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obert öffnete die Tür zu Cheryls Haus und schob Louisa und Ruby über die Schwelle. Bevor er selbst eintrat, blickte er aufmerksam nach links und rechts und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare. Er war sich über die Tragweite seines Tuns durchaus im Klaren.

»Hier wohnt Cheryl, nicht wahr?«, fragte Louisa.

Mit einem Finger auf den Lippen bedeutete ihr Robert zu schweigen. Auch wenn sie das Haus mit einem Schlüssel betreten hatten, waren sie Einbrecher. Nur dass sie nichts stehlen, sondern etwas zurückbringen wollten. Cheryl ihren Seelenfrieden wiedergeben wollten.

Dann standen sie in dem kleinen, quadratischen Wohnzimmer. Louisa wartete darauf, dass Robert etwas tat, und Ruby runzelte die Stirn und seufzte genervt.

»Cheryl?«, rief Robert. »Sind Sie zu Hause? Ich habe Ihre Handtasche.«

»Und ich sollte still sein«, murmelte Louisa.

»Fasst nichts an«, ermahnte Robert sie, doch Louisa hatte bereits einen Silberrahmen mit ein paar Fotos darin in die Hand genommen.

»Schau mal«, sagte sie. Robert blickte ihr über die Schulter. »Wer ist das?«

Robert zuckte mit den Achseln. Die Bilder zeigten ein hübsches asiatisches Mädchen, das ganz offensichtlich schwanger war. Auf den Fotos war mehr von ihrem Bauch als von ihrem Gesicht zu sehen. Er schaute aus dem Fenster. Draußen schien noch immer die Sonne, doch in Cheryls Welt herrschte trübes Zwielicht.

»Wartet hier«, sagte er. Louisa hatte tröstend Rubys Hand ergriffen. Als er durch das Haus zur Hintertür ging, bemerkte er, dass Louisa und Ruby sich entgegen seiner Anweisung dicht hinter ihm hielten. »Horcht mal! Hört ihr das?«

»Da weint jemand«, flüsterte Louisa.

»Nein, das ist Gesang«, erwiderte Ruby. Robert schloss die Augen und lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf.

»Oben?« Mit einem Nicken bestätigte Robert Louisas Vermutung und so stiegen sie vorsichtig die steile Treppe hinauf. Louisa umklammerte nach wie vor Rubys Hand.

Immer lauter wurde das unheimliche Geräusch, das wie nächtliches Katzengeheul klang. Auf dem kleinen Treppenabsatz gab es kein Fenster, daher dauerte es einen Augenblick, bis sich Roberts Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.

Plötzlich ging er auf die Knie und kroch über den Fußboden bis zu einer dunklen Ecke. Dort hockte jemand und summte eine Melodie, immer wieder unterbrochen von Schluchzen und Schniefen. Die Luft ringsum schien davon zu vibrieren.

»Cheryl? Was ist los?«, fragte Robert mit belegter Stimme. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Alles hätte er erwartet, nur das nicht.

Als Louisa das Licht anmachte, waren sie für ein paar Sekunden geblendet. Dann schnappte Louisa vor Schreck nach Luft, während Robert nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken konnte. Mit vor Schreck geweiteten Augen betrachteten sie die Frau, die sich dort auf dem Teppich wie ein Fötus zusammengekauert hatte. Wie Flüsse auf einer Landkarte zeichneten sich auf dem Gesicht der Frau die Spuren von Tränen und Schleim ab. Sie schaukelte vor und zurück, während sie stockend immer weitersang. Im Nu war Robert bei ihr und strich ihr die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. Die Frau war völlig eingesponnen in ihren Kummer und nahm die Besucher gar nicht war.

»Louisa, was ist da los?«, flüsterte Ruby. Als Robert aufblickte, sah er, wie Louisas Lippen tonlos die Worte »Keine Angst« formten.

»Cheryl, hören Sie mich? Ich bin’s, Robert Knight. Wir haben uns im Pub kennengelernt.« Er versuchte, sie hochzuheben, doch sie war schwer wie ein nasser Sack. Louisa machte einen Schritt nach vorn, um ihm zu helfen, doch er hielt sie zurück. Er wollte Cheryl nicht noch mehr erschrecken. »Kommen Sie mit hinunter«, sagte er. »Ich mache Ihnen eine Tasse Tee.«

Langsam und schwerfällig hob Cheryl den Kopf und ließ ihre Augen blicklos von Robert zu Louisa und Ruby wandern. Sie schien nichts wahrzunehmen. Es sah so aus, als hätte sich ihr Geist weit von der Realität entfernt. Doch sie stieß immer wieder ein paar Worte eines Wiegenliedes hervor. Dabei zitterte sie am ganzen Körper.

