21
F
risch wie ein Frühlingsstrauß stand Louisa vor der Tür. Als Robert sie hereinbat, rümpfte sie die Nase und runzelte leicht die Stirn.
»Mach mal das Fenster auf, Robert. Hier stinkt’s.« Ein Hauch von Parfum wehte hinter ihr her, als sie an ihm vorüberging. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die zerknüllten Decken auf dem Sofa und die schmutzigen Teller auf dem Fußboden. »Keine Bange, du warst schon mal schlimmer dran«, sagte sie, zog ihren flachen Laptop aus der Tasche und stöpselte ihn ein. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Die Köpfe dicht nebeneinander, starrten sie auf den Bildschirm und warteten darauf, dass der Computer hochfuhr.
»Der Name, der auf dem Foto im Medaillon stand, ist ziemlich ungewöhnlich. Babka ist Polnisch und bedeutet Großmutter. Babka Wystrach war also irgendjemandes Oma.« Lächelnd bewegte Louisa ihren Finger über das Mousepad und klickte ein gespeichertes Lesezeichen an.
Jemandes Großmutter?, dachte Robert. Vielleicht Rubys oder Erins? Möglicherweise hatte Erin das Medaillon aber auch auf einem Flohmarkt gekauft und es Ruby geschenkt. Er sah Erin vor sich, wie sie einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachging – dem Stöbern in altem Schmuck und irgendwelchem Krimskrams –, und fühlte sich auf einmal sehr einsam.
»The Chronicle and Echo?«, fragte er, als die Internetadresse im Browserfenster auftauchte.
»Einen Moment noch«, sagte Louisa. Sie wartete, bis sich die Seite öffnete, und fuhr dann fort: »Hör dir das an: ›Der sechzig Jahre alte Gustaw Wystrach aus Northampton wurde wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch und sexuelle Belästigung einer Vierzehnjährigen verhaftet. Die Polizei nahm den Mann in den frühen Morgenstunden in seiner Wohnung fest, nachdem die Mutter des Mädchens Anzeige gegen ihn erstattet hatte. Wystrach, dessen Familie ursprünglich aus Polen stammt und der seit siebzehn Jahren den Knowle Hill Jugendclub leitet, wird morgen gegen Kaution aus der Haft entlassen, muss sich jedoch für weitere Ermittlungen zur Verfügung halten.‹«
Mit einem Seufzer richtete sich Robert auf. »Der Artikel ist von Juni 2001. Wie hast du den gefunden?«
»Ganz einfach. Ich habe nur den Namen Wystrach bei Google eingegeben.« Louisa stemmte die Hände in die Hüften und schnitt ihm eine Grimasse. Ein Sonnenstrahl fiel ihr auf Rücken und Schultern und ließ ihren Pferdeschwanz wie eine Flamme leuchten. »Es gab Hunderte von Ergebnissen, aber bei den meisten ging es nur um Ahnenforschung. Diese Geschichte hier stand ganz am Anfang der Liste. Es ist natürlich möglich, dass im Internet gar keine Informationen zu dem Medaillon zu finden sind – es ist schließlich schon alt, vermutlich hat nie jemand etwas darüber ins Netz gestellt.«
»Ich bezahle dich also dafür, dass du im Internet surfst.« Robert tigerte in der Küche auf und ab. »Wie auch immer, es geht uns doch auch um Ahnenforschung! Schließlich wollen wir etwas über Erins Familiengeschichte herausfinden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mann etwas mit ihr zu tun hat. Glaubst du trotzdem, dass es sich lohnt, die Spur weiterzuverfolgen?« Robert öffnete die Hintertür und schaute hinaus in den Garten. Das Gras war fast fünfzehn Zentimeter hoch und wogte im sanften Wind.
