse absolvieren musste. Ich hatte nur kurz am Supermarkt gehalten, um einen Kuchen zu kaufen. Einen von der Sorte, die aussieht wie selbst gebacken – ich hoffte, Sheila weismachen zu können, dass ich ihn gerade frisch aus dem Ofen geholt hatte. Sogar einen passenden Teller und ein Tortendeckchen hatte ich dafür besorgt. Meine Natasha, die fast den ganzen Weg über geschrien hatte, schlief endlich tief und fest. Ich war nur zwei winzige Minütchen weg gewesen, doch als ich zum Wagen zurückkam, war der Babysitz auf der Rückbank leer. Wo Natasha gelegen hatte, befand sich eine Delle im Kissen und auf der Steppdecke war ein kleiner ovaler Fleck – geronnene Milch, die Folge eines Bäuerchens.

Ich ließ den Kuchen auf den frostharten Boden fallen und suchte hektisch den ganzen Wagen ab. Mir schossen die blödsinnigsten Ideen durch den Kopf. Hatte ich sie doch mit in den Supermarkt genommen und im Einkaufswagen vergessen? Oder hatte sich eine nette alte Dame in Natashas niedliches Gesichtchen verguckt? War mein Baby womöglich ein Wunderkind, das mit acht Wochen schon allein losgelaufen war? Konnte es sein, dass Andy auf der Suche nach mir meinen Wagen entdeckt und die Kleine herausgeholt hatte, um ein bisschen mit ihr zu schmusen? Er durfte das, schließlich war er der Vater.

Ich hatte das Auto ganz bestimmt abgeschlossen.

Beim Aussteigen stieß ich mir den Kopf. Natasha war fort. Kostbare Sekunden verstrichen. Und dann fing meine Milch an zu tropfen. Das Brennen in meinen Brüsten sagte mir, dass ich unbedingt stillen musste. Doch mein Baby war nicht mehr da.

Die Augen gegen die niedrig stehende Wintersonne zusammengekniffen, ließ ich den Blick panisch über den Parkplatz schweifen. Was wäre es für eine Erleichterung gewesen, wenn mich meine Natasha jetzt über Andys Schulter hinweg angeschaut hätte! Wie sehr wünschte ich mir, dass mein Baby in Sicherheit wäre! Dann hätten sich meine schlimmsten Befürchtungen mit einem Schlag verflüchtigt, und die Welt wäre wieder in Ordnung gewesen. Seltsamerweise waren in dem Moment kaum Leute in der Nähe, nur ein älteres Paar, das seine Einkäufe im Kofferraum verstaute.

»Andy!«, wollte ich rufen, doch es kam nur ein Krächzen. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, und mein Atem ging stoßweise und keuchend. Fieberhaft starrte ich in jeden Winkel des Parkplatzes, bis mir alles vor den Augen verschwamm und es in meinen Ohren rauschte. Da drehte ich völlig durch.

»Tasha!« Diesmal war meine Stimme laut und durchdringend. Es klang wie ein Urschrei. Mit gespreizten Beinen stand ich da, die Fäuste geballt, die Schultern hochgezogen. Doch schon im nächsten Moment stürmte ich los, durch die Reihen der parkenden Wagen, und schrie immer wieder den Namen meines Babys. Als ich mich den beiden älteren Leuten näherte, hoben sie abwehrend die Hände, als hätten sie Angst, ich wollte sie überfallen.

»Haben Sie mein Baby gesehen?« Sie gaben keine Antwort. Wahrscheinlich hatten sie meine panisch hervorgestoßenen Worte gar nicht verstanden. Mir war klar, dass jetzt jede Sekunde zählte. Ich rannte weiter und schrie dabei Natashas Namen, bis mir die Stimme versagte, taumelte zwischen den Autos hindurch, stieß mich schmerzhaft mal rechts, mal links. Schließlich rutschte ich auf einer vereisten Stelle aus und fiel hin.

Jemand legte mir die Hand auf die Schulter. Ich blickte hoch, sah eine leuchtend gelbe Plastikjacke. Im selben Augenblick hörte ich ein Baby schreien.

Ich sprang auf, stellte mich auf die Zehenspitzen und lauschte angestrengt. Irgendwo in einem Auto jaulte ein Hund. Ich hörte das Summen und Pfeifen eines Gabelstaplers, der Paletten mit Lebensmitteln von einem Lieferwagen hob, das Rattern von Einkaufswagen, die ein junger Bursche auf dem Parkplatz einsammelte und zusammenschob. Meine Sinne waren zum Zerreißen gespannt.

