16
R
obert saß in seinem Drehstuhl und hatte die Füße auf die lederbezogene Schreibtischplatte gelegt. Er war direkt von Louisas Hotel in sein Büro gefahren. Wahrend Louisa unter der Dusche stand, hatte er in ihrem Zimmer eine Tasse Kaffee getrunken, in der Kanzlei angerufen und Erin eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Als Louisa in einen hoteleigenen Bademantel gehüllt und in einer Wolke von Orangenduft ins Zimmer trat, verabschiedete sich Robert nur widerstrebend von ihr. Sie versprach ihm, ihn am nächsten Morgen anzurufen.
Seit er am Tag zuvor nach Brighton aufgebrochen war, hatte er sich nicht wieder zu Hause sehen lassen. Er hatte die Nacht im Büro verbracht und trug noch die Kleidung vom Vortag. Es war, als gäbe es seine Familie gar nicht mehr, als hätten Baxter Kings Worte sie aus seinem Leben getilgt.
Seine Frau war eine billige Nutte gewesen – Robert versuchte, diese Tatsache mit der gleichen professionellen Sachlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, mit der er seine Fälle anging. Doch wie er es auch drehte und wendete, eines war sicher: Erin hatte ihn betrogen. Er wollte und musste die Wahrheit aus ihrem eigenen Mund hören.
Obwohl er vor lauter Schlafmangel und zu viel Koffein schon ganz aufgedreht war, wies Robert Tanya durch die Wechselsprechanlage an, noch mehr Kaffee zu kochen und ihm auf der Stelle die Bowman-Akte zu bringen. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, kam ihm Jeds Fall gerade recht.
»Sie sehen ziemlich erledigt aus, Mr Knight«, sagte Tanya, als sie die Unterlagen brachte. Statt wie üblich zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden trug sie ihr Haar heute offen.
»Hab die Nacht durchgemacht, Tan«, antwortete Robert mit müder Stimme. Er konnte sich vorstellen, wie sein Stoppelbart, das zerzauste Haar und die verknitterten Kleider auf seine Sekretärin wirken mussten. Außerdem roch er nicht besonders gut, aber das war ihm inzwischen gleichgültig. »Keine Anrufe, keine Besucher, keine Störungen. Verstanden?«
Tanya nickte und ging.
»Und bringen Sie mir noch Kaffee!«
Robert schlug die Bowman-Akte auf und starrte zehn Minuten lang auf die erste Seite, ohne ein Wort zu lesen. Dann erhob er sich und ging ans Fenster. Er lehnte sich mit der Stirn an die Scheibe und schaute auf die Straße hinunter. Ob all die Leute, die dort unten vorübereilten, auch Probleme hatten? Sehr fröhlich sahen sie jedenfalls nicht aus, dachte er.
Dann musste er an Mary Bowman denken, die schluchzend hier in seinem Büro gesessen hatte. Sie habe nicht mehr die Kraft, um ihre Kinder zu kämpfen, hatte sie erklärt. Sie war bereit, Jed vor Gericht gewinnen zu lassen, nur damit die Sache endlich ein Ende nahm und sie keine Prügel mehr einstecken musste, so wie fast an jedem einzelnen Tag ihrer elfjährigen Ehe. Sie gab zu, dass sie mit Jeds Bruder geschlafen hatte. Nur ein einziges Mal, weil sie sich so verzweifelt nach Trost und Zuneigung gesehnt hatte. Und nach ein wenig Liebe, die sie von Jed nie bekommen hatte.
Als Jed dahinterkam, schlug er seine Frau halb tot. Seinem Bruder dagegen verzieh er. Er brachte sogar Mitgefühl für ihn auf, weil die verdorbene Mary Bowman ihn verführt hatte. Aber etwas Gutes wusste Mary doch über ihren Mann zu berichten. Ihr verschwollenes Gesicht in beide Hände gestützt erzählte sie, dass Jed ihr, als es ihr einmal besonders dreckig ging, ein Mittel mitbrachte, das er dem Bekannten eines Bekannten abgekauft hatte. Wenn sie das brav einnahm, würde er sie in Ruhe lassen, versprach er ihr. Mittlerweile war Mary vom Valium abhängig, doch Jed ließ sie noch immer nicht in Ruhe.
Die nächste Stunde verbrachte Robert damit, sich eine Verteidigungsstrategie für seinen vulgären Mandanten auszudenken. Aber von welcher Seite er den Fall auch betrachtete, er hinterließ bei ihm stets einen üblen Nachgeschmack. Hätte er Mary Bowman nicht persönlich kennengelernt und erfahren, wie Jed sie behandelte, hätte er wahrscheinlich Den bekniet, den Fall zu übernehmen. So aber fühlte sich Robert für diese Frau verantwortlich. Ebenso wie für Ruby, besonders jetzt, da er die Wahrheit über ihre Mutter, seine Frau, herausgefunden hatte. Wie verzweifelt musste Erin gewesen sein, um sich zu prostituieren? Noch verzweifelter als Mary Bowman? Bei dem Gedanken schauderte ihn und er überlegte, wie er es drehen konnte, dass Jed seine Kinder auf keinen Fall bekam.
Da er sich sowieso nicht ernsthaft auf den Fall konzentrieren konnte, verließ Robert das Büro und fuhr zu »Floristik taufrisch«. Während er gegenüber von Erins Geschäft eine Münze in die Parkuhr warf, dachte er unwillkürlich an den Tag, als er ihr den Blumenladen geschenkt hatte.
Für Erin war es eine große Überraschung gewesen. Damals hatten sie fast an derselben Stelle geparkt, bevor Robert seiner frisch angetrauten Ehefrau die Augen zugehalten und sie so über die Straße geführt hatte. Als sie vor dem kleinen heruntergekommenen Laden standen, hatte er ihr ein in Geschenkpapier gewickeltes Kästchen überreicht und sie gebeten, es gleich an Ort und Stelle zu öffnen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der Blumenladen, der erst vor kurzem zugemacht hatte, nun ihr gehören sollte. Als Erin das Kästchen öffnete und den Schlüsselbund sah, schaute sie Robert mit einem kleinen fragenden Lächeln an. Sie war so aufgeregt, dass er beinahe meinte, ihr Herz schlagen zu hören, und blickte sich verwundert und ratlos um. Da deutete Robert mit theatralischer Geste auf das Ladenlokal und rief: »Tataa!« Erin war sprachlos, als ihr klar wurde, dass sie nun tatsächlich ein eigenes Geschäft besaß. Ein lebenslanger Traum war in Erfüllung gegangen.
