12
I
m Krankenhaus machten sie eine Röntgenaufnahme von meinem Schädel, weil ich doch gestürzt war, untersuchten mich auf Gehirnerschütterung und wickelten mir einen Verband um den Kopf. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden war ich ganz benommen von den Beruhigungsmitteln, und als die Polizisten mich befragten, redete ich nur wirres Zeug.
In jenen ersten Stunden – die ganz besonders wichtig für die Ermittlungen sind, wie sie behaupteten – konnte ich einfach nicht klar denken. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Und dabei wurde der Vorsprung, den der Entführer meines Babys hatte, immer größer. Dann teilten sie mir mit, dass Andy, mein Mann, zu Hause bei seinen Eltern Sheila und Don wäre. Ich weiß noch, wie sehr ich mich im Krankenhaus nach ihm gesehnt und mich gefragt habe, warum er mich nicht besuchen kam. Ich weiß noch, dass ich jedes Mal brechen musste, wenn ich nur einen Schluck Wasser trank. Aber ansonsten ist dieser ganze erste Tag nichts als eine vage Erinnerung.
Am folgenden Abend – dreißig Stunden ohne Natasha – brachten mich zwei Beamte, Police Constable Miranda Hobbs und Detective Inspector George Lumley, im Polizeiwagen nach Hause. Sie war nett, aber er bedachte mich mit einem Blick, als wäre ich die schlechteste Mutter der Welt. PC Hobbs machte mir Tee, während Lumley mein Telefon präparierte. Ich saß da und schaute auf seinen breiten, vertrauenerweckenden Rücken und auf den leeren Baby-Schaukelsitz.
PC Hobbs blieb bei mir, bis ihre Schicht zu Ende war, weil Andy nicht kam und sie mich nicht allein lassen wollte. Die Polizistin rief in regelmäßigen Abständen bei Sheila an, bekam aber nur zu hören, dass Andy verschwunden wäre.
Verschwunden. Immer wieder sagte ich das Wort vor mich hin, so lange, bis PC Miranda mir ein Trockentuch vor den Mund band, damit ich aufhörte. Wie können bloß so viele Leute verschwinden? Aber Andy war am nächsten Morgen wieder da. Verdreckt und betrunken stand er schluchzend im Hausflur, dann ließ er sich zu Boden sinken. Gemeinsam lagen wir beide auf dem Teppich und weinten, während neue Polizisten um uns herumstanden und jedes Mal einen Satz zum Telefon machten, wenn es klingelte. Als Andy und ich uns auf dem Fußboden in den Armen lagen, entdeckte ich über seine Schulter hinweg Natashas Haarbürste. Schon bei der Geburt hatte sie eine Menge Haare gehabt, und immer wenn ich mit der weichen Babybürste über ihren Kopf fuhr, gluckste sie vor Behagen. Ich kroch über den Boden und hob die Bürste auf.
»Nicht, Schatz, lass doch«, sagte Andy.
Als ich an den Borsten schnupperte, war mir, als könnte ich einen Hauch von Natashas Duft riechen. Ich zupfte ein paar weiche braune Härchen heraus. Die bewahre ich immer noch in einem Briefumschlag auf. Sonst ist mir nichts von meinem Baby geblieben.
Als Nächstes kamen Sheila und Don – ein paar Stunden, bevor die Reporter die ganze Straße belagerten. Sheila hatte einen mit Alufolie abgedeckten Topf dabei. Don drückte mich ganz fest und Sheila starrte mich an und streichelte Andys Schulter. Du hast Glück, dachte ich. Du hast dein Baby noch.
Sheila hatte mich nie gemocht. Sie hatte mich nur Andy zuliebe akzeptiert. Nicht, dass Andy etwas Besonderes gewesen wäre, er war bloß ein Automechaniker. Aber Sheila war ganz vernarrt in ihren Sohn. Nichts war ihr gut genug für ihn, vor allem ich nicht. Und jetzt hatte sie recht behalten, denn ich hatte ihr einziges Enkelkind verloren.
Sheila übernahm das Kommando. Sie schickte die Polizistin, die auf mich aufpassen sollte, in den Lebensmittelladen, hundert Teebeutel, zwei Pfund Zucker und drei Liter Milch holen. »In den nächsten Tagen werden wir eine Menge Tee kochen müssen. Da sollten wir vorbereitet sein«, sagte sie.