»Aber sicher. Ich bin doch nicht umsonst Detektivin.« Louisa trat hinter ihn. »Ich werde jetzt die Zeitungen nach dieser Geschichte durchstöbern und versuchen herauszubekommen, was aus dem alten Dreckskerl geworden ist. Bestimmt finde ich seine Adresse, und wir können ihm einen Besuch abstatten, wenn du willst. Die Frau auf dem Foto könnte durchaus eine Verwandte von ihm sein, immerhin ist der Name relativ selten.« Sie kam noch einen Schritt näher, bis Robert die Wärme ihres Körpers im Rücken spüren konnte. Ihr Atem streifte seinen Nacken. »Andererseits steckt vielleicht auch gar nichts dahinter, und Erin ist heute Abend wieder da, kuschelt sich an dich und bittet dich um Verzeihung.«
Robert drehte sich um. »Glaubst du wirklich?«, fragte er bedrückt. Er sehnte sich so sehr nach Erin und Ruby! »Ich danke dir«, sagte er aufrichtig und nahm Louisas Hand. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.«
Lächelnd entzog sie ihm ihre Hand. »Während ich versuche, im Internet noch mehr über diesen Mann zu erfahren, könntest du dich zum Beispiel ein bisschen frisch machen, etwas essen, eine Partie Squash spielen oder sonst was tun. Es wird nicht lange dauern.« Sie ging zu ihrem Laptop. »Und Rob, sei nicht enttäuscht, wenn ich nichts herausfinde, ja?«
»Ich hoffe aber, dass es dir gelingt, das muss ich gestehen«, erwiderte er und ging duschen.
Nachdem Louisa Robert später zu seinem Wagen gebracht und ihm kommentarlos geholfen hatte, sein Handy wiederzufinden, machten sie sich auf den Weg nach Northampton. Gegen Mittag erreichten sie die unscheinbare Stadt. Zum Lunch besorgte Robert Kaffee, zwei Wurstbrötchen und eine Schachtel Zigaretten. Louisa wollte nichts essen und nippte nur an ihrem Kaffee. Die angebotene Zigarette lehnte sie mit einem derart verächtlichen Schnauben ab, als würde sie selbst Zigarettenqualm ausstoßen.
Von dem vielen Alkohol am vergangenen Tag dröhnte Robert noch immer der Kopf, doch das war nichts gegen die Traurigkeit, die ihm förmlich das Herz zerriss.
Louisa hatte einen Stadtplan mitgebracht. »Und was ist, wenn er immer noch im Gefängnis sitzt?« Robert stand an die Motorhaube seines Wagens gelehnt, während sich Louisa auf die einzige Bank auf dem Parkplatz gesetzt hatte, und zwar so weit von Roberts Zigarettenqualm entfernt wie möglich. Robert steckte sich den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund, bürstete sich die Krümel vom Hemd und zog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er den Stummel wegwarf und mit dem Absatz austrat. »Hast du daran mal gedacht?«
Louisa schüttelte den Kopf. »Er ist nicht im Gefängnis.« Mit einem Blick auf die Zigarettenkippe setzte sie hinzu: »Muss das sein?« Robert beachtete die Bemerkung nicht.
»Aber du hast doch gesagt, dass er vierzehn Jahre bekommen hat.«
»Stimmt.«
»Wenn ich verspreche, nicht mehr zu rauchen, erzählst du mir dann, was du herausbekommen hast?« Wegen des grellen Lichts setzte sich Robert die Sonnenbrille auf.
»Gustaw Wystrach ist tot.« Louisa erhob sich von der Bank und zog ihre Jeans hoch. Ihr weißes T-Shirt reichte nicht ganz bis zu der Schmuckschnalle ihres Ledergürtels. »Er hat sich im Gefängnis erhängt.«
»Konntest du mir das nicht sagen, bevor wir losgefahren sind?« Robert zog eine neue Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen die Lippen.
»Du hast doch gesagt …«
»Ich habe sie ja noch nicht angezündet. Also, wen zum Teufel besuchen wir denn jetzt?«
»Keine Ahnung. Seine Mutter, Tante, Frau, Tochter – ich weiß es nicht.«
Louisa zupfte Robert die Zigarette von den Lippen und warf sie in einen Abfalleimer. Dann öffnete sie die Wagentür und stützte sich auf das Stoffverdeck des Mercedes. »Können wir nicht oben ohne fahren?« Grinsend bückte sie sich und stieg ein.
