15

E

s ist kalt. So kalt, dass ich mein Baby unter meinem schmutzigen Parka ganz fest an mich presse. Sein Gesicht liegt an meinem Hals, und ich spüre seine winzig kleinen Atemzüge auf der Haut. Die Kleine duftet süß nach Milch und reißt die Augen verwundert auf, vermutlich weil ich so renne. Wir sind auf der Flucht, rasen über den gefährlich eisglatten Parkplatz am Supermarkt, schlängeln uns durch die Menschen­massen auf der Hauptstraße und stürmen mit Volldampf durch die Holt’s Alley bis zu der Reihenhaussiedlung dahinter. Das sollte wohl genügen, um sie abzuschütteln. Ich gebe meinem Baby durch die kleine Wollmütze hindurch einen Kuss auf den Kopf.

»Keine Angst, mein Schätzchen. Mummy lässt nicht zu, dass sie uns kriegen.«

Ich habe keine Ahnung, wohin wir gehen sollen, aber nach dieser wilden Flucht an einem blauen, eisigen Wintermorgen bin ich so erschöpft, dass ich mich unbedingt ausruhen und mein Baby stillen muss. Wir machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Auf Bahnsteig zwei gibt es ein Café, und außerdem wäre es eine gute Idee, in einen Zug zu steigen und so weit wie möglich wegzufahren.

Vom Laufschritt falle ich in schnelles Gehen, um wieder zu Atem zu kommen. Mit dem Kind auf dem Arm kann ich unmöglich durch die ganze Stadt rennen. Die Geburt liegt erst eine Woche zurück und noch immer fühlt sich mein Körper wie ausgeleiert an. Meine Brüste sind so angeschwollen von der Milch, dass mir das Laufen schwerfällt. Aber wenn wir hier rauskommen wollen, müssen wir unbedingt weiter.

In den Illustrierten sagen sie immer, dass sich junge Mütter schonen und die Arbeit ihren Angehörigen und Freunden überlassen sollen. Und was mache ich? Ich renne durch die Gegend und errege wahrscheinlich überall Aufmerksamkeit. Aber sie kriegen mich nicht. Mein Baby gehört ganz allein mir.

Ich habe sie Ruby genannt, weil sie so rote Lippen hat. Es heißt immer, dass man die Strapazen einer Geburt schnell vergisst. Sonst würde wohl keine Frau das Ganze ein zweites Mal auf sich nehmen. Aber ich kann mich noch an jede Einzelheit erinnern. Was in meinem Kopf durcheinandergeht, sind die Tage danach.

Mutter und Vater kamen erst von der Silvesterfeier bei Onkel Gustaw und Tante Anna zurück, als die Sonne schon am Himmel stand. Ich wachte auf, vielleicht von den Sonnenstrahlen, die mir ins Gesicht schienen, oder von der fröhlichen Stimme meiner Mutter unten im Flur (Neujahr ist der einzige Tag, an dem meine Mutter fröhlich ist). Ein paar Sekunden lang dachte ich nicht an das, was in der Nacht zuvor geschehen war.

Doch dann spürte ich eine leichte Bewegung dicht neben mir und da fiel mir wieder ein, dass mein Baby nicht mehr in meinem Bauch war. Die Kleine hatte sich weiter nach unten unter die Decke verkrochen. Vielleicht wollte sie ja wieder zurück in meinen Leib oder sie suchte nach meiner Brustwarze. Instinktiv zog ich sie nach oben an meine Brust, wo sie gleich gierig zu saugen anfing. Nach ein paar Minuten hatte sie genug getrunken und schlief friedlich ein.

Jetzt sind wir am Bahnhof. Ich bin erst zweimal mit dem Zug gefahren. Einmal, als ich zehn war, fuhren wir nach London zu Vaters Cousin, der erst kurz zuvor aus einem Dorf bei Warschau gekommen war. Das zweite Mal fuhren wir in den Ferien nach Broadstairs. Wir sind aber schon zwei Tage später wieder nach Hause gekommen, weil Mutter Vater dabei ertappt hat, wie er auf dem Treppenabsatz in unserer Pension einem Zimmermädchen an die Brust fasste.

Ich gehe in das Bahnhofscafé und setze mich an einen Tisch. Dabei lege ich mir Ruby so auf den Schoß, dass sie unter meiner Jacke kaum auffällt. Ich taste in meiner Jackentasche nach dem Geld. Zwei Zwanzigpfundnoten und ein bisschen Kleingeld. Das war alles, was Mutter in ihrer Börse hatte – der Rest vom Haushaltsgeld.

Ich gehe mit Ruby unter der Jacke zum Tresen und kaufe mir eine heiße Schokolade und einen Schokoriegel. Ruby ist so brav! Sie schläft noch immer tief und fest und macht keinen Mucks, sodass die Kellnerin sie gar nicht bemerkt. Sonst würde sie sich bestimmt über die Theke beugen und ihr was in dieser albernen Babysprache vorsäuseln. Aber so knallt sie mir nur das Wechselgeld auf den Tresen und wendet sich dann der Kundin hinter mir zu. Mich beachtet sie nicht weiter.

