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obert zerrte die fluchende und keifende Ruby aus dem Haus und drückte sie auf die Rückbank des Mercedes.
»Die Wildkatzenmasche kannst du dir sparen, Ruby.« Er verdrehte den Rückspiegel so, dass er ihren giftigen Blick nicht zu sehen brauchte. Dabei stellte er sich vor, wie er ihre wütenden Proteste – »Ich hasse dich! Du hast mein Leben kaputt gemacht!« – einfach mit einem imaginären Squashschläger abschmetterte. Sie war dreizehn, da war das eben normal.
»Bring mich gefälligst wieder zurück!« Ruby drückte Robert durch den Sitz hindurch ihr Knie in den Rücken. »Ich darf auf Partys gehen. Weißt du überhaupt, wie gründlich du mich blamiert hast?« Doch eine Bemerkung traf Robert ganz besonders: »Du bist ja gar nicht mein richtiger Vater und hast mir nichts zu befehlen.«
»Wohin fahren wir, Rob?«, fragte Louisa, als sie bemerkte, dass sie nicht auf dem Weg zu Roberts Haus waren.
»Ich bringe Ruby zu ihrer Mutter. Es wird Zeit, dass sich die beiden kennenlernen.« Robert umfasste das Lenkrad fester und starrte geradeaus. Ihm lag eine Bemerkung über den Bowman-Fall auf der Zunge und darüber, dass Kinder zu ihren richtigen Eltern gehörten, aber er besann sich eines Besseren. Außerdem war er Louisa keine Erklärungen schuldig, solange er sie für ihre Anwesenheit bezahlte.
Nach kurzer Überlegung fuhr Robert auf die M1. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen war er auf dem Weg nach Northampton. Es kam ihm vor, als würde er Schicksal spielen. Die ganze Situation hatte etwas Unwirkliches.
Aus dem Augenwinkel warf er einen verstohlenen Blick auf Louisa. Ruhig und gelassen saß sie da, sogar in Jeans und T-Shirt noch elegant. Sie trug Ledersandalen. Ihre Zehen waren lang und gerade, die Nägel burgunderrot lackiert. Wie sehr wünschte er, Erin säße dort neben ihm! Dann wäre das Leben wieder normal. Sie wären auf dem Heimweg von einem Wochenende in Somerset und er würde sich später an ihren schlanken Rücken kuscheln, wohl wissend, dass Ruby sicher und zufrieden im Nebenzimmer schlummerte.
»Findest du nicht, wir sollten die Testergebnisse abwarten?« Louisa sprach mit gedämpfter Stimme, obwohl sich Ruby die Kopfhörer von Roberts MP3-Player in die Ohren gesteckt hatte. Ihr Kopf nickte im Takt der Musik. Robert umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er war unsanft wieder in der Wirklichkeit angelangt.
»Nein«, antwortete er. »Die Ergebnisse werden nur bestätigen, was ich ohnehin schon weiß. Außerdem kann ich nicht länger warten. Ich will wieder normal leben können. Außerdem wird die Polizei sowieso eigene DNS-Tests durchführen.«
»Die Polizei?«, fragte Louisa, erhielt jedoch keine Antwort.
Robert fuhr schweigend weiter – grübelnd und im Bemühen, Jennas Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Sie beschwor ihn, nicht noch einmal den gleichen Fehler zu machen. Er traf eine Abmachung mit ihr. Wenn sie aufhörte, in seinen Gedanken herumzuspuken, würde er das paranoide Verhalten aufgeben, mit dem er sie in den Tod getrieben hatte. Gerade als er die Abfahrt nach Northampton nahm, geschah es. Jennas Stimme sirrte und summte noch immer in seinem Schädel, doch auf einmal entdeckte Robert, dass er sie nach Belieben an- und abschalten konnte. Er drückte im Geist auf einen Knopf, und schon verstummte die Stimme.
Ruby hatte bereits vor einiger Zeit den Kopfhörer abgenommen. Erschöpft von der vergangenen Nacht, hatte sie den größten Teil der Fahrt zusammengerollt auf der Rückbank verschlafen. »Wohin fahren wir, Dad?«, fragte sie nun und strich sich mit dem Handrücken über die Wangen. Sie war aufgewacht, weil der Wagen langsamer fuhr.
»Wir fahren zu jemandem, der seit dreizehn Jahren darauf brennt, dich kennenzulernen.«
Ruby fragte nicht weiter.
Sie durchquerten die Stadt und bogen schon bald in die Straße mit den kleinen Reihenhäusern ein. Mit grellen Reflexen spiegelte sich das Licht der Abendsonne in den Windschutzscheiben und Motorhauben der parkenden Autos. Robert klappte die Sonnenblende herunter und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.
Schließlich quetschte er sich in eine enge Lücke, stellte den Motor ab und stieg aus. Da Ruby liegen blieb, öffnete er die hintere Tür, beugte sich vor und streichelte ihr über den Kopf. Sie war verschwitzt, und das schwarze Haar klebte ihr an der Stirn – es war ebenso schwarz wie das ihrer Mutter Cheryl. Mit verschlafenen Augen blickte sie auf die Straße hinaus. Offensichtlich fragte sie sich, wo sie war.
