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obert holte einen Wollschal und legte ihn Cheryl um die Schultern. Sein Herz klopfte zum Zerspringen und er hatte das Gefühl, als würde er aus der Wirklichkeit abdriften. So wie Cheryl. Doch um Rubys Willen musste er unbedingt einen klaren Kopf behalten.

»Cheryl, ist das Ihr Baby?« Er kniete sich neben die zitternde Frau und zeigte auf den Säugling. Die Idee, dass Ruby ein Geschwisterchen haben könnte, war ihm nie gekommen.

»Sie ist krank, nicht wahr?«, fragte die junge Asiatin, die sich neben ihn gehockt hatte und gerade ihren dicken Bauch zurechtrückte. Er warf ihr einen Blick zu. Ihr seidiges schwarzes Haar umfloss sie wie ein Wasserfall.

Er nickte. »Und Sie haben auch keine Ahnung, was passiert sein könnte?«

»Ich habe mir in letzter Zeit öfter von ihr aus der Hand lesen lassen. Normalerweise einmal die Woche. Da ging es ihr immer gut.« Sie hatte einen leichten Midlands-Akzent. »Dieses Wochenende konnte ich nicht kommen, weil ich ein bisschen Ärger zu Hause hatte.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Aber vorhin war ich schon einmal hier. Als sie nicht öffnete, ging ich durch die Hintertür. Es war schrecklich … Sie hockte jammernd mit dem schreienden Baby in dem unbenutzten Zimmer. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.«

»Und weiter?« Robert streichelte Cheryls schweißfeuchte Hand. Dann versuchte er, ihr das Baby wegzuziehen, doch sie verstärkte ihren Griff und stimmte ein noch lauteres Klagegeheul an.

»Haben Sie jemanden benachrichtigt?«

»Ich bin nach Hause gegangen und habe es meinem älteren Bruder erzählt. Er hat gesagt, er würde erst zur Polizei gehen und dann herkommen. Ich habe dann eine ganze Weile bis hierher gebraucht.« Abermals umfasste sie ihren Bauch. »Wird sie wieder gesund? Sie war immer so nett zu mir.«

Wieder nickte Robert. »Ich glaube schon. Sie hat nur eine Art Schock.« Und das war seine Schuld, daran bestand kein Zweifel. Wenn er die Sache umsichtiger angefangen und Cheryl nicht einfach erzählt hätte, dass er wüsste, wo ihr Baby ist, wäre sie nicht aus dem Pub geflüchtet. Dann hätten sie in Ruhe miteinander reden und ein Treffen zwischen ihr und Ruby vereinbaren können. Er hätte einen Anwalt oder einen Sozialarbeiter hinzuziehen und so den Schock für sie mildern können. Nun konnte er nur noch darauf warten, dass draußen das Blaulicht des Streifenwagens aufflackerte und das Unheil seinen Lauf nahm.

»Das ist nicht dein Kind, stimmt’s, Cheryl?« Das Mädchen streichelte Cheryl über den Rücken. »Komm, erzähl es mir. Überleg mal, was ich dir alles von mir erzählt habe, da kannst du mir ruhig auch mal was verraten.« Sie klang so reif und vernünftig, dass Robert und Louisa sie überrascht anblickten.

Cheryl packte das Baby noch fester, bis es aufhörte zu wimmern. »Natasha«, flüsterte sie, beugte sich hinunter und gab dem Kind einen Kuss auf den flaumigen Kopf.

»Nein, Cheryl«, mischte sich Robert ein. »Das Baby hier ist nicht Natasha.«

Jetzt war der Augenblick gekommen. »Das hier ist Natasha.« Ruby versuchte, ihm auszuweichen, doch er erwischte sie gerade noch. Wieder zog er sie am Arm näher zu Cheryl.

»Robert, was soll das alles? Lass mich los!« Ruby funkelte ihn wütend an und versuchte sich loszureißen.

Ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz – sie hatte Robert zu ihm gesagt und nicht Dad. Obendrein schlug sie mit ihrer freien Hand nach seiner Schulter und bedachte ihn mit einem hasserfüllten Blick. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich von ihr zu lösen.