An meinem Tisch trinke ich mit kleinen Schlucken die Schokolade und schaue mir den Fahrplan an, den jemand in einer Lache aus verschüttetem Tee liegengelassen hat. Alle halbe Stunde geht ein Zug nach London, der nächste in zwölf Minuten. Den nehme ich.

Mutter klopfte erst kurz nach Mittag an meine Tür und stellte wie gewöhnlich das Essentablett auf den Treppenabsatz. Ich hatte kaum die Kraft, mich aus meinem durchnässten Lager auf dem Fußboden herauszuarbeiten, aber vor lauter Hunger schaffte ich es doch, auf allen vieren zur Tür zu kriechen. Niemand wusste, dass ich mein Baby bekommen hatte. Heißhungrig verschlang ich das Essen und stellte das Tablett wieder vor die Tür. Dann schlief ich weiter, ich weiß nicht mehr, wie lange. Gott sei Dank war Ruby ganz still, nuckelte oder schlief auch. Wahrscheinlich hatte sie noch gar nicht richtig begriffen, dass sie auf der Welt war.

Ich stehe ganz nahe an der Bahnsteigkante. Einen Meter von Ruby und mir entfernt rauscht ein Zug mit viel Wind und Getöse durch den Bahnhof. Ich bin ganz aufgeregt, weil wir jetzt bald unterwegs sein werden. Eine undeutliche Stimme aus dem Lautsprecher sagt den Zug nach London an. Ich weiß noch nicht, was wir dort anfangen sollen, aber Hauptsache, wir sind erst einmal in Sicherheit.

In London weiß keiner, dass ich von zu Hause weggerannt bin, weil meine Eltern wollen, dass ich mein Baby zur Adoption freigebe. In London interessiert sich keiner für uns, und deswegen sind wir dort sicher.

Ich halte mein kostbares kleines Baby im Arm und bin unablässig auf der Hut. Ich weiß, dass meine Flucht jeden Augenblick zu Ende sein kann. Dann wird sich Vaters schwere Hand auf meine Schulter legen und Mutter wird schluchzend und jammernd neben ihm stehen und mich mit Vorwürfen überschütten. Dann verhaftet mich die Polizei, nimmt mir mein Baby weg und gibt es einer anderen Frau. Und meine Eltern wären froh darüber. Dann komme ich ins Gefängnis und der Einzige, der mich besuchen darf, ist Onkel Gustaw …

Als der Zug langsam zum Stehen kommt, steige ich ein, mein Kind fest an mich gepresst. Rubys Augen blicken über den Rand der Decke. Was sie mit ihrem verschwommenen Blick von der Welt wahrnimmt, weiß ich nicht. Ich habe gelesen, dass Babys nichts scharf sehen können, was weiter entfernt ist als das Gesicht ihrer Mutter.

Auf einmal wird Ruby munter. Sie rumort in ihrer Umhüllung und bewegt den Kopf, als würde sie alles verstehen. Lächelnd küsse ich sie auf die Stirn, stolz darauf, dass sie so ein kluges Baby ist. Dann schiebe ich mich seitwärts durch den schmalen Gang.

Der Zug ist voll. Trotzdem finde ich einen leeren Sitz neben einem jungen Mann, der einen Kopfhörer aufhat und eine Zeitschrift liest. Er schaut nicht hoch, als ich mich neben ihn setze, sondern legt bloß seinen Ellbogen auf die Armlehne, sodass ich meinen Arm nicht abstützen kann. Ich packe Ruby aus, die immer unruhiger wird. Ich sehe, dass sie eins ihrer kleinen gestrickten Schühchen verloren hat, und reibe ihren Fuß, der ganz kalt geworden ist. Mir tun die Arme vom Schleppen weh und überhaupt fühle ich mich nicht recht wohl. So als ob ich eine Grippe bekäme.

Ich rutsche ein wenig herum, bis ich bequem sitze, und der junge Mann wirft erst mir, dann Ruby einen Seitenblick zu. Ich presse sie an meinen Körper, aber sie versucht, die Arme aus der Decke zu befreien. Dabei stößt sie einen kleinen ungeduldigen Schrei aus. Erstaunlicherweise lächelt der junge Mann, dann schaut er wieder weg. Ich kann gedämpft die Bässe seiner Musik hören. Irgendwo klingelt ein Handy, und weiter hinten im Waggon greint ein anderes Baby.

Wenn ich nicht auf der Flucht wäre und mich verstecken müsste, würde ich mich neben dieses andere Baby setzen, damit Ruby es anschauen kann. Ich könnte mich mit seiner Mutter darüber unterhalten, welche Sorte Windeln man kaufen soll und ob es besser ist, zu stillen oder die Flasche zu geben. Ich bin jetzt auch eine Mutter, aber mir ist, als hätte ich mit fünfzehn irgendwie nicht das Recht dazu. Bestimmt würde die andere Mutter mich von oben herab ansehen und ihr Baby wegziehen. Als der Zug anfährt, merke ich, dass ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze.