Innerhalb weniger Minuten hatte Sheila alle Spuren von Natasha aus dem Wohnzimmer unseres Reihenhäuschens entfernt. Ich sah zu, wie sie Kuscheltiere, leuchtend buntes Plastikspielzeug und Stoffbilderbücher in einen Müllsack stopfte. Das meiste Spielzeug war noch nagelneu. Schließlich war Natasha erst zwei Monate alt und konnte noch gar nichts festhalten. Sheila baute die Babyschaukel, die Andy gekauft hatte, auseinander. Ich hatte ein paar Mobiles über die Wickelkommode gehängt, und auch mit denen machte Sheila kurzen Prozess.
Bald gab es im Zimmer keine Spur mehr von einem Baby. Natashas Spielzeugkiste wanderte auf den Dachboden, und Sheila stellte die Stühle am Esstisch anders hin. Dann packte sie unseren künstlichen Weihnachtsbaum und die Glitzergirlande ein, die ich aufgehängt hatte, als Natasha einmal ausnahmsweise zu brüllen aufgehört und längere Zeit geschlafen hatte. Sheila stellte die Weihnachtssachen für die Müllabfuhr nach draußen. »Schluss mit Weihnachten!«, verkündete sie und wischte sich den Staub von den Händen.
Mitten in der Nacht weckte ein Telefonanruf Andy und mich aus unserem unruhigen Schlaf. Es war zwei Uhr, achtunddreißig Stunden ohne Natasha. Man teilte uns mit, dass ein Lastwagenfahrer mit einem weinenden Säugling an einer Autobahntankstelle gesehen worden war. Ein älteres Ehepaar, das nach seinem Weihnachtsurlaub in Schottland auf dem Heimweg war, hatte beobachtet, wie der Mann mit dem schreienden Kind in der Herrentoilette verschwand. Sie wunderten sich darüber, meldeten es aber erst der Polizei, als sie in die Midlands kamen und im Lokalradio von der Entführung hörten. Danach passierte nichts mehr. Der Mann wurde nie gefunden.
Der Gedanke, dass Natasha geschrien hatte, setzte mir sehr zu. Sie hatte nach mir geschrien, so wie sie es immer tat. Immerzu schrie und heulte und wimmerte sie, bis ihr Körper ganz steif und verkrampft war.
Im Krankenhaus hatte man mir Tabletten gegeben, die meine Milch zum Versiegen bringen sollten. Sie wirkten nicht. Meine Brüste waren schwer und hart und taten schon weh, wenn ich die Arme nur hängen ließ. Einmal, als PC Miranda wieder Dienst hatte und vor der Badezimmertür wartete, beugte ich mich über das Waschbecken und ließ es einfach tropfen. Wie schade um die ganze Milch, dachte ich. Der Geruch brachte mich zum Weinen, und so mischten sich Tränen und Milch im Waschbecken, als würde sich mein ganzer Körper vor Kummer verflüssigen.
PC Miranda musste dann Hilfe holen, weil ich weggesackt war und sie die Tür nicht aufbekam. Mit vereinten Kräften drückten Miranda, Don und Andy gegen die Tür und schoben meinen schlaffen Körper über den Badezimmerteppich. Als Andy mir beim Aufstehen half, fing ich hysterisch an zu lachen. Ich hatte kein Oberteil an.
Ein paar Stunden später kam wieder eine Meldung. Die Polizei von Hertfordshire hatte zwei Anrufe von Autofahrern bekommen. Ihnen war am Zubringer zur M1 in Richtung Süden ein Anhalter aufgefallen, der ein Baby dabeihatte. Die Gestalt war gegen die Kälte so dick eingemummelt gewesen, dass man nicht sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. PC Miranda hielt meine Hand, während sie mir berichtete, dass die verdächtige Person nicht mehr da war, als die Polizei eintraf. Es tröstete mich ein wenig, dass sie mir aufmunternd zulächelte und mir erzählte, dass jetzt die umliegenden Felder und Dörfer abgesucht würden und dass man dabei auch Suchhunde einsetze. Die Polizei der angrenzenden Kreise war ebenfalls in Alarmbereitschaft versetzt worden. Es werde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis wir etwas Neues hörten, sagte PC Miranda und schluckte mit abgewandtem Blick.