Zu Hause, dachte Robert. Ich habe dich nach Hause gebracht.
Er sah schweigend zu, wie sich Ruby langsam aufrichtete. Sie darf niemals ohne Mutter sein, dachte er. Auf keinen Fall sollte sie sich ungeliebt oder wertlos fühlen, gleichgültig, bei welcher Frau sie fortan leben würde. Die Vorstellung, dass es eine aridere Frau als Erin sein könnte, peinigte ihn. Doch ebenso quälend war der Gedanke an das, was Cheryl durchgemacht hatte.
In den vergangenen Tagen hatte er sich immer wieder Cheryls Gefühle während der letzten dreizehn Jahre ausgemalt. Ihre Schuldgefühle, den Verlust, den Selbsthass und Zorn. In Zukunft musste er darüber nachdenken, was seine Frau empfinden würde, wenn man sie verhaftete, vor Gericht stellte, verurteilte. Es war, als hätten die beiden Frauen ihr Leben getauscht.
Nicht dass man sie ins Gefängnis steckte, würde für Erin die schlimmste Strafe sein, sondern dass man ihr Ruby wegnahm. Robert konnte den Gedanken daran kaum ertragen.
Was Ruby anging, nun ja, sie würde es mit der Zeit begreifen. Wenn die Wunden erst einmal verheilt waren und sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet hatte, würde sie sich eines Tages nach ihrem wahren Geburtsdatum erkundigen und danach, wie das Wetter bei ihrer Geburt gewesen war und was ihr Vater gesagt hatte, als er sie das erste Mal im Arm hielt. Doch Cheryl würde ihr nur in Bezug auf die ersten acht Wochen ihres Lebens antworten können. Dann war sie entführt worden. Und was danach kam. wusste nur Erin.
»Hüpf raus, mein Schatz.«
Wenn sie sie einsperren, kann ich sie trotzdem sehen. Ich könnte Besuchsrecht beantragen, dachte Robert. Er erwog flüchtig, Cheryl vor Gericht zu vertreten, doch das erinnerte ihn zu sehr an den Bowman-Fall. Nur dass Erin dann an Marys Stelle stünde. Und er selbst wäre nicht besser als Jed.
»Wo sind wir?« Ruby kletterte aus dem Wagen und blickte Louisa mit gerunzelter Stirn an. »Ich will zu Mami.«
Robert seufzte. Sie konnte nicht ahnen, welche Bedeutung ihre Worte hatten. »Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.« Robert nahm Ruby bei der Hand und ging mit ihr zur Tür von Nummer 18. Cheryls Haus. Das Haus, in dem Ruby früher einmal gewohnt hatte. Er schloss die Augen, holte tief Luft und klopfte an.
Mit quietschenden Reifen raste ein alter Fort Escort vorbei. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und laute Musik dröhnte über die Straße. Cheryl machte nicht auf. Erneut klopfte Robert und schaute auf seine Uhr. Er war fast halb neun, doch noch immer hell und warm.
»Der ›Hirschkopf‹«, flüsterte er, als nach ein paar Minuten noch immer niemand an die Tür gekommen war.
Das war zwar nur eine vage Möglichkeit, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Er hatte gar nicht in Betracht gezogen, dass Cheryl nicht zu Hause sein könnte.
Er parkte vor dem Pub im absoluten Halteverbot, ließ Louisa und Ruby im Wagen warten und ging hinein.
»Ist Cheryl Varney heute Abend hier?« Weil heute nur wenige Gäste an der Theke standen, wirkte die Kellnerin ruhiger. Sie wischte gerade die Theke mit einem Tuch ab.
»Nee. Die kommt nur einmal im Monat her.« Die junge Frau griff unter die Theke und holte etwas hervor. »Aber sie hat die gestern Abend hier vergessen. Sehen Sie sie zufällig in der nächsten Zeit?« Die Kellnerin hielt eine braune Ledertasche hoch.
Robert starrte darauf, als wäre es ein Stück von Cheryl selbst. »Ja, ich sehe sie sogar noch heute Abend.« Achselzuckend reichte die junge Frau Robert die Tasche über die Theke. »Na dann tschüss«, sagte er leichthin und ging hinaus, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
An sein Auto gelehnt, öffnete Robert den Reißverschluss der Tasche und warf einen Blick auf das Leben, das Erin zerstört hatte. Solch eine Gelegenheit würde er wohl nie wieder bekommen, wenn Ruby erst einmal fort war.
Robert nahm eine kleine Geldbörse heraus und klappte sie auf. Drinnen befand sich das Foto eines Babys. Es war dasselbe Bild, das nach der Entführung in den Zeitungen erschienen war. Er legte die Börse so wieder zurück, als würde er ein kleines Kind zur Nacht betten. Die Handtasche enthielt noch ein Scheckbuch, einen Führerschein, eine Bürste, in der ein paar lange schwarze Haare hingen, und zwei Lippenstifte. Unter einem Päckchen Taschentücher entdeckte Robert einen Schlüsselbund. Der Anhänger war ein kleiner Bilderrahmen mit einem anderen Babyfoto darin.
Lächelnd steckte er sie ein – die Schlüssel zu Cheryl Varneys Haus. Sie würden einfach hineingehen und auf Cheryl warten.