Nach zwanzig Minuten fängt Ruby an zu schreien. Der junge Mann stellt seine Musik lauter und die Dame auf der anderen Seite des Gangs starrt zu mir herüber. Ich schwitze in meinem Parka. Die Schiebetür am Ende des Waggons geht auf und der Schaffner lehnt sich gegen die erste Sitzreihe, während die Fahrgäste in ihren Taschen nach der Fahrkarte kramen. Noch fünf Reihen, dann ist er bei mir. Ich habe keine Fahrkarte. Ich stehe auf, mein Baby auf dem Arm, und gehe schwankend auf den Schaffner zu. Dabei halte ich mich mit einer Hand an den Sitzlehnen fest.

»Entschuldigen Sie.« Seitwärts drücke ich mich an ihm vorbei, als er gerade jemanden nach seiner Fahrkarte fragt. Ich gehe durch die Schiebetür zur Toilette. Dort stinkt es, und der Boden ist ganz nass. Mit dem Fuß gebe ich dem Toilettendeckel einen Schubs, dass er herunterfällt, und lasse mich darauf nieder. Das Klo hat ein ganz kleines Fenster. Ich könnte hinausklettern. Das habe ich auch zu Hause gemacht. Ich habe mich aufs Fensterbrett gesetzt und mich in den Busch darunter fallen lassen. Wahrscheinlich sehe ich meine Familie nie wieder.

»Was ist?«, sage ich zu Ruby. Sie windet sich und schreit. Sie hat die Arme aus der Decke gezogen und strampelt mit den Beinen. Ich halte sie hoch vor mein Gesicht. Für einen langen, unglaublichen Moment sehen wir uns in die Augen, dann wird ihr Gesicht ganz rot und schrumpelig und sie brüllt weiter, als hatte sie schreckliche Schmerzen. Ich dachte, ich wäre eine gute Mutter.

»Hast du Hunger?« Ich fummele am Reißverschluss meiner Jacke herum, schiebe mehrere Pullover und T-Shirts hoch und hole schließlich eine meiner schmerzhaft gespannten Brüste hervor. Ruby hört auf zu schreien und brummelt nur noch. Dabei schnüffelt sie ein bisschen, als könnte sie die Milch riechen, die mir über die Kleider gelaufen ist. Kurz danach hat sie meine Brustwarze gefunden, aber sie kaut nur ein bisschen darauf herum, so als würde sie gern trinken, wüsste aber nicht, wie. Irgendetwas passt ihr nicht. Ihre kleinen Fäuste boxen in die Luft. Mit dem Zipfel der Decke wische ich ihr ein paar Tropfen Milch vom Gesicht. Es kommt mir so vor, als würde ihr meine Milch nicht schmecken.

»Dann eben nicht«, sage ich und ziehe meine Sachen wieder herunter. Ungefähr zwanzig Minuten sitzen wir in der Toilette und warten, dass der Schaffner weitergeht. Das regelmäßige Ruckeln des Zuges wirkt einschläfernd auf Ruby. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, verlasse ich die Toilette und stelle mich in den kleinen Raum zwischen den beiden Waggons. Am besten bleibe ich hier, bis wir in London sind.

Ich bin weggelaufen, weil Mutter und Vater mich reinlegen wollten. Die ganzen Monate über, als ich in meinem Zimmer eingesperrt war, haben sie Pläne geschmiedet, um mir mein Baby wegzunehmen.

»Du musst das Kind abgeben, Ruth«, sagte meine Mutter in strengem Ton. Als wäre es Abfall, den man noch schnell hinunterbringen muss, bevor die Müllabfuhr kommt.

»Jetzt sei doch vernünftig, Ruthie. Was soll denn aus deiner Schule werden? Und aus dem Rest deines Lebens?« Mit verschränkten Armen blickte Vater auf mich herab. Er ähnelt seinem Bruder so sehr.

Solange ich eingesperrt war, tat ich so, als wäre ich einver­standen. Dabei habe ich die ganze Zeit nach einem Ausweg gesucht. Ich habe schon viel zu lange gemacht, was sie wollten. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau mit einem Kind und brauche einen Job und eine Unterkunft. Ich fange ein neues Leben an. Wenn sie gedacht haben, ich würde wieder zur Schule gehen … Gerade als ich verächtlich schnaube, sehe ich, wie der Schaffner den Waggon vor mir betritt.

Mit quietschenden Bremsen verliert der Zug an Fahrt. Ich schiebe ein Fenster hinunter und stecke den Kopf hinaus. Dabei halte ich Ruby gut fest. Wir sind ungefähr fünfhundert Meter vor einem Bahnhof. Noch einmal werfe ich einen Blick in den angrenzenden Waggon. Der Schaffner hat ihn schon halb durchquert und kontrolliert keine Fahrkarten mehr, weil er denkt, er hätte alle gesehen. Statt an zerzaustem Buschwerk fahren wir nun an einer Bahnsteigkante entlang und die ersten Werbetafeln tauchen auf. Wir sind im Bahnhof. Meine Hand liegt auf dem Türgriff, und in dem Moment, als der Zug zum Stehen kommt, in dem Moment, als der Schaffner die Zwischentür aufschiebt, drücke ich den Hebel hinunter. Die Tür geht auf, und ich springe hinaus. Dabei schlägt Rubys Köpfchen leicht gegen meine Brust. Sie erwacht mit einem schrillen Schrei, und wir rennen abermals, weg von dem Zug zu einem trübseligen, aber warmen Warteraum.