»Haben Sie Kinder?«, fragte ich. Vielleicht hatte sie ja zwei und konnte eines davon entbehren. Sie nickte.
»Er ist vier. Seine Großmutter passt auf ihn auf, wenn ich arbeiten muss.«
Ich bin froh, dass PC Miranda mir von ihrem Kind erzählt hat. Es brachte ein Stückchen Normalität in mein unwirkliches Leben, so wie eine klebrig-süße Medizin. Ich weiß nicht, wie ich diese ersten Tage ohne PC Miranda durchgestanden hätte. Jetzt sehe ich sie nicht mehr.
Am Dienstagmorgen – drei Tage ohne Natasha – kam Detective Inspector George Lumley und sagte, wir sollten im Fernsehen sprechen. Sein Gesicht war ganz braun und runzelig, und er roch nach Zigarettenrauch. Später erfuhr ich, dass er erst vierzig war, aber er wirkte viel älter. Aufgrund der bisherigen Ermittlungen, sagte er, sei die Polizei der Auffassung, dass Natashas Entführung keine geplante Tat, sondern eine Affekthandlung gewesen sei. Höchstwahrscheinlich werde der Täter das schreiende Baby bald sattbekommen.
Eine Reihe von Fällen, teilte er Andy und mir mit, als wir klein und elend auf dem Sofa saßen, während er so groß und selbstsicher vor uns stand, eine Reihe von Fällen habe ein gutes Ende genommen, nachdem sich die Eltern an die Öffentlichkeit gewandt hatten. Erst ein Jahr zuvor sei ein Kleinkind, das aus einem Kindergarten entführt worden war, zwei Tage nach dem rührenden Appell der Mutter in einem McDonald’s-Restaurant gefunden worden, wo es glücklich und zufrieden in der Ecke mit den bunten Bällen spielte. Ich musste denken, dass Natasha erstickt oder erwürgt in irgendeinem Winkel lag, wo man sie nie finden würde.
»Wären Sie also bereit zu einer Pressekonferenz?«
Andy sagte, wir wären einverstanden.
Heute kommt eine neue Klientin. Am Telefon sagte sie, ihr Name sei Sarah, aber ihren Nachnamen oder die Telefonnummer wollte sie mir nicht nennen. Sie klang sehr jung und schüchtern. Ich habe eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich kommt, aber als ich gerade den Tee aufbrühe – ich biete meinen Klienten immer Tee und einen Keks an –, klopft es an der Tür. Ich ziehe mir das Gummiband aus dem langen Haar, streiche mit den Zeigefingern über die Haut unter den Augen und stopfe mir die Bluse in den Hosenbund. Als ich die Tür öffne, steht da ein asiatisches Mädchen, wohl nicht viel älter als fünfzehn.
»Sarah?«
Sie nickt und wirft einen prüfenden Blick die Straße hinauf und hinunter, bevor sie eintritt. Dabei schluckt sie andauernd, als müsste sie gegen Übelkeit ankämpfen. Ich biete ihr lächelnd einen Platz an. Ich bediene meine Kundschaft immer im Wohnzimmer. Dabei sitzt der Kunde im Sessel, ich auf dem Sofa, und das Teetablett steht tröstlich wie eine Brücke zwischen uns.
Beim ersten Mal sind sie immer nervös, bis sie merken, dass es nicht wehtut und dass ich mit meinen Voraussagen meistens richtig liege. Aber ich überlege mir sehr genau, was ich ihnen erzähle. Schließlich trage ich eine große Verantwortung, und wenn ich zu viel sage, könnte sogar die kosmische Ordnung irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten.
»Also, wie heißt du wirklich?«, frage ich und füge hinzu: »Tee?« Zwei Fragen auf einmal scheinen das Mädchen zu überfordern; es schweigt. Ich gieße ihr trotzdem eine Tasse ein. Erst nachdem ich selbst ein paar Schluck Tee und einen halben Verdauungsschnaps getrunken habe, sagt sie: »Wenn Sie wirklich so gut wären, wüssten Sie es doch.«
Ihre kugelrunden zimtbraunen Augen sind glanzlos. Sie hat Sorgen. Das hat sie mir schon am Telefon verraten und außerdem gilt es für die meisten meiner Klienten. »Du vergeudest deine Sitzung, wenn du mich raten lässt.«
»Nennen Sie mich einfach Sarah.« Sarah senkt den Kopf und faltet die Hände im Schoß. Auf ihren Handrücken sind Spuren von hübschen Henna-Tattoos. Sie trägt kirschroten Nagellack.