Und da war es wieder – das Schreien eines Babys.

Durch die Geräuschkulisse ringsum drang das Wimmern, das Brüllen, das Kreischen eines verlassenen Säuglings. Natasha! Das unablässige Geschrei hallte schmerzhaft in meinem Schädel wider, bis er zum Zerspringen pochte. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich laufen sollte.

Ich stieg auf einen Poller und von dort aus auf die Motorhaube eines blauen Ford Kombi. Es war ein ganz neues Modell und flüchtig durchzuckte mich die Angst, dass ich das Blech verbeulen könnte. Ich sehe den Wagen noch heute vor mir, sogar die Handschuhe auf dem Armaturenbrett und den kleinen, wie einen Baum geformten Lufterfrischer, der am Rückspiegel baumelte. Ich kletterte auf das Autodach. Von dort oben konnte ich den gesamten Parkplatz überblicken.

»Miss«, sagte der Mann in der gelben Jacke. »Beruhigen Sie sich doch, Miss!« Er starrte mich mit aufgerissenen dunklen Augen an, und ich wusste, dass er mich für verrückt hielt.

»Seien Sie doch still!«, rief ich und horchte verzweifelt auf das Schreien. Es war von jener Seite des Parkplatzes gekommen, die an der Hauptstraße lag. Ich blinzelte gegen die Sonne und nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sah ich jemanden rennen.

Da rannte jemand mit einem Baby auf dem Arm über den Parkplatz.

»Natasha!«, brüllte ich wieder. Als hätte sie mir antworten können! Ich sprang vom Autodach, knickte mit dem Knöchel um. Trotz des stechenden Schmerzes rannte ich in Richtung Hauptstraße. Ich bin ziemlich groß, dennoch war es fast unmöglich, die fliehende Person zwischen den Köpfen der Kunden auszumachen, die ihre Samstagseinkäufe erledigten. Rücksichtslos – eine verzweifelte Mutter mit Panik im Blick – bahnte ich mir einen Weg bis an den Rand des Parkplatzes, von wo aus ich die Straße überblicken konnte.

Da stand ich nun, völlig außer Atem, meine milchschweren Brüste hoben und senkten sich unter dem Wintermantel im Takt meiner keuchenden Atemzüge, der Schweiß kribbelte mir auf dem Rücken. Während ich in beide Richtungen die Straße entlangspähte, schien sich das gewohnte Bild plötzlich zu verändern. Die Geschäfte, in denen ich mein Leben lang eingekauft hatte, waren mir auf einmal seltsam unvertraut. Die ganze Stadt erschien mir fremd und unbekannt. Ich kam mir vor wie eine Touristin, die sich in einem Land verlaufen hatte, dessen Sprache sie nicht verstand.

Dann sah ich sie wieder, die rennende Gestalt. Mit Schal und Mütze gegen die Januarkälte geschützt, bog sie gerade in die kleine Holt’s Alley ein. Ihre behandschuhte Hand stützte das winzige Köpfchen eines schreienden Babys. Ich raste hinterher, zwischen den hupenden Autos hindurch, hinein in das schmale Gässchen. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass die Person, die ich verfolgte, wohl nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Sekunden Vorsprung hatte. Jetzt im Nachhinein ist mir klar, dass ich damals völlig konfus war.

In der Holt’s Alley roch es ständig nach Frittenfett, Bier und Pisse. An einem Ende des kleinen Durchgangs lungerte normalerweise ein Grüppchen Jugendlicher herum, und an diesem 4. Januar 1992 war es nicht anders. Ein-, zweimal, als mich während der Schwangerschaft beim Einkaufen plötzlich Heißhungerattacken überfielen, hatte ich mich verstohlen in Al’s Imbissbude gedrückt. Jedes Mal bekam ich von den Kids ein paar freche Sprüche zu hören, so nach dem Motto, ob ich nicht wüsste, dass man von zu vielen Würstchen fett wird. Um die Bande nicht zu reizen, lächelte ich immer nur höflich, ging hinein und verschlang eine Portion Pommes. Dabei hatte ich so ein schlechtes Gewissen, als hätte ich während der Schwangerschaft geraucht. Aber da ich sonst alles – fast alles – richtig gemacht hatte, ging ich davon aus, dass ein paar Pommes und der Pissegeruch in dem Gässchen meinem Baby schon nicht schaden würden.