Dort sitzen wir nun und warten. Ich zittere, das Baby wimmert. Endlich, nachdem ich es fast eine halbe Stunde lang versucht habe, fängt Ruby an zu saugen. Während sie trinkt, fällt mir mein Schokoriegel wieder ein. Ich ziehe ihn aus der Tasche und wickele ihn mit einer Hand aus. Wie eine kleine Kugel liegt Ruby mit hochgezogenen Knien in meiner linken Armbeuge. Ich sammle ein paar Schokoladenkrümel auf, die ihr auf den Kopf gefallen sind, und muss daran denken, dass auch sie eines Tages Schokolade essen kann. Ich habe allerdings keine Ahnung, wann das sein wird. Ich weiß nicht, wann sie normales Essen bekommen muss, wann sie laufen und sprechen lernen sollte oder zur Schule gehen, ein Instrument lernen, ihr Examen machen oder schwanger werden.

Ruby saugt jetzt weniger heftig. Das ist schön, weil mir der Nippel höllisch wehtut. Bis jetzt war ich allein im Warteraum, aber nun kommt ein Mann herein und setzt sich ausgerechnet mir gegenüber. Ich will nicht, dass ein Fremder meine Brust sieht.

»Wie alt?« Der Mann, der so um die vierzig ist, stellt einen Haufen Einkaufstüten ab und beugt sich vor, damit er besser sehen kann. Er ist außer Atem und riecht nach der kalten, erdigen Winterluft. Ich bin nicht sicher, ob er mein oder Rubys Alter meint, also antworte ich nicht.

»Meine Tochter ist jetzt vierzehn.« Mit einem Seufzer lehnt er sich zurück.

Ich lasse meinen Arm ein paar Zentimeter sinken in der Hoffnung, dass Ruby dann meine Brustwarze freigibt und wir gehen können, aber sie nuckelt immer weiter. Ich könnte schreien, so weh tut es. Ich ziehe die Decke über Rubys Kopf und meine Brust.

»Man muss die Zeit genießen, wenn sie noch so klein sind«, fängt der Mann wieder an. »Das ist so schnell vorbei.« Er reißt eine Coladose auf. »Ist doch wirklich praktisch, dass Sie die Milch immer dabeihaben.« Er deutet mit dem Kinn auf meine Brust, nimmt einen Zug aus der Dose und lacht. Anscheinend findet er das witzig. Ich bekomme langsam Angst. Weit und breit ist niemand zu sehen, und obwohl es erst halb drei ist, wird es schon dunkel. Es sieht aus, als würde es Schnee geben. Ich friere und mir läuft die Nase.

»Wohin soll’s denn gehen?« Er starrt mich an.

»Eigentlich will ich nur meinen Mann abholen. Er kommt mit dem nächsten Zug. Dann gehen wir nach Hause.« Für einen wunderschönen Augenblick glaube ich selbst, was ich sage. Ich stelle mir einen gut aussehenden jungen Mann mit flott gestyltem Haar und einem teuren Anzug vor, der von seinem gut bezahlten Job in der City nach Hause kommt. Er steigt aus dem Zug, läuft über den Bahnsteig und umarmt mich und seine Tochter. Dann sagt er, lass uns noch irgendwo etwas essen, bevor wir nach Hause gehen. In unser warmes, gemütliches Heim …

»Dann kommt er sicher mit meinem Zug. Der müsste gleich da sein.« Er steht auf. »Na, dann noch viel Glück mit dem Baby.« Als er weggeht, will ich ihm zuerst nachrufen, dass er eine seiner Tragetaschen unter dem Sitz vergessen hat, aber dann lasse ich es doch bleiben. Ich warte, bis er in den Zug gestiegen ist und Ruby schläft, dann ziehe ich die Tüte mit dem Fuß zu mir heran und schaue hinein: Sie ist voller Lebensmittel. Ich frage mich, ob er das wohl mit Absicht getan hat.

Ruby und die Einkaufstüte zu tragen ist ganz schön schwer und ich merke, dass ich wieder zu bluten anfange. Ich weiß nicht, ob das schlimm ist, aber ins Krankenhaus gehe ich auf gar keinen Fall. Die schicken mich nach Hause oder rufen vielleicht sogar die Polizei.

Mit dem Bus fahre ich ins Stadtzentrum von Milton Keynes. Einmal vor Weihnachten war ich mit meiner Mutter und mit Tante Anna zum Einkaufen hier, aber den beiden gefiel es nicht. Sie fanden alles viel zu teuer, doch ich fand es einfach zauberhaft.

Heute ist es gar nicht zauberhaft. Überall auf den Straßen Schneematsch und in jedem Schaufenster ein »Schlussverkauf«-Schild. Ich gehe in die Babyabteilung eines Kaufhauses, wo es schön warm ist. Dort gibt es alles für Babys, was man sich nur vorstellen kann – Lampenschirme und Bettdecken und Handtücher und kuschelige Schlafanzüge, alles mit demselben Muster. An der Decke hängt noch die Weihnachtsdekoration und ein geschmückter Baum steht schon ganz schief, so als hätte er es satt und würde gern weggeräumt werden.