»Was möchtest du also wissen, Sarah?« Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich benutzen soll. Tarot? Die Kristallkugel? Was passt zu ihr? Vielleicht nehme ich ja die Runen oder werfe mal einen Blick auf ihre Handlinien.
Bewegungslos sitzt sie da und starrt auf ihre Hände. Ihr langes dunkles Haar fällt ihr ins Gesicht. Nach ungefähr vier oder fünf Minuten hebt sie mühsam den Kopf, als zöge ein Gewicht ihn nach unten, und schaut mich mit ihren riesigen Augen an.
»Ich bin schwanger und möchte wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, weil, wenn es ein Junge wird, bringt mich mein Vater vielleicht nicht um.« Sie ist vom Reden ganz außer Atem und holt tief Luft. »Dann wird er mich hassen, aber nicht umbringen.«
Das Thema ist kein Problem für mich. Ich habe mich daran gewöhnt, über Babys zu sprechen. Immerhin ist es dreizehn Jahre her. Das Leben geht weiter. Seither sind schon viele Frauen schwanger geworden und außer meinem sind noch andere Babys gestorben. Ich bin schon lange nicht mehr das Tagesgespräch.
»Dann wird es ein Junge«, sage ich. Ich atme ebenfalls tief durch, denn diesmal muss ich Therapeutin und nicht Medium spielen. Das ist etwas Neues für mich. Verflixte Sarah. »Weiß deine Mutter Bescheid?«
Erneut lässt Sarah den Kopf hängen. »Sie ist tot.«
»Dann wollen wir sie doch mal fragen, was sie von der ganzen Sache hält.«
»Nein, nein!« Sarah rutscht vom Sessel, fällt auf die Knie und bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen. »Diese Schande, diese Schande!«, jammert sie immer wieder.
»Aber wenn sie doch tot ist …« Dann ist es doch egal, will ich gerade sagen. Aber für Sarah ist es natürlich nicht egal. Ihre Mutter ist tot, und sie ist schwanger.
»Wie alt bist du?«
»Fünfzehn.«
Zwei Jahre älter als Natasha.
»Wann ist deine Mutter gestorben?«
»Bei meiner Geburt.« Sarah wischt sich mit dem Ärmel die Tränen ab und setzt sich wieder hin. »Warum fragen Sie mich das alles? Das müssten Sie doch wissen. Oder sind Sie etwa eine Schwindlerin?«
»Ich weiß nur, was sich mir zeigt, Sarah.« Jetzt lasse ich mich vor ihr auf die Knie sinken, nehme ihre linke Hand und drehe sie mit der Innenseite nach oben. Sie hat sechs Kinderlinien, drei davon ausgezackt und unterbrochen. Ich fasse mir ein Herz und lege eine Hand auf ihren Bauch. Ich spüre, dass sie wahrscheinlich schon im sechsten Monat ist. Bei ihrem schlanken, jungen Körper ist die Schwellung nicht sehr stark ausgeprägt und lässt sich leicht unter weiten Sommersachen verstecken.
»Es ist ganz bestimmt ein Junge.« Angesichts der Erleichterung auf Sarahs Gesicht muss ich mich abwenden.
»Wirklich?« Sie hält sich mit beiden Händen den Bauch und lächelt. »Wenn ich Vater sage, dass ich das Baby nach ihm nennen will, wird er mir vielleicht irgendwann verzeihen. Aber ich werde nicht Farhad heiraten können, so wie Vater es geplant hat. Jetzt will mich bestimmt kein Junge mehr haben.«
Ich hole meine Tarotkarten, mische sie und halte sie Sarah hin. »Heb ab.« Wenn diese Therapiesitzung doch bloß schon zu Ende wäre! Als sie abgehoben hat, lege ich fünf Karten in Kreuzform neben dem Teetablett aus. Der Tod, der Narr, der Prinz der Kelche, die drei Schwerter und die Kraft. Auch ohne die Karten kommt mir plötzlich die Erleuchtung.