Im warmen Sommerwind fuhren sie durch die Stadt. Roberts Hände am Lenkrad wurden durch die Sonne ganz heiß, und auch sein Nasenrücken brannte schon. Wenn nicht die Sache mit Erin und Ruby gewesen wäre, hätte er den schönen, warmen Tag genossen. Nach der Karte dirigierte Louisa ihn zu einem gesichtslosen Vorort im Norden der Stadt.
»Es ist noch zwei Straßen weiter«, sagte sie und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die trostlosen Reihen der Wohnhäuser aus den sechziger Jahren. In diesem grauseligen Viertel fielen sie bestimmt auf wie ein bunter Hund, dachte Robert. »Hier links.«
Bell Grove Gardens Nummer 72 war das unansehnlichste Haus in der ganzen Straße. Die Fassade aus Waschbeton ließ vermuten, dass es im Gegensatz zu den übrigen Häusern noch immer Eigentum der Stadt war. Während die Nachbarn ihre Wohnungen mit bunten Balkonpflanzen geschmückt und Gartenzwerge und Steinfiguren in die Vorgärten gestellt hatten, wirkte Nummer 72 so schäbig und vernachlässigt, als sei es gar nicht bewohnt.
»Hübsch«, bemerkte Louisa nach einem Blick auf den abfallübersäten Vorgarten. »Soll ich hier warten?«
»Du willst dir wohl nicht die Schuhe schmutzig machen, was?«, antwortete Robert und ließ das Verdeck hochfahren. »Los, komm schon. Schließlich bist du meine Detektivin und weißt bestimmt, wie du mit den Bewohnern reden musst.«
»Meinst du?« Sie stiegen aus und überquerten die Straße.
Robert marschierte so entschlossen über den Gartenweg bis zur Haustür, als würden sich dahinter Erins sämtliche Geheimnisse verbergen, und klopfte energisch an. Da nach einer Weile noch immer niemand öffnete, traten sie durch ein kleines Tor in den unkrautüberwucherten Garten. Auf dem Nachbargrundstück balgten sich ein paar Kinder um einen Ball. Robert und Louisa gingen um einen morschen Anbau herum und stellten fest, dass die Hintertür offen stand. Aus dem Haus drang mit Knistern und Rauschen untermalte Radiomusik. Robert klopfte an die offene Tür.
»Jemand zu Hause?«
Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine alte Frau mit einem Wäschekorb vor ihm. Ein paar Sekunden lang musterten sie einander wortlos. Robert hatte das Gefühl, einer typischen alten Ehefrau gegenüberzustehen. Sie war vermutlich schon jahrzehntelang verheiratet, und ihr Dasein erschöpfte sich darin, Wäsche aufzuhängen und tagaus, tagein Würstchen mit Kartoffelbrei aufzutischen. Eines Tages würde sie dann unbeachtet und vergessen in irgendeinem Altersheim sterben. Auf ihrer Haut lag ein leichter Schweißfilm, und ihre Augen, die vermutlich einmal blau gewesen waren, wirkten ausgeblichen, so als habe sie zu viel geweint. Um die alte Frau nicht zu ängstigen, schob Robert seine Sonnenbrille hoch und fragte: »Mrs Wystrach?« Er wusste nicht, ob er den Namen richtig ausgesprochen hatte. Die Frau nickte fast unmerklich. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit? Ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.« Plötzlich wirkte sie beunruhigt. Sie runzelte die Stirn und warf einen furchtsamen Blick auf Louisa, die hinter Robert stand. »Es wird Sie bestimmt interessieren«, fügte Robert hinzu, als wollte er einem Kind eine Leckerei schmackhaft machen.
»Warten Sie«, sagte sie brüsk, schloss die Tür und verschwand im Dunkel des Hauses. Gleich darauf kam sie mit einem großen, dicken älteren Mann zurück, der ebenso grimmig blickte wie sie. Er füllte die gesamte Tür aus und überragte Robert noch ein wenig, da er auf der Schwelle stand.