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen.« Die Stimme der Verkäuferin klingt freundlich, aber ich wette, sie glaubt, dass ich was klauen will. Ich hebe Ruby etwas höher und lege sie an meine Schulter, damit jeder sehen kann, dass ich ein Baby habe und mich hier aufhalten darf.

»Ich schaue mich nur um.«

»Da drüben ist ein Wickelraum, falls Sie dem Baby die Windeln wechseln wollen.« Sie rümpft lächelnd die Nase. Sie hat recht, Ruby stinkt. Und ich habe keine Windeln.

»Ach, Ruby, du brauchst wirklich eine neue Windel, aber ich Dummerchen habe sie zu Hause vergessen.« So rede ich sonst eigentlich nie.

»Sie finden alles, was Sie brauchen, im Wickelraum. Ein Service des Hauses.«

Der Raum ist leer und riecht nach Talkumpuder und abgestandener Milch. Ich lege Ruby auf den Wickeltisch und schüttele meine verkrampften Arme aus. Als ich die Decke auseinanderfalte, sehe ich, dass ihr Strampelanzug ganz feucht ist. Kein Wunder, dass sie so unruhig war. Ich schäle sie aus ihren Kleidungsstücken, bis sie nur noch einen Body mit Druckknöpfen zwischen den Beinen anhat. Dann betrachte ich ihre Sachen genauer. Trotz der stinkenden Windel riechen sie noch ganz schwach nach Waschpulver.

»Mummy macht dich schnell sauber, mein Schätzchen.« Ich kitzele ihr den Bauch. Mir kommt es vor, als fixiere sie mich mit ihrem Blick. Wieder ist mir, als würden sich unsere Seelen berühren. Unbeholfen wechsele ich ihr die Windel, muss ihr aber wieder die schmutzigen Kleider darüberziehen. Bei meiner überstürzten Flucht hatte ich keine Zeit, was zum Wechseln für sie mitzunehmen. Gerade noch lag ich auf meinem Bett, und im nächsten Augenblick sprang ich schon in den Busch unter meinem Fenster. Da blieb keine Zeit, Winterkleidung einzupacken.

Wie ich so dasitze und Ruby stille, fällt mir siedend heiß ein, dass wir keine Unterkunft für die Nacht haben. Meine Freundin Rachel ist auch mal weggelaufen, aber nur für drei Tage. Sie ging in ein Haus für misshandelte Frauen. Obwohl sie keine misshandelte Frau und damals erst dreizehn war, wurde sie aufgenommen. Aber weil sie den Verdacht hatten, dass sie eine Ausreißerin war, benachrichtigten sie die Polizei und die brachte sie zu ihren Eltern zurück.

Rachel ist weggelaufen, weil sie keinen Hund haben durfte. Ich bin weggelaufen, weil ich mein Baby nicht behalten durfte.

Eine andere Mutter kommt herein und sagt nur kurz »Hallo«, nachdem sie einen Blick auf mich und Ruby geworfen hat. Ich glaube, sie wollte sich ein bisschen unterhaken, hat es sich dann aber anders überlegt. Sie zieht ihr Baby aus. Ihr Kinderwagen ist wirklich schön, riesengroß und bequem und mit passender Windeltasche. Sie redet mit ihrem Baby, als könnte es jedes Wort verstehen. So einen Kinderwagen hätte ich gern für Ruby, dann würden mir wenigstens nicht bald die Arme abfallen.

Nachdem ich mit Stillen fertig bin, wickele ich Ruby wieder in ihre Decke, nehme sie fest in den linken Arm, und als die andere Mutter gerade nicht herschaut, stopfe ich ein halbes Dutzend Windeln und ein Päckchen Reinigungstücher in meine Plastiktüte.

»Tschüss«, sage ich und gehe hinaus in den Laden, wo ich eine Stunde lange herumspaziere. Ich stehle einen Lippenstift, obwohl ich es gar nicht vorhatte. Aber ich habe noch nie einen besessen. Ungehindert verlasse ich das Kaufhaus, und kurz darauf sitze ich mit einer Tasse Tee bei McDonald’s und muss lachen.

Draußen ist es dunkel. Ruby und ich haben Spaß miteinander. Sie ist froh, weil sie jetzt trocken und satt ist. Als ich mir die Lippen leuchtend rot bemale, gurgelt sie noch lauter. Anscheinend gefalle ich ihr so.

Ich hätte nie gedacht, dass ich weglaufen würde, und dass es so leicht wäre. Vielleicht war das ja schon immer mein Fehler – ich denke einfach nicht nach. Ich hätte nie gedacht, dass ich schwanger werden könnte oder dass irgendjemand mich unscheinbares Geschöpf gern genug haben könnte, um mich schwanger zu machen. Aber daran will ich nicht denken, also kneife ich ganz fest die Augen zusammen, bis die Erinnerung verschwunden ist.