»Du liebst ihn, stimmt’s?«
Sarah nickt mit niedergeschlagenen Augen.
»Aber er ist weiß, und dein Vater erlaubt dir nicht, dich mit einem Jungen zu treffen, außer dem, den er dir als Ehemann ausgesucht hat.«
Wieder nickt sie. Ich ärgere mich über mich selbst, weil es so einfach ist. Das hier ist keine Wahrsagerei, es ist einfach so, als wäre ich ihre Mutter. Ich biete ihr einen Keks an.
»Was bedeuten die Karten? Der Tod da macht mir Angst.« Sarah zeigt auf die Karte und lässt dabei Krümel auf den Narren fallen.
»Vor der Karte mit dem Tod braucht man keine Angst zu haben. Er bedeutet auch einen Neuanfang, musst du wissen. Oder das Ende von allem, was bisher dein Leben ausmachte.«
Die Pressekonferenz sollte am folgenden Tag in einem Hotel im Zentrum von Northampton stattfinden. Ich war verblüfft, wie schnell alles ging. Innerhalb weniger Stunden nach der Ankündigung fielen Reporter und Fernsehteams aus dem ganzen Land in unsere Stadt ein. Ich brauchte die nächsten vierundzwanzig Stunden, nur um mich zu waschen und anzuziehen. Mein Körper fühlte sich an wie ein nasser Sandsack, und ich schleppte mich nur mit Mühe durchs Haus. Ich konnte gar nicht glauben, dass alle diese Leute nur meinetwegen gekommen waren.
Sie brachten Andy und mich in einem Polizeiwagen ins Marriott-Hotel und führten uns in einen gesonderten Raum. Ich hörte, wie die Pressevertreter draußen ihre Ausrüstung aufbauten. Sie suchten sich einen Platz, an dem mein Flehen und Weinen besonders gut wirkte.
Ich wünschte, ich hätte nicht gerade das hellblaue Kostüm angezogen, das ich mir für Natashas Taufe gekauft hatte. Auf der rechten Schulter hatte Natasha einen kleinen milchigen Sabberfleck hinterlassen. Ich presste die Wange darauf. DI Lumley drückte mir ein Blatt Papier in die Hand.
»Ihre Erklärung für die Presse, Mrs Varney. Lesen Sie sie bitte laut und deutlich vor. Dieser Mistkerl soll genau hören, was Sie zu sagen haben.« Wieder dieser Blick, als steckte ich mit dem Täter unter einer Decke. Hilfesuchend schaute ich mich nach Andy um. Er las über meine Schulter gebeugt die Erklärung mit und nickte zustimmend.
»Das habe ich nicht geschrieben«, sagte ich.
»Ich weiß, aber wir müssen genau aufpassen, was wir sagen. Wir wollen nicht, dass die Täter wissen, was wir wissen. Und vor allem sollen sie nicht merken, dass wir eigentlich gar nichts wissen.«
Ich war ganz durcheinander. Irgendwo, tief in mir drin, flackerte ein Funke auf. Heute weiß ich, dass es Zorn war. Ich wollte, dass Andy protestierte und sagte, wir würden das nicht vorlesen. Aber seine Miene verriet, dass er mit der vorbereiteten Ansprache einverstanden war. Schon als ich die ersten Zeilen überflog, wusste ich, dass es nicht das war, was ich den Leuten sagen wollte. Es klang einfach nicht überzeugend, und darauf kam es doch vor allem an. Alles hing jetzt von mir ab. Ich musste die Herzen der Zuschauer gewinnen und die Leute auf meine Seite ziehen.
»Es ist immer am besten, wenn die Mutter es macht, Mr Varney.« DI Lumley legte eine Hand aufs Herz und spitzte vielsagend die Lippen. Vielleicht hatte er ja wirklich Mitleid mit uns und konnte es nur nicht richtig zeigen.
Eine Kellnerin vom Hotel kam mit einem Servierwagen herein und brachte uns Tee. Ich wollte keinen, aber man riet mir, eine Tasse zu trinken, um meine Nerven zu beruhigen. Ich hätte gerne PC Miranda bei mir gehabt, aber sie sagten, sie habe frei. Klappernd stellte ich die Tasse wieder auf die Untertasse. Wir warteten, dass es zwei Uhr wurde.