Plötzlich sprang sie auf, wachsam wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ihre pechschwarzen Augen glitzerten und sie blickte wild um sich.

»Wo ist mein Baby?«, fauchte sie. »Was habt ihr mit meinem Baby gemacht?«

Als Cheryl einen Schritt auf Robert zutrat, fuhr er erschrocken zurück. Sie ballte die Fäuste und starrte ihn mit gefletschten Zähnen an, die Augen ausdruckslos wie feuchte Kieselsteine. Speichel tropfte ihr vom Mund und ihr Kopf zuckte unkontrolliert.

»Ihrem Baby geht es gut«, sagte er beschwichtigend und deutete auf die völlig verwirrte Ruby. »Sehen Sie? Sie ist heil und gesund.« Er sprach wie zu einer Vierjährigen, was in diesem Fall durchaus angemessen schien.

»Na, kommen Sie.« Louisa trat neben Robert und half ihm, Cheryl zu beruhigen. Dabei sprach sie sanft und beschwichtigend auf sie ein. So etwas konnte sie gut; es war Teil ihrer Arbeit.

Robert nahm seine Stieftochter – wenn man sie überhaupt noch so nennen konnte – beim Arm und schob sie sachte zu Cheryl hin. Nun war Ruby endlich bei ihrer richtigen Mutter, doch Robert musste die ganze Zeit daran denken, welch entsetzlichen Verrat er an Erin beging. Es kam ihm so vor, als würde er Erin bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.

Ruby wehrte sich. »Lass mich los!«, protestierte sie und klammerte sich an Louisa. Nach einem kurzen Gerangel um das Mädchen erstarrten plötzlich alle, weil irgendwo ein Baby zu schreien begann. Leise zuerst, doch gleich darauf brüllte es aus Leibeskräften.

Robert ließ Ruby los und stieß die Tür hinter Cheryl auf. Das Geschrei wurde lauter und kurz darauf kehrte Robert mit einem zappelnden Bündel in den Armen zurück. Er hielt es ungeschickt, wie eine Puppe, und strich ihm beruhigend über den Rücken, doch der Säugling brüllte in unverminderter Lautstärke weiter.

»Ist das Ihr Baby?«, rief Robert Cheryl über den Lärm hinweg zu. Die schnappte sich mit einer raschen Bewegung das Kind, dessen Kopf dabei heftig nach vorne fiel, und rannte mit ihm die Treppe hinab.

»O Gott!«, stöhnte Robert.

Sie fanden Cheryl im Wohnzimmer. Mit dem Baby im Arm saß sie da, schaukelte abermals vor und zurück und sang dazu ihr Schlaflied. Das Kind hatte sich beruhigt und blickte zu Cheryl hoch.

»Robert, ich finde, wir sollten wirklich …« Louisas Worte wurden von einem scharfen Klopfen an der Tür unterbrochen. Louisa ging öffnen. Draußen stand ein junges asiatisches Mädchen – die Schwangere von den Fotos.

»Ist Cheryl zu Hause?«, fragte sie. Robert schaute sich um und bat sie hereinzukommen. Als das Mädchen sah, in welchem Zustand sich Cheryl befand, wurden seine Augen ganz groß. »Oh«, flüsterte es und ging zu der verwirrten Frau hinüber. »Warum ist sie so?« Cheryl saß da wie eine seelenlose Hülle. Sie schien die Anwesenheit der anderen wieder nicht mehr wahrzunehmen. »Wir haben sie schon so vorgefunden«, antwortete Robert und wollte das junge Mädchen gerade wegen des Babys befragen, als Louisa ihn unterbrach.

»Kann ich mal kurz mit dir reden, Robert?«

Mit erhobener Hand bat er sie zu schweigen. Er lauschte, weil Cheryls Lied gerade in gänzlich unverständliches Gebrabbel überging.