Ich sitze an einem großen Fenster. Weil es draußen dunkel ist, kann ich in der Scheibe mein Spiegelbild sehen. Tiefe dunkle Augenhöhlen und blasse Haut, über Wangenknochen gespannt, die irgendwie, na ja, zu knochig sind. Mein Pony ist fransig, und eine richtige Frisur hatte ich sowieso noch nie. Mutter hält nichts von Eitelkeit. Seit ich denken kann, leiert sie mir immer wieder die alte Geschichte vor, wie schlimm es dem polnischen Volk im Krieg ging und wie das mit dem Einmarsch der Nazis war und dem Warschauer Ghetto und dem Aufstand. Seit damals, sagt sie, gibt es in unserer Familie keine Eitelkeit mehr. Meine Vorfahren hätten gelitten, damit ich leben kann, aber ich würde nie im Leben so viel Mut aufbringen wie meine Großeltern, als sie aus Polen flüchteten.

Was sie damit sagen wollte, habe ich nie verstanden. Im Geschichtsunterricht haben wir den Krieg durchgenommen, und es ist sicher schrecklich gewesen, aber das ist doch nicht meine Schuld! Ich schwöre mir, dass ich einmal eitel werden will, weil Mutter nicht da ist und weil der Krieg mittlerweile vorbei ist.

Mir geht es ganz gut. Ruby und ich sind im Holiday Inn. Wegen dem Baby musste ich unbedingt einen Platz für die Nacht finden. Schließlich hatte ich keine Lust, bei dieser Kälte in einen Ladeneingang zu kriechen. Auf dem Weg vom Kaufhaus entdeckte ich auf einmal wie ein rettendes Licht die Neonschrift des Hotels. Ich wollte schon immer mal in einem richtigen Hotel wohnen, aber Mutter und Vater fuhren in den Ferien immer nur in diese Familienpensionen mit den muffigen Laken und den wild gemusterten Teppichen. Das hier ist viel schöner.

Ein bisschen komisch sehe ich sicher aus, in meinem alten Parka und den Turnschuhen, aber ich glaube, mit dem Lippenstift gehe ich für zwanzig durch. Hier gibt es eine nette Bar mit Sofas und Lampen und durch alle Räume flattert leise Musik, wie Schmetterlinge mitten im Winter. Ruby gefällt es jedenfalls. Als sie die Musik hört, beruhigt sie sich sofort und hört auf zu schreien.

Onkel Gustaw hat mal zu mir gesagt, dass man vor allem eines braucht, wenn man etwas erreichen will, und das ist Selbstvertrauen. Er muss es ja wissen. Also gehe ich lächelnd und mit erhobenem Kopf an der Rezeption vorbei und halte Ruby so, dass jeder sie sehen kann. Ich habe festgestellt, dass man mit einem Baby gleich vertrauenswürdiger wirkt.

Auf dem Schild über meinem Kopf steht »Zum Schwimmbad«. Ein bisschen Schwimmen wäre jetzt nicht schlecht. Im Damen-Umkleideraum zwängen sich gerade zwei ältere Frauen in ihre Badeanzüge. Es riecht nach warmen Körpern und Chlor. Ich setze mich auf eine Bank und spiele ein bisschen mit Ruby herum, bis die beiden ihre Sachen in einem Schließfach verstaut haben. Sie fluchen leise, weil das Schloss ihre Münze nicht annimmt. Das bringt mich auf eine Idee. Die Frauen gehen ins Schwimmbad und unterhalten sich dabei über ihre Enkelkinder.

Ruby und ich duschen lieber. Ich presse ihren nackten Körper ganz fest an mich und wasche uns mit der Seife aus dem Spender, bis wir strahlend sauber sind. Es gibt dort sogar weiche Handtücher. Ich hoffe, die beiden Frauen nehmen es mir nicht allzu übel, dass ich die Gelegenheit nutze, aber schließlich kann ich ja nichts dafür, dass das Schließfach nicht zuging. Sie hätten sich eben ein anderes suchen sollen.

In ihrer Sporttasche finde ich zwei Garnituren riesengroßer Unterwäsche, einen Frottee-Trainingsanzug, ein paar T-Shirts, einen Rock in Größe 44 und eine Kulturtasche mit echt hübschen Sachen drin. Ich behalte fürs Erste meine Kleider an, wickele Ruby aber in den Frotteeanzug, weil ihr eigenes Zeug stinkt. Im Waschbecken spüle ich ihre schmutzigen Sachen aus, packe die Lebensmittel, die der Mann am Bahnhof vergessen hat, in meine neue Tasche und mache mich auf den Weg durch das Gewirr der Hotelflure.

Es wirkt ganz normal, wenn man in einem Hotel Gepäck mit sich herumträgt. Alle paar Meter ist eine Tür; meistens führt sie zu einem ganz gewöhnlichen Zimmer, aber manchmal steht ein Name dran, wie Balmoral Suite oder Windsor Room. Ich rüttele an ein paar Türknäufen, aber überall ist abgeschlossen. Mit dem Aufzug fahren wir ein Stockwerk höher und probieren auch da, ob eine Tür offen ist. Auf halber Höhe des Korridors halten zwei Putzfrauen ein Schwätzchen. Dabei lehnen sie sich an ein Wägelchen mit Bettwäsche und Kaffeetütchen und einzeln eingepackten Keksen. Sie stehen vor einem Raum, der wie eine Vorratskammer aussieht. Anscheinend wollen sie gerade Feierabend machen.