Es waren jetzt vier Tage und dreieinhalb Stunden ohne Natasha. Was würde in einer Woche sein, in einem Monat, einem Jahr? Wie würde ich mich an ihrem Geburtstag fühlen oder an Weihnachten oder in dem Jahr, wenn sie zur Schule gekommen wäre?
»Ich will mein Baby wiederhaben … bitte!«, schrie ich und ließ den Kopf auf die Knie sinken. DI fand, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, um mich hinaus vor die Kameras zu führen. Ich machte genau den richtigen Eindruck, erregt und aufgewühlt. Auf einmal stand ich auf dem Podium. Ich zitterte, schwitzte und hyperventilierte angesichts der rund fünfzig Zeitungs- und Fernsehjournalisten, die schweigend darauf warteten, dass ich mich an den Entführer wandte.
Und dann, als ich mich an den Tisch setzte, zum Mikrofon vorbeugte und zum Sprechen ansetzte, flammten zahllose Blitzlichter auf. Ich knüllte das Papier zusammen, das DI Lumley mir gegeben hatte, und ließ es auf den Boden fallen. Mit meinen eigenen Worten wandte ich mich an die Menschen im ganzen Land.
»Vor dem Tod braucht man wirklich keine Angst zu haben. Aber schauen wir uns mal das hier an. Der Narr zeigt, wo du im Augenblick in deinem Leben stehst. Und siehst du, er liegt verkehrt herum.« Ich beobachte Sarahs Reaktionen. Jedes noch so kleine Zucken, jede winzige Bewegung ihres Kopfes oder ihrer Hände kann mir einen Hinweis geben. Mit großen Augen rutscht sie bis zur Kante ihres Sessels.
»Das bedeutet, du steckst in der Klemme.« Wie erwartet, reagiert Sarah sofort darauf. Ich bin auf der richtigen Spur.
»Das kann man wohl sagen!« Wie jemand, der seinen Mantel ablegt, verliert ihr Gesicht den argwöhnischen Ausdruck und sie trinkt zum ersten Mal einen Schluck Tee. Offensichtlich fasst sie langsam Vertrauen zu mir.
»Ich sehe eine Menge Sorgen, Sarah. Du bist erst fünfzehn und schon in schrecklichen Schwierigkeiten.« Wie ich mich selbst dafür hasse! Ich beschäftige mich wieder mit den Karten, weil ich den staunenden Blick aus ihren Zimtaugen nicht ertragen kann.
»Wann wird das Kind zur Welt kommen?« Um diese Frage zu beantworten, muss man nur ein bisschen rechnen. Ich starre weiter auf die Karten und wünschte, sie wäre zu ihrem Hausarzt gegangen.
»Ich sehe, dass du viel durchgemacht hast.« Das hat sie mir ja schon verraten. »Viel Kummer und Schmerz. Du hattest wirklich ein trauriges Leben, Sarah.« Damit fische ich ein bisschen im Trüben, weil ich nicht so recht weiterweiß, aber sie beißt sofort an.
»Seit ich auf der Welt bin! Sagen Sie mir, wann hat das endlich ein Ende? Werde ich jemals glücklich sein?«
»Aber sicher«, antworte ich und überlege dabei, ob das wohl stimmt. »Dein Baby wird dir viel Freude bereiten, und wenn dein Vater erst einmal sieht, was für ein schönes Kind du der Familie geschenkt hast, wird sein Zorn verrauchen.« Noch nie zuvor habe ich einem Kind die Zukunft vorhergesagt, einem Menschen, vor dem noch so viel unbeschriebene Lebenszeit lag. »Und außerdem ist die Kraft auf deiner Seite. Das zeigen die Karten ganz eindeutig.«
»Tatsächlich?« Sie trinkt noch etwas Tee.
In den folgenden vierzig Minuten spreche ich viel von Sarahs guten Eigenschaften und gebe ihr Ratschläge, was sie ihrem Vater und ihrem Freund sagen und wie sie während der Geburt atmen soll. Und das alles, ohne einmal auf die Karten zu schauen. Es ist ein Gespräch zwischen einer Frau und einem jungen Mädchen. Zwischen Mutter und Tochter. Am liebsten hätte ich sie gebeten, mir das Baby nach der Geburt zu überlassen. Ich kann mich gerade noch beherrschen.