»Ich muss aber unbedingt mit dir reden, Robert.« Louisa stand unschlüssig auf der Schwelle der geöffneten Tür, als wollte sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen. »Hör mal, Rob, ich rufe jetzt James Hammond im Labor an. Die Testergebnisse dürften inzwischen da sein. Wir müssen die Wahrheit erfahren.«

Sie sah Robert eindringlich an, als könnte sie ihn dadurch von seinem nächsten Schritt abhalten, doch er bemerkte es nicht. Und genauso wenig bemerkte er das kleine, resignierte, traurige Lächeln, mit dem sie sein Verhalten Ruby und Cheryl gegenüber bedachte. Das fremde Mädchen versuchte, zu Cheryl durchzudringen, doch Louisa erkannte, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. »Warte nur noch einen Moment, Rob. Ich bin sofort zurück.«

Endlich schaute Robert auf und zeigte mit einem leichten Nicken, dass er verstanden hatte. Jetzt ist es so weit, dachte er. Das ist die Bestätigung dessen, was ich schon längst weiß.

Cheryl saß kerzengerade und hatte die Beine unter sich gezogen. Hin und wieder rührte sich das Baby auf ihrem Schoß ein wenig, doch die meiste Zeit kaute es ruhig an seinem Fäustchen, während Cheryl weiter ihren Klagegesang wimmerte. Als eine frische Brise durch die geöffnete Tür in das stickige Wohnzimmer wehte, hatte Robert geradezu das Gefühl, wiederbelebt zu werden – Cheryls Gegenwart hatte seinen Geist in der kurzen Zeit schon so benebelt, als hätte er Kohlenmonoxid eingeatmet. Die Verzweiflung dieser Frau war förmlich mit Händen zu greifen. Er bedauerte, ihren Kummer nicht einfach zusammenknüllen und weit fortschleudern zu können.

»Hallo, James …«

Louisa Worte wurden von einem vorüberrumpelnden Lastwagen und danach vom erneuten Jammern des Babys übertönt. Sosehr sich Robert auch anstrengte, er bekam nur einzelne Wortfetzen mit. Wieder einmal stand ihm die Szene vor Augen, wie Erin Cheryls Baby an sich genommen und mit ihm geflohen war.

Meine Frau, die Entführerin, dachte er, doch zugleich nahm er in seiner Fantasie ihre zierliche Gestalt in die Arme. Er wünschte sich so sehr, dass sie wieder da wäre! Dafür hätte er alles gegeben. Doch plötzlich löste sich Erins Bild in Luft auf.

»Wiederhol das noch mal … Ich kann dich nicht verstehen. Der Empfang ist so schlecht!«

Das Gartentor schlug quietschend zu. Durch das Fenster sah Robert, wie Louisa auf der Straße hin und her lief, ärgerlich, weil sie James nicht richtig verstand. Vergeblich versuchte Robert, von ihren Lippen zu lesen.

Was wäre, wenn er sich geirrt hätte? Er wusste sehr wohl, dass jeder einigermaßen tüchtige Anwalt eine Anklage gegen die junge Ruth Wystrach vor Gericht zerpflücken konnte. Nur weil die Polizei vor dreizehn Jahren einen Verdacht gehabt hatte und er selbst regelmäßig unter Anfällen von krankhaftem Misstrauen litt, bewies das noch lange nicht, dass Erin eine Kidnapperin war. Genauso wenig gab es Beweise dafür, dass sie jemals als Prostituierte gearbeitet hatte. Vielleicht hatte Baxter King ja gelogen. Robert war bewusst, dass er sich letzten Endes nur auf seinen Instinkt verließ. Das Dumme war nur, dass dieser ihn noch nie getrogen hatte.

Erneut schaute er zu Louisa hinaus und versuchte, etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen, während Ruby ihn mit Fragen bestürmte. Er war sich ganz sicher, dass der DNS-Test nur bestätigen würde, was er ohnehin schon wusste. Robert berührte Cheryls Hand und dann auch Rubys. Mach, dass sie die Verbindung spüren, flehte er im Stillen.

Louisa kam wieder ins Haus. Sie zog das Band aus ihrem Pferdeschwanz und ihr Haar fiel lose auf ihre Schultern.

Robert sah sie an. Sein Gesicht war kreidebleich. Ungeduldig zupfte Ruby an seiner Hand.

»Dad, lass uns doch endlich gehen.«

Das Baby schrie, und Cheryl stammelte ein neues Schlaflied.

Robert war hin- und hergerissen. Er fühlte sich wie im Auge des Orkans – wohin er auch blickte, toste der Sturm. Dann sah er, wie Louisa am anderen Ende des Raumes mit undurchdringlicher Miene den Kopf schüttelte.

»Dad, ich will hier weg!« Ruby versuchte, Robert wegzuzerren.

Stumm vor Entsetzen fügte Robert langsam Cheryls kalte Finger und Rubys widerstrebende Hand zusammen.

Louisa ließ ihn gewähren.