Jetzt stürmte ich auf die Jugendlichen los und schlug einem von ihnen die Pepsidose aus der Hand.

»Ey …!«

»Habt ihr jemanden hier langrennen sehen? Mit einem Baby?« Meine Worte kamen keuchend und abgehackt, aber das war mir egal. »Ist hier gerade einer durchgelaufen?« Ich beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie. Zum Glück trug ich die schwarze Kordsamthose mit dem Gummizug, das einzige einigermaßen präsentable Kleidungsstück, in das ich noch hineinpasste.

»Nö.«

»Bitte! Mein Kind ist weg.«

Aber diese pickeligen Typen gaben sich ganz cool, und ich bekam nichts aus ihnen heraus. Immerhin machte einer von ihnen ein paar Wochen später eine Aussage bei der Polizei, nachdem er die Vermisstenplakate gesehen hatte.

Ich rannte weiter durch die Straßen, doch von der Person oder von Natasha war nichts mehr zu sehen.

Auf dem Rückweg zu meinem Wagen redete ich mir ein, Natasha läge wohlbehalten in ihrem Babysitz. Vielleicht hatte ich sie in meiner Panik nur übersehen. Womöglich litt ich ja an Baby-Blindheit, obwohl ich von solch einem Leiden noch nie gehört hatte. Da entdeckte ich plötzlich mitten auf der Straße einen kleinen weißen Babyschuh. Er sah aus wie selbst gestrickt. Ich hob ihn auf.

Das kann durchaus Tashs Schühchen sein, dachte ich. Was hatte Sheila nicht alles für das Baby gestrickt! Mir erschien es als ein gutes Omen, dass ich ein Kleidungsstück meines Kindes gefunden hatte. Jemand wollte mir damit ein Zeichen geben; ich war nur zu dumm, um die Bedeutung zu verstehen.

Liebe Natasha,

herzlichen Glückwunsch, mein Liebling. Jetzt ist meine kleine Tash schon ein Teenager …

Nein, so geht das nicht. Das klingt ja, als wäre sie noch ein Baby. Ich knülle den Brief zusammen und fange noch einmal von vorne an. Aber für mich ist sie eben noch ein Baby.

Liebe Tash, (das ist schon viel lockerer) ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll, nach all den Jahren. Du wirst dich wahrscheinlich fragen, warum ich Dir bisher noch nie geschrieben habe. Um ehrlich zu sein, ich hatte zu viel Angst. Ich zucke schon zusammen, wenn ich den Namen Natasha im Fernsehen höre. Du musst wissen, dass ich Dich noch immer genau so liebe wie in den wenigen Wochen, die ich Dich bei mir haben durfte. Und wenn man das, was man liebt, nicht bei sich haben darf, na ja, dann tut das sehr weh …

Wieder knülle ich das Papier zusammen. So ein Blödsinn! Sie wird mich auslachen.

Als ich auf dem Rückweg von der Holt’s Alley wieder in Laufschritt fiel, schwappte es in meinem Magen, als hätte ich einen ganzen Liter Orangensaft getrunken. So kurz nach der Geburt hätte ich meinen Körper noch nicht überanstrengen dürfen.

Natasha lag nicht im Wagen. Auch der Mann in der gelben Jacke und das ältere Paar oder andere Kunden waren nicht mehr da. Ich sehnte mich nach einem vertrauten Gesicht, nach einer Hand, die mich stützte, und einer Stimme, die mir »alles wird wieder gut« ins Ohr flüsterte. Die Hintertür meines Autos stand noch offen, hatte im Lack des Nachbarwagens Schrammen hinterlassen. Und auch der Kuchen lag noch genau da, wo ich ihn hatte fallen lassen.

Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Es war, als könnte ich nach der Verfolgungsjagd wieder klar denken. Ich musste im Supermarkt Hilfe holen und Andy anrufen. Er war bestimmt noch bei der Arbeit.