Nachdem ich die Bevölkerung von Großbritannien angefleht hatte, die Augen offen zu halten und mir bei der Suche nach meinem Baby zu helfen, erzählte ich von meiner Dummheit und Nachlässigkeit und warnte alle Mütter davor, ihre Kinder auch nur eine einzige Sekunde lang unbeaufsichtigt im Auto zu lassen. Dann lieferte ich eine eingehende Beschreibung von Natasha bis hin zu ihren winzigen Fingernägeln und der kleinen hellrosa Zunge. Und schließlich, als das alles gesagt war, wandte ich mich unmittelbar an den Entführer meiner Tochter. Jetzt gab es nur noch ihn und mich – mit Hilfe der Kameras standen wir uns sozusagen Auge in Auge gegenüber. Es führte kein Weg daran vorbei.
DI Lumley fasste mich am Ellbogen und öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen. Doch dann überlegte er es sich anders. Er trat einen Schritt zurück, blieb ganz still neben mir stehen und ließ mir freie Hand, obwohl ich seinen Entwurf weggeworfen hatte. Da wusste ich, dass er doch ein Herz besaß. Ich starrte in die BBC-Kameras und holte tief Luft.
»Als Sie meinem Baby zum ersten Mal begegnet sind – ihr Name ist übrigens Natasha Jane Varney –, hat ihr Schlafanzug vielleicht noch ein wenig nach mir gerochen, nach meinem Parfum oder meinem Shampoo oder nach dem Waschpulver, das ich immer benutze. Was mir nicht aus dem Kopf geht, ist, dass sie jetzt nach Ihnen riecht. Wenn ich mein Baby zurückbekomme, wird sie Ihren Geruch an sich tragen. Was mir auch noch Sorgen macht, ist, dass eines von Natashas Füßchen kalt werden könnte, weil ich doch einen ihrer Schuhe gefunden habe. Und außerdem habe ich Angst, dass Sie sie nach dem Essen kein Bäuerchen machen lassen.« Ich weiß wirklich nicht, wie ich es fertigbrachte, an dieser Stelle ein wenig zu lachen. »Das heißt, falls Sie ihr überhaupt etwas zu essen geben. Auf jeden Fall sollen Sie wissen, dass sie sechsmal in vierundzwanzig Stunden gefüttert werden muss. Aber weil ich sie immer gestillt habe, wird es vielleicht schwierig werden, sie an die Flasche zu gewöhnen. Sie sollen auch wissen, dass sie es mag, wenn man sie sich an die Schulter legt und ihr sachte auf den Rücken klopft. Am friedlichsten ist sie im Kinderwagen – ich nehme mal an, dass Sie sich einen anschaffen –, aber wenn es kalt ist, packen Sie sie bitte gut ein. Normalerweise wird Natasha etwa neun- bis zehnmal pro Nacht wach. Sie hat noch nie richtig durchgeschlafen. Das heißt, am Tag schon. Aber dann müssen Sie ja auch Ihren Schlaf nachholen …« Ich spürte eine Hand auf meinem Arm. »Sie könnten ja eine Sozialarbeiterin anrufen, aber die hat möglicherweise keine Zeit …«
Die Hand greift nach meinem Ellbogen und versucht, mich wieder auf den Stuhl zu ziehen, aber jetzt, da endlich alle zuhören, gibt es für mich kein Halten mehr. »Und wenn Sie wirklich fix und fertig sind, können Sie sie immer noch im Auto lassen und in den Supermarkt gehen.« Ich mache eine Pause und starre an die Decke, um die Tränen zurückzuhalten. »Dann kommt vielleicht jemand und stiehlt sie Ihnen.«
Ich habe einen Kloß im Hals. Deshalb muss ich ständig schlucken und kann nicht mehr weitersprechen. Als dann endgültig die Tränen fließen, klicken die Auslöser wie verrückt. Als Andy mir den Arm um die Taille legt, ruft einer: »So ist’s gut, stellen Sie sich dicht neben Ihre Frau, Mr Varney!« Noch mehr Geklicke und so viele Blitzlichter, dass ich ganz geblendet bin und mir blaue Fünkchen vor den Augen tanzen. Es ist, als würde ich durch den Weltraum wirbeln.