»Guten Tag«, sagte Robert und streckte ihm die Hand entgegen. Hinter ihm räusperte sich Louisa. »Ich bin Robert Knight und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn Sie ein wenig Zeit haben.« Zögernd nahm der andere die dargebotene Hand. Sein Griff war zu kraftlos für einen so stattlichen Mann, dachte Robert. Außerdem fühlte sich seine Haut kalt und leblos an. »Dürfen wir hereinkommen?« Die beiden alten Leute musterten die Besucher noch immer wortlos. Ihre Augen huschten ständig zwischen Robert und Louisa hin und her. Die Frau hielt nach wie vor den Wäschekorb an ihre Hüfte gepresst.
Schließlich trat der Mann beiseite und bat Robert mit einem Nicken in die düstere Küche, die im Stil der 1960er Jahre möbliert war. Schließlich standen die vier um einen hellblauen Resopaltisch herum. Mrs Wystrach stellte den Korb auf den Boden und strich sich den geblümten Rock glatt. Robert betrachtete sie aufmerksam, so als stünde er im Gerichtssaal und müsste sie gleich als Zeugin ins Kreuzverhör nehmen. Er registrierte die kleinen Fusselknötchen auf ihrem grauen kurzärmeligen Pullover, den blassen Fleck auf ihrer Schürze, das im Nacken zusammengebundene gelblich-graue Haar und die bräunlichen Altersflecken auf ihren Wangen, die aussahen, als hätte ihr jemand Tee ins Gesicht gespritzt. Krampfhaft suchte er nach einer Spur von Ähnlichkeit mit Erin und Ruby, nach einem Zugang zu der geheimnisvollen Vergangenheit seiner Frau.
Doch die Frau vor ihm erinnerte ihn an nichts und niemanden.
»Sind Sie von der Polizei?« Der Mann sprach mit einem starken Akzent.
»Aber nein. Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen.« Robert öffnete die linke Hand, in der er das Medaillon hielt. Sein Anblick hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf das alte Paar. Die Frau schnappte nach Luft und tastete haltsuchend nach der Stuhllehne. Der Mann sagte kein Wort, schluckte aber mehrmals hintereinander. Sein Nacken wurde ganz steif und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Auf seiner bleichen Glatze bildeten sich Schweißperlen.
»Erkennen Sie es wieder?« Schon während er die Frage stellte, kannte Robert die Antwort. Sein Herz begann vor Aufregung schneller zu pochen, aber er rief sich selbst zur Ordnung. Selbst wenn die alten Leute das Medaillon kannten, musste es noch lange nichts mit Erin zu tun haben.
»Edyta«, flüsterte die Frau, als wollte sie die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören.
Als Robert den Deckel hochklappte und das Foto sichtbar wurde, schlug die Frau eine Hand vor den Mund und bekreuzigte sich mit der anderen. Der Mann wandte sich mit einem unterdrückten Stöhnen ab, doch Robert sah, wie die Adern am Hals des Alten unvermittelt hervortraten.
»Mr Wystrach?« Robert nahm an, dass das sein Name war. »Kennen Sie die Frau auf dem Bild?«
Wortlos schaltete der Angesprochene das Radio aus.
»Sicher kennt er sie.« Die alte Frau trat einen Schritt näher und wischte sich rasch mit einem Finger über die Wange. »Es ist seine Mutter, Edyta Wystrach. Sie lebt nicht mehr.«
»Das tut mir leid.«
»Sie war schon alt und …«
»Wo haben Sie das her?«, rief der Mann wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Akzent war jetzt so stark, dass er kaum zu verstehen war.
»Ich wollte Sie nicht beunruhigen.« Robert wich ein wenig zurück. »Ich wusste nicht, dass Ihre Mutter verstorben ist.«
»Es hat nichts mit dem Foto seiner Mutter zu tun.« Achselzuckend nahm Mrs Wystrach den Teekessel zur Hand, ließ ihn voll Wasser laufen und schaltete die Herdplatte ein. Sie wirkte resigniert, als sei gerade etwas Unangenehmes geschehen, womit sie ihr Leben lang gerechnet hatte. »Meinen Mann interessiert das Medaillon.«
»Bitte, schauen Sie es sich ruhig näher an.« Robert hielt dem noch immer reglos dastehenden Mann das Schmuckstück hin.
»Ich sollte wohl eher sagen, ihn interessiert, woher und vor allem von wem es kommt.« Mrs Wystrach wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Es gehörte Ruth, müssen Sie wissen.«