Jetzt, in der Rückschau, meinte sich Robert zu erinnern, dass Erin damals für einen kurzen Augenblick traurig gewirkt hatte, bevor sie die Ladentür aufschloss und hineinging. Vielleicht, dachte er, war sie ja der Meinung gewesen, dass sie ein so außergewöhnliches Hochzeitsgeschenk gar nicht verdient hatte.
Mit raschen Schritten überquerte Robert die Straße und betrat Erins duftendes Reich, das ihn an Baxter Kings Geschäft in Brighton erinnerte. Es kam Robert so vor, als sei es schon eine Ewigkeit her, dabei war er erst gestern dort gewesen. In seiner Verwirrung und Wut war ihm jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Er fühlte sich, als stecke ihm eine Grippe in den Knochen; sein Kopf war wie mit Watte gefüllt und die ganze Welt um ihn herum wirkte trotz des Sonnenscheins gedämpft und düster.
»Schatz, das ist aber eine Überraschung!« Die Sprühflasche in der Hand sprang Erin von der kleinen Trittleiter. »Du hast doch gesagt, du würdest den ganzen Tag unterwegs sein!« Sie schlang Robert die Arme um den Hals. »Es war wirklich gemein von Den, dich so kurzfristig auf die Konferenz zu schicken. Ich habe dich letzte Nacht vermisst.« Gerade wollte Erin ihrem Mann einen Kuss geben, als sie stutzte. »Du musst aber dringend mal duschen, Mr Knight.« Grinsend besprühte sie Robert mit feinem Wassernebel. »Erinnere mich nachher daran, dass ich dir ordentlich den Rücken schrubbe.«
Zwischen seiner Zuneigung zu Erin und dem Gedanken an ihre Vergangenheit hin- und hergerissen wandte Robert ihr den Rücken zu und machte ein paar Schritte von ihr fort. Dabei stieß er an einen Eimer mit gelben Blumen. Am liebsten hätte er mit beiden Fäusten auf die Theke geschlagen, doch stattdessen stand er verkrampft und mit hochgezogenen Schultern da und atmete stoßweise. Bei dem Gedanken daran, wie Erin ihn umarmt hatte, wie tüchtig sie das Geschäft führte, brachte er es nicht übers Herz, etwas zu sagen. Mit routiniert ausdrucksloser Miene drehte er sich um und brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. »Duschen wäre jetzt wirklich das Richtige. Ich bin fix und fertig.«
Erin erwiderte sein Lächeln. »Lass mich nur eben die Blumen reinholen, dann schließe ich für den Rest des Tages.« Sie zwinkerte Robert vielsagend zu. bevor sie die schweren Behälter in den Laden zog. Statt ihr zu helfen, starrte Robert seine zierliche Frau an. Unter ihrem hautengen T-Shirt und den modischen Jeans zeichnete sich ihr schlanker Körper ab. Der Körper einer schönen, intelligenten, selbstbewussten Frau. Der Körper einer Prostituierten.
Robert sah ein, dass es unklug gewesen wäre, seine Frau im Geschäft mit der Wahrheit zu konfrontieren. Wahrscheinlich wären sie von Kunden gestört worden, und Erin hätte sich dabei zu leicht aus der Affäre ziehen können. Während sie, jeder in seinem Wagen, nach Hause fuhren, wuchs Roberts Anspannung noch. In seinem Kopf pochte es und von den unzähligen Tassen Kaffee hatte er einen bitteren Geschmack im Mund. Erins Mazda befand sich unmittelbar vor ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr er ganz dicht auf, als ihm einfiel, dass er ihr den Wagen einfach so nebenbei geschenkt hatte.
»In ein paar Wochen hast du Geburtstag«, knurrte er, die Hände krampfhaft um das Lenkrad gekrallt. »Und, was soll ich dir schenken?« Jetzt brüllte er und der Druck in seinen Schläfen wurde noch stärker. »Eine rote Laterne, damit du sie dir hinter die Windschutzscheibe klemmen kannst?« Vor Wut knirschte er mit den Zähnen und grub die Fingernägel ins Lenkrad, während er sich mühsam einen Weg durch den stockenden Verkehr bahnte.
In der Kühle seines Hauses beruhigte sich Robert ein wenig.
In der Annahme, dass Erin mitkommen würde, ging er ins Wohnzimmer, doch gleich darauf hörte er oben die Dusche rauschen. Mehrere Male rief Erin nach ihm, doch er tat so, als hörte er es nicht. Wenn sie mit dem Duschen fertig war, würde er sie zur Rede stellen. Robert fragte sich, wie er jemals wieder mit dieser Frau schlafen sollte.
»Robert, Hilfe! Komm schnell!« Erins Stimme klang so eindringlich, dass er auf der Stelle nach oben ins Bad rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Eigentlich ärgerte er sich darüber, dass er so prompt auf ihr Rufen reagierte, und als er dann inmitten des warmen Dampfes im Badezimmer stand, bekam er sofort wieder bohrende Kopfschmerzen.
»Was ist denn los?« Durch die beschlagene Glaswand der Duschkabine konnte er Erins schlanke Gestalt nur undeutlich sehen.
»Sieh mal hier!«, sagte sie. »Mach die Tür auf.«
Robert schob die Duschtür zur Seite. Heiße Tropfen spritzen zu ihm heraus. Seine Frau stand nackt unter dem Wasserstrahl. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und fuhr sich mit der Seife zwischen die Beine.
»Zieh dich aus und komm rein!« Als sie mit den Händen über ihre Brüste strich, musste sie kichern. »Du bist so verschwitzt! Komm, lass dich von mir waschen.« Erin warf ihm einen Kuss zu. Ihr blondes Haar war dunkel vor Nässe und klebte ihr am Kopf.