»Das erledige ich morgen früh, Sandra«, sagt die eine gerade. Ich gehe langsam an ihnen vorbei und spitze die Ohren. Und weil ich mich ganz selbstbewusst gebe, so wie es Onkel Gustaw gesagt hat, merken sie nicht, dass ich einen verstohlenen Blick in die kleine Kammer werfe. Ein paar Meter von ihnen entfernt bleibe ich stehen und tue so, als würde ich etwas in meiner Tasche suchen, und als sie ihren Wagen in die Kammer geschoben haben und weggegangen sind, mache ich einen Satz und klemme einen Fuß zwischen Tür und Rahmen, bevor sie zufallen kann.

»Was hältst du davon, Ruby?« Zwischen all den Stapeln von Bettwäsche und Handtüchern klingt meine Stimme ganz dumpf.

Ich bin richtig stolz auf mich, weil ich einen Unterschlupf für die Nacht gefunden habe. Die Putzfrauen kommen bestimmt nicht vor morgen früh zurück, also können wir es uns in Ruhe gutgehen lassen – mit den Kissen und Bettdecken und Laken und den Mini-Whiskyfläschchen und den Tütchen mit Zucker, den man mit dem feuchten Zeigefinger aufstippen kann.

Nachdem ich Ruby auf einem Kissen abgelegt habe, lasse ich meine Arme wie Windmühlenflügel kreisen. In dem kleinen Raum mit den Regalen und dem Wägelchen ist gerade genug Platz dafür. Dann streife ich die Turnschuhe ab und mache uns auf dem Fußboden ein Nest aus Kissen und Bettdecken, genau wie eine Vogelmutter. Aus der Sporttasche hole ich eine Packung mit Keksen, reiße sie auf und esse gleich drei auf einmal. Außerdem ist da noch eine Büchse Erbsen, mit der ich ohne Öffner nichts anfangen kann, ein Eisbergsalat, eine Tüte Möhren, eine Dose Frühstücksfleisch, das ich so gern mag, und ein Päckchen Kräcker.

»Das wird vielleicht ein Festessen!«, jauchze ich, und Ruby spuckt ihre ganze Milch auf unser Nest. Also hole ich eine neue Decke aus dem Regal.

Ich mache mir ein frühes Abendessen aus Kräckern mit Dosenfleisch und Salat und einer schönen knackigen Möhre dazu. Zum Nachtisch gibt es mit Whisky beträufelten Zucker. Danach schlafe ich stundenlang. Ruby liegt an meinen Körper geschmiegt. Sie ist wirklich ein braves Baby.

Am Ende musste ich doch von dort weg. Ich faltete am Morgen die bespuckte Decke zusammen, legte die Kissen wieder an ihren Platz und schob die Sachen auf dem Wägelchen so zurecht, dass niemand merkte, dass etwas fehlte. Aber nachdem ich zwei Nächte in der Vorratskammer verbracht hatte, war es nur eine Frage der Zeit, wann man mich entdecken würde.

Als ich am Morgen nach meinem Festessen aufwachte, fühlte ich mich elend. Ich räumte die Kammer auf und lungerte den ganzen Tag in einem Einkaufszentrum herum. Ich gab ein bisschen Geld für Damenbinden und eine heiße Schokolade aus und betrachtete unschlüssig einen leeren Kinderwagen, der vor der Tür zur Damentoilette stand. Wenn sie nicht so schnell zurückgekommen wäre, wäre es meiner gewesen.

Der zweite Abend verlief genauso wie der erste. Wir duschten noch mal und kuschelten uns dann in der Vorratskammer zusammen. Ich träumte davon, wie es wäre, wenn ich ein hübsches Haus hätte und einen Job, bei dem ich ein paar hundert Pfund die Woche verdienen würde. Am frühen Morgen verschwanden wir, ohne eine Spur zu hinterlassen. Schließlich soll man sein Glück nicht herausfordern.

Jetzt trotten wir also am vereisten Straßenrand entlang und versuchen, per Anhalter nach London zu kommen. In der Nähe muss eine Autobahn sein; ich kann das Rauschen des Verkehrs hören. Ein paar Autofahrer bremsen ab und starren mich an, halten aber nicht. Dann fährt ein Lieferwagen vorbei. Seine Bremslichter gehen immer an und aus, als wüsste der Fahrer nicht, ob er anhalten soll. Schließlich tut er es aber doch und ich renne mit Ruby im Arm die etwa hundert Meter zum Wagen hin. Beim Lauten schlägt mir die Sporttasche gegen den Rücken und die eisige Luft brennt mir mit jedem Atemzug in der Kehle.

»Wohin soll’s denn gehen, Kleine?« Er ist blond und schmutzig, wahrscheinlich ein Bauarbeiter.

»London«, keuche ich und stütze mich auf die Beifahrertür.

»Ich kann dich bis zur Autobahnauffahrt mitnehmen, aber weiter nicht. Dann bist du schon mal ein paar Kilometer näher dran.« Der Arbeiter grinst und zeigt dabei ein paar schauerliche Zähne, die genauso gelb sind wie seine Haare. Aber weil er sonst einen netten Eindruck macht, steigen wir ein. In dem Lieferwagen ist es warm; es riecht nach Öl und Kaffee.