»Ruby, das hier ist deine …«

»Neiiiiin!« Cheryls langgezogener Schrei drang allen durch Mark und Bein, doch im nächsten Moment begann sie schon, mit klarer, deutlich vernehmbarer Stimme zu singen, und wiegte das Baby dabei sanft in den Armen.

Hoppe-hoppe Reiter,

wenn er fällt, dann schreit er.

Fiel’s Baby in den Brunnen,

wurd’s nie mehr gefunden.

Finden sie’s jetzt schnell,

fährt Mami gleich zur Höll’.

Die anderen standen stumm und regungslos da, wussten nicht, was sie sagen sollten, und versuchten zu begreifen, was sie da eben gehört hatten. Von einer Sekunde zur anderen wirkte der Raum kalt und finster.

Als hätte er wie ein Raubtier draußen auf der Lauer gelegen, füllte auf einmal die massige Gestalt eines Mannes die Türöffnung. Er stellte sich als Detective Superintendent George Lumley vor und zeigte Robert kurz seine Dienstmarke. Drei weitere Polizeibeamte, darunter eine Frau, tauchten hinter ihm auf.

Dann ging alles ganz schnell, auch wenn später keiner von ihnen mehr zu sagen gewusst hätte, wie lange das Ganze eigentlich gedauert hatte oder wann er zuletzt etwas gegessen hatte oder geschlafen hatte oder zu Hause gewesen war – so weit hatten sie sich von ihrem normalen Leben entfernt.

Zunächst einmal brachte man Robert, Louisa, Ruby und Sarah in die winzige Küche, wo sie mit der Polizistin warten mussten. Aus dem Wohnzimmer drangen Wortfetzen wie Trommelfeuer, die meisten davon knappe Fragen von Lumley.

»Es ist schon eine ganze Weile her, Cheryl«, sagte er, ein wenig verärgert darüber, dass seine Gegenwart offenbar so wenig Eindruck auf die Frau machte. Erst nach einem eingehenden, zeitraubenden Verhör bekamen sie etwas aus ihr heraus und sie gab – wieder mit Hilfe eines eigenartigen Singsangs – zu, das Baby, das auf ihrem Schoß lag, entführt zu haben.

Schließlich traf ein Krankenwagen ein. Die Sanitäter untersuchten das Kind, bevor sie es ins Krankenhaus brachten, wo seine verzweifelte Mutter, die sofort zur Polizei gelaufen war, sehnsüchtig wartete.

Bald war das kleine Reihenhaus erfüllt vom Quäken des Polizeifunks, den neugierigen Blicken der Nachbarn, die sich vor der Tür drängten, und dem geschäftigen Kommen und Gehen der Polizisten. Und über allem lag der Hauch des Todes.

Als es im Wohnzimmer endlich ruhiger wurde, zwängte sich George Lumley Cheryl gegenüber in einen Sessel und machte sich auf das Geständnis gefasst, auf das er dreizehn Jahre lang gewartet hatte. Er wollte es weder als Lied noch als Gedicht hören, sondern in einfachen, deutlichen Worten.

»Mrs Varney«, begann er und holte noch einmal tief Luft. »Haben Sie Ihre Tochter Natasha am Samstag, den vierten Januar 1992, getötet?«

Die Polizistin öffnete ein paar Schränke und ließ Wasser in den Kessel laufen.

»Wir könnten uns eigentlich einen Tee machen«, sagte sie. Niemand antwortete.

»Dad, was ist denn bloß los?« Ruby rutschte mit ihrem Stuhl näher an Robert heran. Jetzt war er also wieder Dad, dachte er. Ein gutes Zeichen.

»Sagen wir, ich habe einen Fehler gemacht. Einen riesengroßen, schrecklichen Fehler.« Als er Rubys Hand nahm, spürte er, wie Louisa ihn mit kaltem Blick musterte. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. Ihre Wangenknochen waren weiß, die Wangen selbst merklich eingesunken. Sie sah aus, als wüsste sie etwas, was ihm unbekannt war.

»Ja«, antwortete sie geistesabwesend. »Mir geht’s gut.«

Es war schon dunkel, als DS Lumley den Befehl gab, den Garten zu durchsuchen. Entlang der Grenze des langen, schmalen Grundstücks wurden Scheinwerfer aufgestellt, die das gesamte Gelände in gleißendes Licht tauchten. Beladen mit Planen, Schaufeln und Kameras trampelten die Polizisten durchs ganze Haus, zur Vordertür hinein und zur Hintertür wieder hinaus. Bald darauf traf das Forensikteam mit Metallkoffern voller Präzisionsinstrumente und anderer High-Tech-Ausrüstung ein. Alle warteten gespannt darauf, was sie zutage fördern würden.