Robert blinzelte. In dem Schleier aus Wasserdampf wirkte Erin noch schöner als sonst. Noch geheimnisvoller. Dieses Geheimnisvolle, das sie umgab, war es auch gewesen, was ihn angezogen hatte. Er hatte nichts von ihr gewusst und ihr folglich nach Belieben Eigenschaften zuschreiben können. Erin hatte nie viel über ihre Vergangenheit erzählt, höchstens, wenn er sie direkt danach fragte. Bisher war das kein Problem gewesen, sondern hatte eher einen ganz besonderen Reiz für ihn gehabt. Anfangs hatte es ihn so fasziniert, dass er immer mehr Zeit mit Erin verbringen wollte, bis er schließlich zu einer festen Beziehung bereit war. Als sie heirateten, fühlte sich Robert, als wäre er mit einer schnittigen Jacht in See gestochen, auf dem Weg in unbekannte Gefilde. Ihr gemeinsames Leben hatte ihm so viel Glück geschenkt, dass er sich Tag für Tag nach mehr sehnte.
Jetzt, im Badezimmer, hatte er das Gefühl, als befände er sich auf einem sinkenden Schiff mitten auf stürmischer See. Er beobachtete die lasziven Gesten seiner Frau und fragte sich, ob es überhaupt genug Seife geben konnte, um Erin in seinen Augen wieder vollständig reinzuwaschen.
Plötzlich packte sie ihn beim Arm und zog ihn näher. Er verlor das Gleichgewicht und stolperte vollständig bekleidet in die Dusche. Erin warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Das Wasser strömte ihr über Gesicht und Hals.
»Ich habe doch gesagt, dass ich dich sauber kriege.« Kichernd presste sie ihren eingeseiften Körper an ihn. »Zieh das Hemd aus.« Erin machte sich an den Knöpfen zu schaffen, doch Robert schob ihre Hände weg und knöpfte sein Hemd selbst auf. Da es sowieso schon völlig durchweicht war, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als es auszuziehen – auch wenn er eigentlich nicht vorgehabt hatte, Erin zur Rede zu stellen, während er halbnackt mit ihr unter der Dusche stand.
»Aber, aber«, sagte sie, »nun sei doch nicht so grantig. Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du unbedingt ein schmutziger Junge sein willst …« Wieder dieses Lachen, dieser verführerisch zurückgelegte Kopf. Nur mit Mühe löste Robert den Blick vom Körper seiner Frau. Sie war schön wie immer – sanfte Kurven an den richtigen Stellen und stramme Muskeln am Bauch und an den Schultern. Wider Willen fand Robert es erregend, wie das Seifenwasser ihr über Körper und Beine lief.
»Es gibt etwas, worüber wir reden müssen.« Robert stemmte die Handflächen zu beiden Seiten von Erins Kopf gegen die gekachelte Wand, sodass sie in der Falle saß. »Es ist was Ernstes.«
Wieder kicherte Erin. »Was Versautes fände ich schöner«, sagte sie und verteilte Duschgel auf seiner Brust. »Du willst doch wohl nicht ausgerechnet jetzt irgendwelche langweiligen Sachen besprechen! Was Ernstes kann warten.« Sie nahm den Duschkopf und spülte den Seifenschaum von Roberts Brust, bevor sie ihre Lippen über seine saubere Haut wandern ließ. Robert wich so weit zurück, wie es die enge Duschkabine zuließ. Er stieß schon mit den Ellbogen gegen die Glaswand, doch Erin küsste ihn nur noch leidenschaftlicher. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte sie seine klatschnasse Hose geöffnet und bis zu seinen Knöcheln hinuntergeschoben.
»Wo ich schon mal hier unten bin …« Grinsend blickte sie zu Robert hoch und begann, seine Hinterbacken einzuseifen.
Sein Körper reagierte sofort. Wenn er dem jetzt nicht ein Ende machte, würde er sich nicht mehr beherrschen können. Mit äußerster Willensanstrengung packte er Erin unter den Achselhöhlen und zog sie hoch, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Um sie herum waberten der feuchte Dunst und ein Hauch Zitrusduft. Robert starrte Erin in die Augen, als könnte er darin lesen, dass alles nur ein Irrtum war.
»Wie oft, glaubst du, haben wir schon miteinander geschlafen?«, hörte Robert sich fragen. Er wusste nicht, wohin das führen würde, aber er konnte einfach nicht anders.
»Mal sehen.« Erin, die das für ein Spiel hielt, zählte zuerst an ihren Fingern ab und nahm dann Roberts zu Hilfe. Danach ließ sie sich auf die Knie nieder und zählte an seinen Zehen weiter. »Zwei- oder dreihundert Mal?«, fragte sie, den Blick nach oben gewandt, bevor sie ihn erneut zu küssen begann.
Wieder zog Robert sie hoch, dieses Mal ziemlich unsanft. Mit gerunzelter Stirn rieb sich Erin die schmerzenden Schultern.
»Hey!«
»Was, glaubst du, bin ich dir für diese ganzen Male schuldig, so alles in allem?« Robert schob Erin zur Seite und drehte das Wasser ab. Mit einiger Mühe zog er sich die nasse Hose hoch und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Dann blickte er seine Frau prüfend an. Er suchte nach einem Beweis dafür, dass Baxter King sich geirrt hatte. Doch vergeblich. Reglos stand Erin da und starrte auf die Tropfen an der Glaswand.
»Wird wohl langsam Zeit, dass ich meine Schulden begleiche.« Robert trat einen Schritt vor und drängte Erin gegen die Wand. Ohne genau zu wissen, was er tat, packte er sie bei den Handgelenken, zog ihre Arme hoch und presste sie gegen die Kacheln. Dann starrte er ihr aus nächster Nähe ins Gesicht, doch sie drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. »Wie viel schulde ich dir für den ganzen Sex? Sag mir, was ist dein üblicher Satz?« Seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Sag’s mir!«, brüllte er.
»Ich weiß nicht, was du meinst, Robert. Hör auf damit, du machst mir Angst.« Vorsichtig öffnete Erin die Augen. Die Adern an Roberts Hals waren dunkelrot angeschwollen, und sie bemerkte Falten auf seiner Stirn, die ihr noch nie aufgefallen waren. »Lass mich ein Handtuch holen. Mir ist kalt.«
War es der Klang ihrer Stimme oder der Anblick ihres zitternden Körpers? Was auch immer, etwas in ihm gab nach, und er ließ sie frei. Er wusste, dass sie in dem drückend heißen Raum unmöglich frieren konnte. Sie zitterte vielmehr vor Angst.
Robert folgte ihr. In seiner triefenden Hose stand er mitten im Badezimmer, während sich Erin ihren weißen Frotteebademantel anzog und den Kragen hochschlug. Sie warf einen Blick auf die Tür zum Schlafzimmer, doch Robert versperrte ihr mit ausgestreckten Armen den Weg.