Wir hatten vorgehabt, uns bei seinen Eltern, Sheila und Don, zu treffen. Sheila würde wahrscheinlich über das kalt gewordene Essen meckern, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Bestimmt würde mir der Manager des Supermarkts eine Tasse Tee anbieten. Das war genau das, was ich in dieser neuen, fremden Welt brauchte, wo es weder Farben noch Geräusche, weder Zeit noch Gefühle gab und aus der ich nie wieder hinaus in ein normales Leben finden würde.

Ich hob den Kuchen auf und wischte die Packung ab. Ob die Leute im Laden wohl denken würden, ich hätte ihn gestohlen, weil er nicht in einer Einkaufstüte steckte? Als ich den Supermarkt betrat, hatte ich die flüchtige Hoffnung, dass ich gleich aus diesem Albtraum aufwachen würde. Ich brauchte Menschen, freundliche, mitfühlende Menschen.

Liebe Natasha, (doch lieber etwas förmlicher. Schließlich ist es schon eine Weile her)

Du sollst wissen, dass ich in den vergangenen dreizehn Jahren jeden einzelnen Tag an Dich gedacht habe. Jedes Mal sah ich Dich ein wenig älter und größer vor mir. Und jetzt bist Du schon beinahe eine Frau. Ich schaue mir meine eigenen Jugendfotos an und versuche mir vorzustellen, wie Du wohl aussehen magst. Damals haben alle gesagt, Du wärst mir wie aus dem Gesicht geschnitten – die gleichen Grübchen, die gleichen Wimpern. Sind Deine Augen immer noch blau? Hast Du schon Deine Periode? Bist Du tot und verwest?

Auch dieser Brief wandert in den Papierkorb. Es regnet; genau genommen ist es sogar ein Graupelschauer. Schon jetzt, um vier Uhr nachmittags, brennen die Straßenlaternen und tauchen das Pflaster in ein pfirsichgelbes Licht. Bei der Beleuchtung wirken die kahlen Bäume selbst an diesem trüben Novembernachmittag fast frühlingshaft.

Ich habe den elektrischen Kamin eingeschaltet und der Fernseher läuft – irgendeine kitschige Quizshow, wo glückliche Familien Kühlschränke und Autos gewinnen können. Ich habe mir eine Tasse Tee gemacht. Später werde ich mir eine Flasche Gin oder Wodka zu Gemüte führen, je nachdem, was es gerade im Sonderangebot gab. Ich kuschele mich mit einem Briefblock und einem Füller unter meine weiche Sofadecke und halte Natashas Babyschuh in der Hand. Den ich damals auf der Hauptstraße gefunden habe und den mir die Polizei in einer kleinen Plastiktüte aushändigte – später, nachdem man die Suche nach ihr aufgegeben hatte.

Das tue ich an jedem Samstag im Januar, dem Monat, in dem Natasha verschwand, und immer am 6. November, ihrem Geburtstag. Ansonsten versuche ich, ein normales Leben zu führen. Keiner weiß, dass ich mal ein Baby hatte.

Liebe Natasha Jane Varney, (jetzt, da sie schon groß ist, rede ich sie besser mit ihrem vollen Namen an) ich kann Dir die erfreuliche Mitteilung machen, dass es Deiner Mutter, Mrs Cheryl Susan Varney, gut geht. Sie ist noch am Leben und wünscht, Du wärst es auch. Sie hofft, dass euer beider Seelen gerettet werden. Sie ist sehr traurig, weil sie Dich niemals auf einer Schaukel anschubsen durfte oder Dir eine Geburtstagsfeier ausrichten oder Dir Würstchen mit Bohnen kochen …

So geht das nicht. Ich knülle auch dieses Blatt zu einer kleinen Kugel zusammen und werfe sie zu den anderen in den Papierkorb. Im Fernsehen läuft jetzt ein Werbespot. Ich mag keine Werbung. Die wollen uns nicht einfach ein Produkt verkaufen, sondern uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Wer sagt denn, dass wir unbedingt in einem Badezimmer duschen müssen, durch dessen Glastür man auf einen weißen Strand blickt, wo ewig die Sonne scheint? Und dann wollen sie uns auch noch weismachen, dass wir nur dieses tolle neue Shampoo zu benutzen brauchen, und schon ist unser Haar so lang und glänzend wie bei dem dürren, halb nackten Model auf dem Bildschirm. Vielleicht sollte ich es ja doch mal mit diesem Shampoo versuchen. Vielleicht verwandelt sich mein feuchtes, schimmeliges Bad dann in einen Strand auf den Bermudas. Vielleicht ist dann mein ganzes bisheriges Leben wie weggewischt, und ich bekomme meine Natasha zurück. Und kann noch mal ganz von vorn anfangen.