Einzeln holte man Robert, Louisa, Ruby und Sarah ins Wohnzimmer, wo sie gegenüber DS Lumley ihre Aussagen machen mussten. Als Robert an der Reihe war, stellte er fest, dass man Cheryl fortgebracht hatte. Nur ihr grässliches Lied schien noch zwischen den Wänden widerzuhallen. Die Polizeibeamtin setzte sich Robert gegenüber, und Lumley nahm seine Auskünfte über Cheryl Varney mit Interesse zur Kenntnis.

»Und von alldem hat sie gesprochen, als sie Ihnen aus der Hand las?« Lumley machte eine vage Handbewegung, um anzudeuten, dass er die gesamte Situation meinte. Sein Ton war unangemessen spöttisch, sein Grinsen eine Spur zu höhnisch.

»Ein paar Dinge, die sie sagte, haben tatsächlich Eindruck auf mich gemacht. Aber, wie ich bereits erwähnte, bin ich gar nicht wegen der Wahrsagerei zu ihr gegangen, sondern weil ich glaubte, ich hätte ihre vermisste Tochter gefunden.«

»Lassen Sie mich das noch einmal zusammenfassen.« Das Grinsen verschwand und wich einer grimmigen Miene. Schuld daran waren Lumleys angespannter Kiefer, die zu Schlitzen verengten Augen und die rot geäderten Wangen eines Mannes, der zu viel trank. »Aufgrund gewisser Umstände waren Sie zu der Überzeugung gelangt, dass Ihre Stieftochter in Wahrheit das entführte Kind von Cheryl Varney ist?«

»Ja.«

»Nachdem Sie die Eltern Ihrer Frau, Mr und Mrs Wystrach, ausfindig gemacht hatten, teilten diese Ihnen mit, dass ihre Tochter ein Kind entführt –«

»Nein«, unterbrach ihn Robert. »Sie zeigten mir Zeitungs­berichte, wonach ihre verschwundene Tochter seinerzeit im Zusammenhang mit dem Entführungsfall Varney verdächtigt wurde. Es geschah nämlich am selben Tag. Sie, das heißt, die Polizei, suchten damals nach der Ausreißerin Ruth Wystrach, meiner jetzigen Frau Erin. Und meine Frau hat eine Tochter im selben Alter wie Cheryls Kind. Jetzt brauchen Sie nur noch zwei und zwei zusammenzuzählen, Superintendent.«

»Mache ich.« Lumley schluckte und fuhr dann fort: »Es bestand tatsächlich Grund zu der Annahme, dass der vermisste Teenager mit der Entführung zu tun hatte. Ein Mädchen, auf das die Beschreibung passte, wurde gesehen, wie es mit einem Baby über genau den Parkplatz lief, auf dem Cheryl Varney ihr Kind unbeaufsichtigt im Auto gelassen hatte.« Erneut machte er eine Pause. »Aber es gibt Hinweise darauf, dass es sich bei dem Baby auf dem Arm des Mädchens nicht um Cheryls Tochter handelte.«

Robert wurde unsicher. Vielleicht hatte der Detective recht. Offenbar hatte er Louisas Kopfschütteln nach ihrem Gespräch mit James Hammond missverstanden. Ruby war wohl doch Erins leibliche Tochter. Die Identität von Rubys Vater dagegen war nach wie vor unbekannt und würde vielleicht für immer ein Geheimnis bleiben. Doch für Robert machte das keinen Unterschied. Er würde sie lieben, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut. Als wäre ihr gesamtes Leben, die Vergangenheit und die Gegenwart, in seine Hände gelegt.

»Verraten Sie mir eines, Mr Knight. Sie sind doch Anwalt, ein vernünftiger, gerechter Mann mit klarem Urteilsvermögen. Einer, der die Wahrheit erkennt, wenn er sie vor Augen hat.« DS Lumley nahm der Polizistin Stift und Notizblock aus der Hand und legte beides auf den Tisch. »Jetzt mal nicht fürs Protokoll: Was hat Sie eigentlich auf die Idee gebracht, dass Ihre Frau eine Verbrecherin sein könnte?«

Müde beugte sich Robert vornüber und stützte die Ellbogen auf die Knie. Er starrte DS Lumley an.