»Wie viel?«, fauchte er.
»Robert, was ist letzte Nacht passiert? Du benimmst dich so komisch.« Erins Stimme war viel höher als gewöhnlich und drohte zu kippen.
»Ich war nicht auf einer Konferenz«, erwiderte er, entschlossen, Erin so lange im Badezimmer festzuhalten, bis sie alles zugab. »Ich bin nach Brighton gefahren.«
Es war, als wäre die Luft im Raum plötzlich zu Eis erstarrt. Robert wollte Erins Reaktion beobachten, aber gegen das Licht, das durch das Milchglasfenster fiel, konnte er nur ihre Silhouette erkennen.
»Nach Brighton?«
»Ich war bei Baxter King.« Gespannt wartete er auf ihre Antwort, doch sie stand nur fröstelnd da und zog den Bademantel enger um sich. Das Wasser aus ihrem Haar lief ihr in kleinen Rinnsalen über das Gesicht. Sie machte keine Anstalten, es wegzuwischen. Die Sekunden zogen sich endlos hin.
»Ist das ein Anwalt? Oder ein Mandant?«, fragte sie schließlich gelassen. Robert erkannte seine Frau nicht wieder. Von einer Minute zur anderen war sie wie verwandelt. Sie machte einen selbstsicheren Eindruck und wirkte beinahe ein Stück größer als sonst. Ganz ruhig kam sie auf ihn zu, duckte sich gewandt unter seinem Arm hindurch und ging ins Schlafzimmer.
»Du hast den Namen noch nie erwähnt!«, rief sie zurück, während sie Kleidungsstücke von der Garderobe nahm und aufs Bett legte.
Robert drehte sich zu ihr um. Er traute seinen Ohren nicht. Mit dem Rücken zu ihm schlüpfte Erin in Jeansshorts und ein rückenfreies Top und wickelte sich ein Handtuch um das nasse Haar. Dann setzte sie sich an den Toilettentisch, um sich das Gesicht einzucremen und die Wimpern zu tuschen. Sie wirkte geradezu fröhlich und beschwingt, so als habe sie noch nie von Baxter King gehört. Als bedeute es nichts, dass Robert ihn erwähnt hatte.
Nur zu gern hätte Robert ihr geglaubt. Sein Körper, der seit vierundzwanzig Stunden unter Hochspannung stand, sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Am liebsten wäre er mit ihr ins Bett gegangen und hätte sich ihren Zärtlichkeiten überlassen. Doch er konnte jetzt einfach nicht aufgeben, auch wenn die Erinnerung an Jenna jedes Wort überschattete.
»Du willst also behaupten, dass du noch nie etwas von einem Mann namens Baxter King gehört hast?« Robert tigerte im Schlafzimmer auf und ab wie vor einer Geschworenenbank.
»Genau«, sagte Erin, ohne die Lippen zu bewegen, weil sie gerade Lipgloss auftrug.
»Gehe ich dann auch recht in der Annahme, dass du noch nie in Brighton gelebt hast?«
»Voll und ganz. Ich bin überhaupt noch nie dort gewesen.« Erin band sich ihre Uhr um.
»Was würdest du sagen, wenn ich behaupte, dass ich etwas anderes gehört habe, nämlich dass du Baxter King sehr wohl kennst und einige Jahre in Brighton gewohnt hast?« Robert stand jetzt unmittelbar hinter seiner Frau und starrte ihr Spiegelbild an.
»Ich würde sagen, dass du etwas Falsches gehört hast.« Reglos, die Hände im Schoß gefaltet, saß Erin da und blickte ihn offen an. Nur unter ihrem linken Auge zuckte es leicht.
Roberts geübtem Auge entging die winzige Bewegung ebenso wenig wie ihr krampfhaftes Schlucken und die angespannten Kiefermuskeln. Nicht umsonst hatte er schon viele Stunden bei Polizeiverhören zugebracht. Erin wirkte unnatürlich beherrscht.
»Wenn ich dir jetzt eine Frage stelle, von der unsere ganze gemeinsame Zukunft abhängt, wirst du mir eine ehrliche Antwort geben?«
»Sicher, aber …«
»Hast du dein Geld schon mal mit Sex verdient?«, stieß er hervor. Das Wort »Prostituierte« wollte ihm nicht über die Lippen. Sie fuhr herum, sprang auf und starrte ihn an. In ihren Augen standen Tränen, und ihre Lippen öffneten sich leicht wie zu einem stummen Protest. Alles nur ein Trick, um Mitleid zu erregen und Zeit zu gewinnen, dachte Robert und fragte sich, ob sie wohl gleich den Handrücken an die Stirn pressen und ohnmächtig zu Boden sinken würde.
Doch in diesem Augenblick schlug unten die Eingangstür zu, und sie fuhren beide zusammen. Eine fröhliche junge Stimme erklang im Hausflur, und wenige Sekunden später hörten sie, wie Ruby ihre neueste Komposition spielte.
Der entscheidende Augenblick war vorüber. Robert war ratlos er fühlte sich wie der Befehlshaber einer Armee, die zum Angriff bereit hinter ihm stand, ehe unverhofft ein Unbeteiligter auf das Schlachtfeld geriet. Um diesen unschuldigen Menschen zu schonen, ließ Robert Erin aus dem Schlafzimmer entkommen. Von der Treppe aus rief sie ihre Tochter und fragte, warum sie schon so früh nach Hause gekommen sei.
Robert setzte sich auf den Hocker vor dem Toilettentisch und starrte in den Spiegel. Ein erschöpftes, verzerrtes Gesicht schaute ihm entgegen. Dann richtete er seinen Blick auf die Tür, durch die gerade seine Frau verschwunden war. Er konnte ihren Duft noch riechen und die Wärme ihres Körpers auf dem Hocker spüren. Robert ließ die vergangenen Minuten noch einmal Revue passieren.
»Ich gebe also zu bedenken«, murmelte er seinem Spiegelbild zu, »dass Ihre geliebte Frau eine ausgemachte Lügnerin und eine gemeine Hure ist. Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass Sie ein Idiot sind, weil Sie es nicht eher gemerkt haben. Die Verhandlung ist geschlossen.« Er schlug mit der Faust auf den Toilettentisch. Durch ihr Schweigen hatte Erin seine Frage beantwortet. Daran gab es nichts zu rütteln. Er beschloss, ins Büro zu fahren und über einen gerechten Schuldspruch nachzudenken. Doch wahrscheinlich würde er wieder nur dasitzen und die Bilder an der Wand anglotzen.