Ich weiß genau, dass die Wagentür abgeschlossen war.

Solange die Werbung läuft, suche ich in der Küche nach Alkohol. Es nervt mich, dass ich keinen vernünftigen Brief an meine Tochter zustande bringe. Andere Mütter schaffen das doch auch.

Ich finde nur den Kochsherry. Ich verstecke die klebrige Flasche unter meinem abgetragenen Pullover und schleiche auf Zehenspitzen zurück ins Wohnzimmer. Dann stelle ich mich vor das Fenster, wo man mich mit Sicherheit sehen kann, und nehme einen hastigen Zug.

Es ist nämlich so, dass ich die ganze Zeit über beobachtet werde. Das kann verschiedene Gründe haben. Vielleicht hat Gott ja Mitleid mit mir und breitet seine Flügel über mich wie über all die anderen vergessenen, nutzlosen Kreaturen auf der Welt. Es könnte aber auch mein Schutzengel sein. In diesem Fall ist es bestimmt Natasha, denn der Engel kennt mich offenbar ziemlich gut. Vielleicht aber – und das ist am wahrscheinlichsten – bin ich zurzeit nur ein bisschen angespannt und nicht ganz auf der Höhe. Manche würden es Schuld nennen, ich nenne es mein Leben.

Also stelle ich mich beim Trinken ans Fenster und hoffe, dass mich jemand dabei sieht. Dann hätte ich wenigstens einen Grund, mich beobachtet zu fühlen.

Da! Eine Frau führt in der trüben Dämmerung ihren Hund aus. Sie starrt direkt in mein gemütliches Zimmer und ertappt mich beim Picheln. Ich ziehe selten die Vorhänge zu; so können die Passanten einen Blick auf mein Leben werfen, und ich kann raten, wohin sie wohl unterwegs sind. Manche gehen immer zur gleichen Zeit an meinem schmalen Reihenhäuschen vorüber. Ich habe mir Namen und Eigenschaften, ja sogar ein ganzes Leben für sie ausgedacht. Es sind meine unbekannten Freunde.

Marjory geht morgens immer die Zeitung holen. Einmal hat sie versucht, ein bisschen zu joggen, und sich dazu einen Jogginganzug aus rosa Samt angezogen. Doch auf dem Rückweg ging sie schon wieder langsam. Sie schwitzte und war ganz rot im Gesicht. Wenn keine Ferien sind, kommen morgens um acht Uhr fünfundzwanzig und nachmittags um zehn vor vier die Schulkinder vorbei. Jetzt, da Natasha auch schon ein Teenager ist, sehe ich es nicht mehr so gern, wenn die Jugendlichen vor meinem Gartentor herumlungern. Dann ist mein handtuchgroßer Vorgarten immer mit Coladosen, Chipstüten und Zigarettenkippen übersät. Wenn Frederick vorbeigeht, klopfe ich ans Fenster und lächele ihm zu. Er kauft sich jeden Tag Zungenwurst für sein Frühstücksbrot. Früher war er einer meiner Stammkunden, doch jetzt habe ich ihn schon seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Vor vier Jahren ist seine Frau gestorben, und er hört dauernd Klopfgeräusche in seinem Haus.

Im Supermarkt war ich unschlüssig, ob ich mich an einer der langen Schlangen vor den Kassen anstellen oder direkt zur Informationstheke gehen sollte, die an jenem Samstag ebenfalls von Kunden umlagert war. Schließlich stellte ich mich an der Schnellkasse an, die für Kunden mit weniger als zehn Teilen gedacht war. Die Frau vor mir hatte allerdings deutlich mehr Waren in ihrem Einkaufswagen.

Nach wie vor erschien mir alles ringsum farblos, gleichsam ausgeblichen. So als hätte man die Welt zu heiß gewaschen. Alles war flach, zweidimensional, wie eines dieser Spielzeug-Puppentheater aus Pappe. Ich glaube, ich hätte bloß kräftig zu pusten brauchen, dann wäre der ganze Laden wie ein Kartenhaus eingestürzt.