Allmählich wird es wieder still im Raum. Ich schließe die Augen und lehne mich gegen Andy. Fragen prasseln auf mich ein, aber ich kann nicht antworten. Noch immer tanzen die blauen Fünkchen um mich herum – ob Natasha auch so ein Funkeln gesehen hat, wenn sie auf das Glasmobile über ihrem Bettchen schaute?
Jetzt rase ich auf das Zentrum des Sternenwirbels zu. Hier gibt es keinen Schmerz mehr, nur schwarze Leere. Und mitten im Nichts sehe ich auf einmal Natasha. Sie trägt ihre hübschen Babysachen, gurgelt fröhlich und weint kein bisschen. Sie wartet auf mich. Ich strecke die Arme nach meinem Baby aus und bitte es, mir zu verzeihen.
Eigentlich wäre es für Sarah Zeit zu gehen, aber sie hat offenbar keine Lust dazu. Da nutzt es auch nichts, dass ich auf die Uhr schaue und die leeren Tassen aufs Tablett stelle. Ich sollte ihr einfach sagen, dass die Sitzung zu Ende ist und ich fünfundzwanzig Pfund von ihr bekomme, aber das bringe ich nicht übers Herz. Und außerdem hat sie ein Baby in ihrem Bauch. Eines, das vielleicht niemand haben will.
»Heute kommen keine Klienten mehr. Du kannst also hierbleiben und mir Gesellschaft leisten, wenn du willst.« Kann sein, dass ich mich schäme, weil ich ihre Zukunft nicht wirklich voraussagen konnte. Vielleicht ist mir auch einfach nach ein bisschen Reden. Auf jeden Fall wundere ich mich, dass Sarah mir mein schlechtes Gewissen nicht ansieht. Aber sie nimmt mein Angebot ohne Zögern an.
»Gut. Aber nur eine Stunde oder so, weil mein Vater und meine Brüder um sechs ihr Essen bekommen und ich noch nichts gekocht habe.«
Etwas in ihrem Ton verrät mir, dass sie sich in ihr Schicksal gefügt hat. Auch sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie durch ihre Geburt ihre Mutter getötet hat und weil sie ein Kind erwartet, wo sie doch selbst noch eines ist.
»Was ist mit deinen Schulaufgaben?« Ich nehme das Tablett und bitte sie, mit in die Küche zu kommen. In einer Küche lässt es sich immer gut reden. Vielleicht sollte ich ja mit allen meinen Klienten in die Küche gehen. Ich stelle das Geschirr ins Spülbecken und ziehe mir die Gummihandschuhe an. Sarah sitzt am Tisch. Sie wirkt jetzt viel gelöster.
»Mit dem Lernen habe ich mir nie viel Mühe gegeben. Seit ich klein war, hat mein Vater immer wieder gesagt, wie glücklich ich sein werde, wenn ich erst mal verheiratet bin, und wie gut ich dann im Leben dastehen würde.« Sarah verzieht das Gesicht. »Aber jetzt, wo ich bald eine alleinerziehende Mutter bin, ist die Schule auf einmal wichtig. Ich brauche doch einen Job!«
Sie legt sich die Hände auf den Bauch und für einen Augenblick kommen ihre nervösen Finger zur Ruhe. Als ich sehe, wie sich ihre Strickjacke über der Schwellung spannt, bekomme ich unwiderstehliche Lust, noch einmal ihren festen, straffen Bauch anzufassen und vielleicht den Stoß eines kleinen Ellbogens oder Fußes zu spüren. »Ich glaube aber kaum, dass mir jemand im Augenblick einen Job geben würde. Oder mich heiraten. Was soll ich bloß machen?« Dann legt sie den Kopf auf die Tischplatte. Hinter dem Vorhang aus langen dunklen Haaren, der ihr Gesicht verbirgt, weint Sarah zwei Stunden lang.
Als sie aufhört, wasche ich ihr das Gesicht mit Lavendelwasser, koche ihr noch eine Tasse Tee und schicke sie dann nach Hause. Es geht ihr schon viel besser. Sie bringt sogar ein kleines Lachen zustande, als ich mich zum Abschied bücke und ihr einen kleinen Kuss auf den Bauch gebe.