Robert zog sich trockene Sachen an und ging hinunter. Er wollte gerade das Haus verlassen, als er außer Rubys Klavierspiel noch eine tiefe, lachende Stimme hörte. Er ging ins Esszimmer. Ruby saß am Klavier, und ein Junge lehnte linkisch neben ihr. Die beiden kicherten miteinander und waren so vertieft, dass sie Roberts Anwesenheit gar nicht bemerkten.
»Ist es aber nicht!«, rief Ruby gerade mit Nachdruck und hielt sich die Augen zu, sodass nur noch ihr lächelnder Mund zu sehen war.
»Hört sich aber so an«, neckte der Junge sie und klimperte ein paar Töne.
»Na ja. vielleicht ein bisschen«, gab Ruby zu. »Aber es ist jedenfalls kein normales Liebeslied. Dafür kenne ich dich noch viel zu wenig. Es ist mehr ein Bewunderungslied.« Erneut kicherten sie, und Ruby warf mit einer typischen Bewegung das Haar zurück. Offensichtlich mochten sich die beiden. Robert war sich nicht sicher, ob er noch genug Energie besaß, um den ungepflegten Burschen zu verscheuchen.
»Dad!«, rief Ruby plötzlich. Der Junge drehte sich um und richtete sich auf. Sein fettig wirkendes Gesicht wurde ernst. »Das ist Art. Ich habe dir von ihm erzählt, weißt du noch?«
Robert nickte knapp und warf dem schlaksigen Jungen einen prüfenden Blick zu. Er trug zerfetzte Jeans, die ihm fast von den Hüften rutschten, und ein ausgeblichenes T-Shirt mit dem Aufdruck »Nuke« quer über der Brust. Sein schlammbraunes Haar hing ihm wirr und schmuddelig ums Gesicht. Auf die Haarspitzen hatte er sich irgendein gelbes Glitzerzeug geschmiert. Robert war erstaunt, als der Junge ihm die Hand reichte.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr Knight.« Seine Stimme war erstaunlich tief für ein so mageres Bürschchen. »Ruby hat mir gerade ihr neues Stück vorgespielt. Wirklich cool.«
Robert schüttelte Art die Hand, antwortete jedoch nicht. »Warum bist du nicht in der Schule, Ruby?« Seine Worte klangen rau und abgehackt.
»Freie Hausarbeit, Mr Knight«, sprang Art ein, als er merkte, dass Ruby nur mit offenem Mund dasaß.
»Na gut. Solltet ihr dann nicht auch arbeiten?« Robert verabscheute sich dafür, dass er Ruby die gute Laune verdarb.
Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Wir wollten gerade zum Arbeiten in mein Zimmer gehen«, sagte sie und wurde rot.
»Ich glaube, deine Mutter und ich würden es lieber sehen, wenn ihr hier unten arbeitet.«
»Ach Unfug, Robert.« Erin kam mit einem Tablett voller Pizza und Getränkedosen aus der Küche. »Oben haben sie ihre Ruhe. Also los, Liebes. Kannst du das tragen?« Sie gab Ruby das Tablett und warf Robert einen raschen Blick zu. Kaum waren die beiden jungen Leute verschwunden, ging Erin zurück in die Küche, wo sie lautstark mit Geschirr und Töpfen klapperte und die Schranktüren zuknallte.
»Und ich habe mehr Ruhe im Büro!«, brüllte Robert in Richtung Küche, schlug die Tür hinter sich zu und fuhr zu Mason & Knight.
Den telefonierte ganz offensichtlich mit einer Frau. Er hatte seine rote Krawatte gelockert und lümmelte mit lang ausgestreckten Beinen im Schreibtischsessel. Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem gebräunten Gesicht. Er fuhr sich mit den Fingern durch das ohnehin schon strubbelige Haar und schlug einen neckischen Ton an.
»Ich wette, das sagen Sie zu allen Männern, die Sie anrufen.« Dens Grinsen wurde noch breiter. »O nein, das ist ungerecht! Ich bin ein vollendeter Gentleman. Hoffentlich kann ich Sie eines Tages davon überzeugen.« Als er Robert in der Tür stehen sah, winkte er ihn zu sich und bedeutete ihm, sich ihm gegenüberzusetzen. »Ja, gern. Na, vielleicht. Ich rufe später noch mal an, dann können wir einen Termin ausmachen. Jetzt muss ich los. Bye!«
Den lehnte sich zurück, löste seine Krawatte vollends und hängte sie sich lose um den Hals. »Mann, das ist vielleicht ein heißer Feger«, sagte er und erwartete offensichtlich eine anerkennende Bemerkung von Robert. Doch als er sah, dass sein Partner nur steif und wortlos dasaß, verstummte er und schaute ihn stirnrunzelnd an. »Robert?«
Robert holte tief Luft und atmete mit einem Seufzer aus. Es kam ihm so vor, als habe er stundenlang die Luft angehalten. Dann knetete er mit beiden Händen seine verspannten Schultern. »Wieder eine Ehe im Eimer«, hätte er am liebsten gesagt, doch er riss sich zusammen und sagte stattdessen: »Es geht um den Bowman-Fall. Du musst ihn übernehmen.« Er nannte keinen Grund für seine Bitte. Erst einmal wollte er Dens Reaktion abwarten.
»Jetzt erzähl mal, was du wirklich auf dem Herzen hast, du Strahlemann.« Den machte die Bürotür zu, holte eine Flasche Jack Daniel’s aus dem Mahagoni-Barschrank und goss ihnen beiden ein Glas ein. »Da, trink mal was und erzähl mir dann alles.« Den hockte sich auf die Armlehne des Ledersofas und wartete.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Robert überhaupt etwas sagen konnte. Als er schließlich sprach, kamen seine Worte zögernd und stockend. Da er es nicht über sich brachte, die Dinge beim Namen zu nennen, sagte er nur: »Es läuft nicht so gut mit Erin und mir. Ganz schön vertrackte Sache, um ehrlich zu sein. Hat was mit ihrer Vergangenheit zu tun.« Robert kippte seinen Drink hinunter.