Meine kopflose Panik hatte sich gelegt. Jetzt wollte ich nur noch, dass sich jemand um mich kümmerte. Das Mädchen an der Kasse würde bestimmt Mitleid mit mir haben, wenn sie hörte, dass mein Baby verschwunden war. Mit kleinen Schritten schob ich mich vorwärts, in der Hand noch immer den Schokoladenkuchen, auf dessen Oberfläche meine Daumen Dellen hinterlassen hatten. Ich legte den Kuchen auf das Laufband, damit er nicht noch stärker ramponiert wurde.

Endlich war die Frau vor mir an der Reihe. Sie brauchte eine Ewigkeit, um die Waren in ihrer Einkaufstasche zu verstauen, zu bezahlen und das Wechselgeld in ihre Geldbörse aus Krokoimitat gleiten zu lassen. Meine Sinne waren überwach, jede winzige Kleinigkeit prägte sich mir ein, so als könnte ich damit die Wirklichkeit ausblenden. Damals merkte ich es nicht, aber meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jetzt im Nachhinein glaube ich, dass Natasha ganz in der Nähe war. Jetzt im Nachhinein ist mir klar, dass ich es völlig falsch angefangen habe.

Der ganze Körper tat mir weh. Ich machte noch einen kleinen Schritt, dann stand ich vor der gleichgültigen Kassiererin, die schon die Hand nach meinem Kuchen ausstreckte.

»Ich wollte eigentlich nichts kaufen. Ich dachte bloß, ob mir jemand …« Zu spät. Sie hatte den Kuchen schon über den Scanner gezogen.

»Zwei neunundneunzig, bitte. Ich lasse Ihnen einen anderen holen; der hier ist ja ganz eingedrückt.« Sie neigte sich zum Mikrofon und schloss beim Sprechen die Augen. Wie beim Karaoke. »Sandra, bitte an Kasse drei. Kasse drei, bitte. Die Kundin wartet.«

»Aber ich habe doch schon …« Ich brachte keine Erklärung zustande. Stattdessen kramte ich in meiner Geldbörse, die überhaupt nicht mehr wie meine Geldbörse aussah. Auch die Hände, die sich an der Schnalle meiner Handtasche zu schaffen machten, kamen mir fremd vor, ebenso wie meine Stimme. Ich war nicht mehr Cheryl.

Mit zitternden Händen reichte ich dem Mädchen meine Kreditkarte. Mein letztes Bargeld hatte ich ausgegeben, als ich den Kuchen das erste Mal kaufte.

»Bitte hier unterschreiben.«

Sandra kam mit dem Ersatzkuchen. Mir fiel sofort das Verfallsdatum ins Auge. Der Kuchen hier war einen Tag älter als der, den ich ausgesucht hatte.

Ich weiß noch, wie ich dachte: Wenn du dich mit solchen Lappalien abgeben kannst, ist dein Baby bestimmt gar nicht weg. Wenn Natasha wirklich verschwunden wäre, würde ich doch nicht hier in diesem Laden stehen und denselben Kuchen ein zweites Mal bezahlen! Ich würde schreien, nach der Polizei rufen, weinen, heulen, von einem Kunden zum anderen rennen und alle verzweifelt um Hilfe anflehen!

Ich unterschrieb den Zettel und fing an zu lachen. Ich lachte vor lauter Erleichterung, weil Natasha ganz bestimmt nicht entführt worden war. Ich hatte sie einfach im Auto gelassen. Ich war auf dem Weg zu Sheila und Don, wo ich Andy treffen wollte. Wir würden gemeinsam den Nachmittag verbringen, uns über Babys unterhalten, Tee trinken und den Schokoladen­kuchen essen, den ich soeben erstanden hatte.

Über Babys wusste Sheila bestens Bescheid. Immerhin hatte sie drei Kinder geboren. Sie strickte wie eine Wilde und gab mir bei jedem Besuch unzählige Tipps für die Aufzucht und Haltung meines Kindes, so als wäre Natasha ein exotisches Haustier.

»Wenn das Baby genug getrunken hat, schieb ihm deinen kleinen Finger in den Mundwinkel, damit es zu saugen aufhört. Sonst bekommst du entzündete Brustwarzen«, hatte Sheila einmal gesagt, als wir über das Stillen sprachen. »Und wenn du die Windeln wechselst, lass das Baby eine halbe Stunde lang nackt herumstrampeln. Unser kleines Schätzchen soll doch nicht wund werden! Es gibt übrigens nichts Gesünderes für Babys als ein Mittagsschläfchen im Freien, ob im Sommer oder Winter. Aber denk daran, ein Katzennetz über den Wagen zu spannen.« Was Säuglinge anging, war diese Frau ein Born des Wissens, der ungefragt alle möglichen Tipps hervorsprudelte.