»Was macht ein junges Mädchen wie du schon so früh am Montagmorgen auf der Landstraße?« Beim Fahren schaut er mich ein paar Mal von der Seite an und grinst wieder. Wahrscheinlich interessiert es ihn gar nicht besonders und er fragt einfach nur so.

Ich starre geradeaus und überlege krampfhaft, was ich ihm erzählen soll. Ruby greint und zappelt auf meinem Schoß.

»Süßes Baby«, sagt er. »Wie alt?«

»Noch ziemlich jung«, antworte ich, froh darüber, dass er das Thema gewechselt hat. Der Fahrer summt die Melodie aus dem Radio mit und trommelt im Takt mit den Fingern aufs Lenkrad, aber ich kann sehen, dass er nachdenkt.

»Du willst also mit einem ziemlich jungen Baby per Anhalter fahren.« Das Lied ist zu Ende.

»Ja«, sage ich und knabbere an meinen Nägeln. Weil ich schon die Autobahnauffahrt sehen kann, hebe ich Ruby hoch, die daraufhin zu schreien anfängt, und nehme meine Tasche in die Hand. Ich will jetzt nur noch raus. Der Bauarbeiter lässt mich ohne weitere Fragen an einem Parkplatz aussteigen, hupt einmal kurz und fährt weg.

Eine ganze Stunde stehe ich mit Ruby an der Auffahrt, bis mir die Wangen von dem scharfen Wind brennen und meine Zehen fast erfroren sind. Endlich hält wieder einer. Diesmal ist es ein Sattelschlepper mit mindestens hundert Rädern, die qualmen und quietschen, als der riesige Laster neben mir zum Stehen kommt.

»London?«, rufe ich zum Führerhaus hoch und der Fahrer gibt mir zu verstehen, dass ich einsteigen soll. Ich brauche fast eine Leiter, um hinaufzukommen, aber der Mann zieht uns hoch und schnallt mich an. Hinter den Sitzen ist ein Bett. Ich frage ihn, ob er bis nach London fährt. Meine Lippen sind so steif vor Kälte, dass ich kaum ein Wort herausbekomme. Der Lastwagenfahrer hebt beide Hände hoch, als wollte er den Verkehr anhalten.

»Ich nix Englisch.« Dann brüllt er vor Lachen und fährt los.

Zweieinhalb Stunden später sind wir in Nordlondon und ich verabschiede mich auf einem Fabrikgelände von dem Fahrer. Ein Lagerarbeiter erklärt mir den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle. Ich wollte schon immer mal mit der U-Bahn fahren und bin wahnsinnig stolz, dass ich es allein bis hierher geschafft habe. Der Zug rattert mit uns mitten ins Herz der City – in Sicherheit.

Ohne besonderen Grund steigen wir an der Haltestelle Tottenham Court Road aus und gehen über den Bahnsteig zum Ausgang. Ich breche fast unter Rubys Gewicht zusammen und habe schreckliche Bauchkrämpfe. Unter meinen Schichten von Kleidung schwitze und glühe ich. Ich bin außer Atem und ein bisschen schwindlig und mein Herz hämmert, aber ich schleppe mich weiter, froh über die Rolltreppe, die uns bis nach oben an die Erdoberfläche bringt. Ich bleibe auf der Treppe stehen und ruhe mich ein bisschen aus, während alle anderen Leute an mir vorbei die Stufen hinaufhasten.

In der kalten Luft draußen fühle ich mich ein wenig besser und kann weitergehen, auch wenn ich nicht weiß, wohin und mein Baby so schwer ist, dass ich es kaum noch tragen kann. Ich muss weg von der Menschenmenge und dem Dröhnen in meinem Schädel, also biege ich in eine Seitenstraße ein. Aber das Geräusch wird immer lauter; es ist, als wenn ein Zug durch meinen Kopf braust, und auf einmal habe ich das Gefühl, dass die Häuser über mir zusammenbrechen. Am anderen Ende der Straße stehen ein paar stinkende Müllcontainer. Ein Mann in einer Kochuniform kommt aus einer Hintertür und wirft zwei schwarze Plastiksäcke hinein. Bevor er die Tür wieder zuschlägt, sieht er mich scharf an. Weil ich so schwanke, glaubt er bestimmt, ich wäre betrunken mit einem Baby unterwegs.

Dann merke ich nur noch, wie ich nach hinten kippe und mit dem Hinterkopf auf das Pflaster schlage. Danach ist alles dunkel und still.

Später – wann genau, weiß ich nicht – versucht mir jemand die Augenlider hochzuschieben, aber ich kann nichts erkennen, weil mich das Licht von der Lampe, die an der Decke hängt, furchtbar blendet.

»Wach auf! Nun werd schon wach!«

Mit einem Ruck richte ich mich auf. Mir fährt ein stechender Schmerz durch den Schädel. Hektisch taste ich nach Ruby.

»Wo ist mein Baby?« Ich fange hysterisch an zu schreien. In meinem Mund ist der Geschmack von Blut. Und von meiner eigenen Angst.