Den rutschte unbehaglich auf der Lehne herum, sagte aber nichts. Aus seiner langjährigen Erfahrung mit schwierigen Mandanten wusste er, dass es keinen Zweck hatte, sie zu bedrängen, selbst wenn man unbedingt Informationen für die Gerichtsverhandlung brauchte. Es war besser, man ließ ihnen Zeit, dann kam nach allen Lügen und Ausflüchten meistens doch die Wahrheit ans Licht.
Doch als er ein paar Minuten später immer noch nichts Genaueres aus Robert herausbekommen hatte, wurde ihm klar, dass seine gewöhnliche Taktik hier versagte. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, sagte er: »Du isst heute bei uns zu Abend. Ich rufe Tula an und sage ihr Bescheid. Wenn du willst, kannst du auch über Nacht bleiben.«
Robert nickte und hielt ihm sein Glas zum Nachschenken hin. Nach dem zweiten Whisky löste sich langsam der Knoten in seiner Magengrube, und die Gedanken an Erin und Baxter King und Jed Bowman und Rubys neuen Freund verloren an Schärfe und wurden ein wenig verschwommen.
Den befahl Robert, einen Spaziergang zu machen, damit er wieder einen klaren Kopf bekam. Währenddessen wollte er sich mit einem Fall beschäftigen, der am folgenden Morgen anstand. Sie würden um sechs Uhr Feierabend machen, weil Tula das Essen immer um sieben servierte. So bliebe ihnen noch Zeit für einen Aperitif und ein Gespräch unter vier Augen.
Folgsam machte sich Robert auf und spazierte durch den Greenwich Park. Als er zu den römischen Ruinen kam, musste er daran denken, wie Erin und er in der ersten Zeit ihrer Beziehung hier öfter ein Picknick veranstaltet hatten. Während sie danach den Lover’s Walk entlanggeschlendert waren, hatte er sich ausgemalt, wie es wohl wäre, mit dieser attraktiven, geheimnisvollen Frau zu schlafen. Wenn er damals mit Erin zusammen war, erregte ihn alles, was mit Liebe zu tun hatte, ganz gleich, ob in einem Film, einem Buch oder einem Lied. Doch das Beste – Erin ganz und gar zu besitzen – sparte er sich auf, um die Vorfreude richtig auskosten zu können. Sie war für ihn wie eine dieser exotischen Blüten in jenem Laden, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sie beobachtet, wie sie Blumen steckte und Schreibkram erledigte, und dabei so getan, als würde er einen Strauß aussuchen. Schon damals hatte er sich in sie verliebt. Und schon damals hatte er gewusst, dass alle Blumen irgendwann welken mussten.
Robert wanderte zum Bootsteich und fuhr dann, ganz gegen seine Gewohnheit, mit dem Bus zurück ins Büro. Den hatte recht gehabt. Dank der windstillen Sommerluft und der milden Sonne waren seine Kopfschmerzen weniger geworden. Er dachte an die schöne Zeit, die er bisher mit Erin gehabt hatte. Mittlerweile erschien ihm alles nicht mehr ganz so hoffnungslos. Selbst wenn es stimmte, was Baxter King gesagt hatte, und Erin wirklich eine turbulente Vergangenheit besaß, hatte Robert doch ein Fünkchen Hoffnung, dass er darüber hinwegkommen würde.
Bald darauf stand er in der Küche der Masons, einem großen Raum mit schimmernden Stahlarmaturen und schwarz-weiß gemustertem Fußboden. Den entkorkte soeben eine Flasche Faustino.
Flink wie ein Wiesel huschte Tula in dem Raum hin und her, in dem alles überlebensgroß war, wie es Robert schien. Sogar der Kühlschrank hatte die Ausmaße eines doppeltürigen Kleiderschranks. Tula trug eine enge schwarze Hose und dazu ein Spitzentop, dass sich über ihren neuen, verschönerten Brüsten spannte. Ein Haufen Goldschmuck betonte ihren Hals, der für eine Frau ihres Alters auffällig faltenlos war. Sie hatte sich eine blauweiß gestreifte Küchenschürze umgebunden, die der kleinen Person bis unter die Knie reichte.
»Armer Schatz«, gurrte sie, als Den und Robert eintrafen. Robert, der zunächst dachte, sie meinte ihren Mann, fand sich unversehens in ihren Armen wieder. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen Kuss zu geben. »Den hat mir erzählt, dass du wieder Eheprobleme hast. Und dabei seid ihr doch erst so kurz verheiratet.« Tula begab sich an ihren riesigen Herd, um die Sauce umzurühren. »Mach doch einfach dasselbe wie Denny, wenn wir uns mal kabbeln. Schick sie auf eine Schönheitsfarm, das wird ihr guttun. Wahrscheinlich hat sie Stress und braucht mal eine richtig schöne Wellnessbehandlung.« Tula tunkte den Finger in die Sauce und schmeckte ab. »Ich kann dir eine gute Adresse nennen.«
Robert lächelte über Tulas Ungezwungenheit und das oberflächliche Geplapper, das ihm so vertraut war. Alles an dieser Frau war umgemodelt, geliftet, verschönert, implantiert oder abgesaugt. Wenn sie sich nicht gerade in einer Klinik in der Harley Street aufhielt und ihren Lieblingschirurgen bekniete, ihr doch noch ein winziges bisschen von der Nase wegzunehmen oder ihre Haut noch eine Idee mehr zu straffen, war sie in dem Privatclub, wo Den und er Squash spielten, und ließ sich massieren, in feuchte Tücher einwickeln oder die Haut reinigen. Oder sie aß mit Freunden zu Mittag und plante dabei ihre nächste Fernreise. Kinder waren für dieses Paar nie in Frage gekommen, selbst wenn Den sich welche gewünscht hätte. Sie hätten Tula nur die Figur verdorben.
Robert liebte Tula heiß und innig. Sie war das genaue Gegenteil von dem, was er an einer Frau mochte, und sie kamen fabelhaft miteinander aus.