»Sie dachten bloß, ob jemand … was?« Die Kassiererin lächelte mich an. »Sie wollten doch etwas sagen.«

»Ach, nichts.« Ebenfalls lächelnd packte ich den Kuchen in eine Tragetasche. Dann verließ ich schleunigst diese Pappkulisse von Laden. Ich rannte durch den Schwall warmer Luft aus dem Gebläse am Eingang und über den kalten Parkplatz zu meinem Renault.

Was war ich dumm! Eine verrückte, verantwortungslose, überspannte, nervöse junge Mutter. Wie konnte ich mir nur einbilden, dass mein Baby weg wäre? Offensichtlich hatten mir meine Sinne einen Streich gespielt. Die Gesundheitsberaterin hatte mich ja vor Schlafmangel gewarnt. Natasha war manchmal eine richtige kleine Zicke. Sie schrie jede Nacht durch und holte sich dafür ihren Schönheitsschlaf tagsüber. Mit diesem Spielchen hatte sie mich so weit gebracht, dass ich nicht mehr richtig sehen und auch nicht mehr vernünftig denken konnte. Ich hoffte bloß, dass ich auf Sheila und Don keinen allzu wirren Eindruck machen würde.

Doch als ich zu meinem Wagen kam, war er leer.

Jemand hatte Natasha entführt, da gab es keinen Zweifel.

Ich pinkelte mir in die Hose und stieß einen verzweifelten Schrei aus. Dann sank ich ohnmächtig zu Boden.

Liebe Natasha,

als Du acht Wochen alt warst, hat man Dich mir weggenommen. Ich war so dumm, Dich im Auto zu lassen, als ich kurz einkaufen ging. Wir waren auf dem Weg zu Oma Sheila. Daddy wollte auch dorthin kommen und wir wollten mit Oma und Opa Kuchen essen. Ich habe nach Dir gesucht, aber nur Deinen kleinen Schuh auf der Straße gefunden. Dann kam die Polizei. Monatelang bemühten sie sich, Dich zu finden, überprüften alle vorbestraften Kriminellen und hängten Plakate auf und brachten einen Aufruf im Fernsehen. Doch dann hörten sie auf zu suchen. Sie legten Deine Akte auf den Stapel mit den hoffnungslosen Fällen, gaben mir Dein Schühchen zurück und sagten, sie würden weiterhin ihr Möglichstes tun.

Du sollst wissen, Natasha, dass ich niemals aufgehört habe, Dich zu lieben. Und ich werde Dich immer lieben. Es gibt Tage, da glaube ich, dass Du am Leben und glücklich bist und bei einer netten Familie lebst, die Dich liebt wie ihr eigenes Kind. Sie ertragen Deine Wutanfälle und Deine Motorrad fahrenden Freunde und streiten sich mit Dir, weil Du Dir den Bauchnabel piercen lassen willst. An anderen Tagen jedoch trifft mich die Wahrheit mit solch schmerzhafter Wucht wie an dem Tag, als Du aus meinem Leben verschwandest.

Ich trage mich, was Du in deiner letzten Sekunde gesehen hast. Hast Du Deinem Mörder ins Gesicht gestarrt, bevor er Dich erstickte? Hast Du ihn genauso lieb angesehen wie mich, wenn Du beim Stillen entspannt in meinen Armen lagst? War Dir ein friedlicher Hungertod vergönnt? Durftest Du sanft aus dem Leben gleiten oder hast du diese Welt nach nur acht Wochen mit Rachegelüsten im Herzen verlassen? Wo Du auch bist, ob tot oder lebendig, ich kann Dich spüren. Ich möchte Dich wiederhaben.

Du bist ein ganz besonderes Mädchen, Natasha. Es tut mir so leid. Ich liebe Dich. Mummy

Mir ist klar, dass ich sie heute nicht mehr finden werde – Grund genug, den Rest des Kochsherrys wegzuputzen. Danach bin ich so hinüber, dass ich meine Lieblings-Quizshow verpasse.