»Komm her«, sagte er und stellte sein Weinglas auf die Arbeitsplatte aus Marmor. »Ich bin wirklich ein ungehobelter Klotz.« Er ging zu Tula, fasste sie um die Schultern, hob sie ein wenig vom Boden hoch und gab ihr einen Kuss auf das blonde spraygestärkte Haar. »Tut mir leid, aber im Moment bin ich ein richtiger alter Griesgram. Lieb von dir, mich einzuladen. Das Essen duftet …« Er nahm Tula den Holzlöffel aus der Hand und kostete die mit roten Johannisbeeren und Rosmarin gewürzte Sauce. »Es duftet und schmeckt einfach göttlich. Genau das, was ich jetzt brauche.«
»Weidelamm.« Sie lächelte ihn an. »Was Besseres gibt’s nicht.«
Den ging mit Robert in die Bibliothek. Ihre Schritte hallten auf dem Travertinboden der Empfangshalle, die sie durchqueren mussten, um zu dem eichengetäfelten Raum, Dens ureigenster Domäne, zu gelangen. »Willkommen in der botoxfreien Zone«, hatte Den gesagt, als er Robert zum ersten Mal durch sein neues Haus im pseudo-georgianischen Stil führte.
»Hier ist für Tula und ihre Busenfreundinnen der Zutritt verboten.«
Das Zimmer war mit allem Notwendigen ausgestattet – hinter einem Ölgemälde mit Jagdszene befand sich ein LCD-Fernseher, es gab eine gut bestückte Bar mit eingebautem Kühlschrank, einen Mahagonisekretär, in dem sich ein hochmoderner Computer verbarg, sowie einen kleinen Billardtisch. Eine Sitzgarnitur aus dunkelgrünem Leder war vor dem Kamin gruppiert und eine Wand bedeckten gut bestückte Bücherregale. Roberts Ansicht nach brauchte sein Partner dieses Zimmer eigentlich niemals zu verlassen, außer wenn er etwas essen oder sich waschen wollte.
Doch er war nicht neidisch auf Dens Wohlstand. Dessen Vater, der verstorbene Edmond Frederick Mason, hatte vor fast fünfzig Jahren zusammen mit seinem eigenen Vater die Kanzlei Mason & Mason gegründet. Als Dens Großvater starb, trat Den, der gerade sein Jurastudium beendet hatte, automatisch in seine Fußstapfen.
Robert hatte zur selben Zeit seinen Abschluss gemacht, doch im Gegensatz zu Den musste er sich mühsam seine Sporen in kleinen Anwaltskanzleien in Nordengland verdienen. Dabei sammelte er wertvolle Erfahrungen, und als Dens Vater an einem Herzinfarkt starb, wählte Den ihn als neuen Geschäftspartner und aus Mason & Mason wurde Mason & Knight.
Allerdings hatte der gute Ruf der Kanzlei bereits in den letzten Lebensjahren des alten William Mason gelitten. Mason senior war zu krank gewesen, um die großen Firmen halten zu können, die über Jahrzehnte hinweg zu ihren Mandanten zählten. Außerdem überließ er das Geschäft zunehmend seinem Sohn Dennis, der jedoch mehr damit beschäftigt war, sein Leben zu genießen, als sich um die Kanzlei zu kümmern. Da war es kein Wunder, dass es mit Mason & Mason langsam bergab ging. Mittlerweile befassten sie sich vorwiegend mit Scheidungsfällen, aber sie lebten gut davon. Inzwischen sogar sehr gut, denn Mason & Knight hatte sich zu einem anerkannten Spezialisten für internationales Familienrecht entwickelt.
Mit zunehmendem Alter hatte sich Den mit seinem gleichförmigen Leben abgefunden. Dennoch gönnte er sich nach wie vor ein- oder zweimal im Jahr einen kleinen Seitensprung. Und da Robert ein loyaler Freund und Verbündeter war, sagte er nichts dazu.
»Holt sie es sich woanders?« Den ließ sich in einen Sessel fallen.
»So einfach ist die Sache nicht.« Robert hatte nicht die Absicht, Den alles zu erzählen, was er über Erin herausgefunden hatte. Vor allem sollte sein Partner nicht wissen, dass Robert in den Briefen seiner Frau herumgeschnüffelt hatte. Das erinnerte doch zu sehr an sein Verhalten Jenna gegenüber.
»Sagen wir mal, sie hat mich angelogen. Und selbst als ich ihr die Wahrheit ins Gesicht sagte, wollte sie es nicht zugeben.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Mit Ruby zu Hause. Ich hoffe, sie behält ihre Tochter gut im Auge. Die hat nämlich einen Freund. Einen Zigeuner, ob du es glaubst oder nicht.« Robert beugte sich vor und fragte ernst: »Was soll ich bloß machen, Den? Meine Frau ist nicht die, für die ich sie hielt, und meine Tochter, die ich auf eine der teuersten Privatschulen Londons schicke, hat sich in einen bekifften Hippie verliebt.« Er stieß ein kleines freudloses Lachen aus.
»Nicht die, für die du sie hieltst?«, hakte Den nach.
»Sie hat mir nicht die Wahrheit über ihre Vergangenheit gesagt. Und ich weiß nicht, ob ich nun ihren Beteuerungen oder meinem Informanten glauben soll.«
»Soll das heißen, dass sie ihre …« – Den suchte nach dem richtigen Wort – »… ihre Unschuld beteuert?«
Genau das war der springende Punkt. Erin hatte zwar abgestritten, dass sie Baxter King kannte oder jemals in Brighton gelebt hatte, doch seine andere Anschuldigung hatte sie nicht direkt geleugnet. Im Grunde genommen hatte sie nichts dazu gesagt.
Robert seufzte. »Nein, eigentlich beteuert sie gar nichts.«
»Verstehe«, erwiderte Den nachdenklich. Er wusste immer noch nicht, worauf Robert hinauswollte, beschloss jedoch, nicht weiter in ihn zu dringen. »Hast du schon mal daran gedacht, den Typ zu engagieren, der für Critchley arbeitet? Wie heißt er noch – der Kerl, der die Nachforschungen für ihn anstellt …«
Nach kurzem Zögern antwortete Robert: »Ich habe mich mit Louisa in Verbindung gesetzt, nachdem du mir erzählt hattest, dass sie wieder in England ist. Wir haben uns neulich in einem Hotel auf dem Land getroffen, und heute Morgen habe ich ihr hier in London ein Hotelzimmer besorgt.«
»Jetzt mal langsam, Kumpel.« Den war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte. »Du hast dir ein schönes Wochenende mit Louisa gemacht, hast dich heute schon wieder mit ihr in einem Hotel getroffen und dann regst du dich über Erin auf?« In Dens Lachen schwang fast so etwas wie Anerkennung mit.
»Nein, es ist nicht so, wie du denkst.« Egal was er sagte, dachte Robert, Den würde doch immer seine eigenen Schlüsse daraus ziehen. »Ich habe sie engagiert, damit sie dieses ganze Durcheinander aufklärt. Ich mische mich am besten so wenig wie möglich ein. Nicht so wie beim letzten Mal«, fügte er hinzu. »Aber behalte es für dich. Wenn Erin herauskriegt, dass ich Louisa angeheuert habe, ist es sofort aus zwischen uns.«
Bei diesen Worten wurde Robert klar, dass er nicht wollte, dass es aus war. Er erkannte jetzt auch, dass es von Anfang an genügend Anzeichen dafür gegeben hatte, dass Erin ihm etwas verheimlichte. Doch in seiner Verzweiflung über Jennas Tod hatte er die Hinweise einfach übersehen. Wie betäubt hatte er sich damals von einem Tag zum nächsten geschleppt, bis er Erin kennenlernte, die seinem Leben wieder einen Sinn gab.
Tula rief sie zum Essen. Bei Tisch drehte sich das Gespräch um die unfähigen Gartenarchitekten, die nach Tulas Meinung den japanischen Ahorn an die falsche Stelle gepflanzt hatten, und um den Bowman-Fall. Robert bat seinen Partner noch einmal, ihn zu übernehmen, doch Den lehnte ab.
»Tut mir leid, aber ich habe zu viel zu tun. Damit musst du schon allein klarkommen.«
»Na gut, dann werde ich ihn eben vertreten. Wenn ich Glück habe, ist es mit einer Anhörung getan. Mir tun nur die Kinder leid. Die sollen bei dem Mann leben, der ständig ihre Mutter verprügelt hat!« Im selben Augenblick merkte Robert, was ihm da herausgerutscht war.
»Hat dein Mandant das zugegeben?«, fragte Den mit vollem Mund.
Mit einem Seufzer legte Robert sein Besteck hin. »Seine Frau, Mary Bowman, kam neulich zu uns ins Büro, um mir zu sagen, dass sie ihrem Mann die Kinder überlassen will. Sie sah aus, als wäre sie unter einen Bus gekommen.«
Während Den schweigend und gedankenverloren kaute, dachte Robert über seine eigenen Worte nach. Mary Bowman wollte ihrem Mann die Kinder überlassen. Was gab ihr eigentlich das Recht dazu? Und wie konnte Jed Bowman sich anmaßen, das Sorgerecht für seine Kinder zu verlangen? Robert war sich plötzlich ganz sicher: Man musste die Kinder selbst entscheiden lassen, bei wem sie leben wollten. Schließlich waren sie mit elf und dreizehn alt genug dazu. Er dachte an Ruby. Falls Erin und er sich trennen sollten, würden sie es ihr, obwohl Robert keinen juristischen Anspruch auf sie hatte, freistellen zu wählen, da war er sich ganz sicher. Kinder waren kein Eigentum, besonders wenn es sich um Eltern wie Mary und Jed Bowman handelte.
»Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn du dich mit der gegnerischen Partei …«
Robert hob abwehrend die Hand. »Lass nur, Den. Ich mache das schon.« Damit war das Thema beendet.
Robert bezahlte das Taxi und stieg langsam die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Nach dem guten Essen und diversen Gläsern Wein und Cognac fühlte er sich entspannt und besänftigt genug, um noch mal im Guten mit Erin zu reden.
Nach dem Lamm hatte Tula Obstgratin mit Crème fraîche serviert. Danach gingen Den und Robert wieder in die Bibliothek, wo sie Brandy tranken und sich noch lange unterhielten. Den, der immer noch nicht ganz im Bilde war, hatte Robert davon überzeugt, dass auch für Erin der Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« galt. Als Anwalt durfte sich Robert nicht ausschließlich auf die Aussage eines völlig Fremden verlassen. Den redete ihm gut zu, sich bei seiner Frau zu entschuldigen und am nächsten Morgen noch einmal in aller Ruhe mit ihr zu sprechen.
Wie erwartet war das Haus dunkel und still. Die grünen Leuchtziffern am Herd zeigten elf Uhr dreißig. Robert trank noch einen Schluck Wasser, bevor er nach oben ging. Bestimmt würde er morgen einen heftigen Kater haben, nachdem er an diesem Abend mehr Alkohol getrunken hatte als sonst in einer ganzen Woche.
Weil Erin vergessen hatte, im Schlafzimmer die Vorhänge zuzuziehen, lag der Raum in dem unheimlichen orangegelben Licht der Straßenlaternen. Robert stutzte – Erins Bett war leer. Spontan schlug er die Decke zurück, als wollte er nachsehen, ob sie sich darunter versteckt hatte. Wahrscheinlich schlief sie im Gästezimmer oder bei Ruby. Er schlich über den Treppenabsatz und schaute nach. Auch das Gästebett war unbenutzt. Als er die Tür zu Rubys Zimmer einen Spaltbreit öffnete, stockte ihm vor Schreck der Atem. Sie war ebenfalls nicht da!
Fluchend marschierte Robert zurück ins Schlafzimmer, schaltete das Licht an und riss den Kleiderschrank auf. Die meisten von Erins Sachen waren fort, bis auf ein Häufchen Kleidungsstücke auf dem Boden des Schrankes. Auch die Schmuckschatulle vom Toilettentisch war weg, ebenso wie Erins Zahnbürste und ihre Kosmetika im Badezimmer. Er sah in Rubys Zimmer nach. Auch von ihren Kleidungsstücken fehlten einige.
Robert ließ sich auf Rubys Bett fallen und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Ihm war zumute wie an dem Tag, als er es endlich fertiggebracht hatte, Jennas Sachen aus dem Haus zu schaffen. Stück für Stück hatte er alles eingepackt und es teils zur Kleiderkammer, teils zu Jennas Angehörigen gebracht. Ein paar Sachen hatte er auch weggeworfen. So schnell wanderte ein ganzes Leben auf die Müllkippe.
Robert, sagte sie.
Er fuhr hoch, weil er dachte, es sei Erin. Doch er hatte Jennas Stimme gehört, die ihn beschwor, nicht wieder die gleichen Fehler zu machen. In diesem Augenblick erst wurde ihm richtig bewusst, dass Erin und Ruby ihn verlassen hatten.