»Ganz ehrlich?«, fragte Robert und zog die Augenbrauen hoch. »Es war die Angst, sie zu verlieren.«

In diesem Augenblick rannte ein junger Constable an ihnen vorüber und zur Vordertür hinaus. Er hielt die Hand vor den Mund gepresst, sein Gesicht war aschfahl.

»Ich glaube, ich werde gebraucht«, seufzte Lumley und erhob sich. »Bleiben Sie bei Ihrer Frau, Mr Knight. Von zu Hause wegzulaufen ist doch kein Verbrechen. Jemandem mit seinem Misstrauen zu verfolgen sollte dagegen eigentlich strafbar sein.«

Um 2.25 Uhr morgens tat sich endlich etwas.

Nachdem Ruby es aufgegeben hatte, Robert mit Fragen zu löchern, auf die er keine Antwort wusste, war sie schließlich eingeschlafen.

Sarah hatte man mit ihrem Bruder nach Hause geschickt. Zum Abschied hatte sie Robert mit bleichen Lippen und müden Augen zugelächelt.

»Rob«, begann Louisa. Sie saßen noch immer in dem kleinen Wohnzimmer, hofften jedoch, jeden Augenblick von DS Lumley entlassen zu werden. Er war nach wie vor im Garten beschäftigt, den außer der Polizei niemand betreten durfte.

»Ja?« Robert gähnte. Er fragte sich, wie er sich auf der Rückfahrt nach London wach halten sollte. Rubys Kopf lag auf seinen Knien.

»Es gibt etwas, das ich dir sagen sollte.« Auch Louisa war die Erschöpfung deutlich anzumerken. Ihre Augen wirkten trübe, und ihr Haar hatte seinen natürlichen Schimmer verloren. Vor Schlafmangel fröstelnd hatte sie sich Roberts Jacke übergehängt. Sie starrte über seine Schulter hinweg; offensichtlich suchte sie die richtigen Worte.

Zwei Polizisten mit weißen Schutzanzügen, Mundschutz und Handschuhen gingen an ihnen vorbei durchs Zimmer. Sie trugen einen Metallkasten von der Größe eines kleinen Koffers. Ihre Augen waren ausdruckslos.

Der Kasten, unter dessen Deckel ein Zipfel Klarsichtfolie hervorsah, trug die Aufschrift »Polizeieigentum«. DS Lumley folgte den beiden Beamten. Wenige Minuten später fuhr ein Polizeiwagen mit Blaulicht, doch ohne Martinshorn davon. DS Lumley trat wieder ins Haus und wandte sich an Robert.

»Sie können jetzt gehen, aber halten Sie sich in den nächsten Tagen bitte für weitere Aussagen zur Verfügung.« Der Superintendent wirkte mitgenommen, sein Gesicht unter dem grauen Haar zeigte tiefe Furchen. Dreizehn lange Jahre …

Bevor Robert zur Tür ging, fragte er zögernd: »War das …?«

»Es war Natasha«, sagte Lumley feierlich, als könne der Name den sterblichen Überresten nach all der Zeit noch eine Identität verleihen. »Sie lag in einem Korb, der tief unten im Brunnenschacht hing. Nach Ansicht der Forensiker wurde sie stranguliert. Eine erste Untersuchung ergab, dass mindestens drei Halswirbel gebrochen waren.«

Robert senkte den Kopf und tastete nach Louisas Hand, bemüht, die Bilder, die sich ihm aufdrängten, gleich wieder zu verbannen. Lumley beantwortete seine unausgesprochene Frage: »Wir hatten von Anfang an Cheryl in Verdacht. Daraufhin durchsuchten wir damals den Garten, fanden jedoch nichts außer einer toten Katze, die man dort begraben hatte. Die Platte, die auf dem Brunnenschacht lag, war derart von Gras und Unkraut überwuchert, dass man sie nicht sehen konnte. Außerdem besaßen wir ja nur vage Anhaltspunkte.«

Lumley richtete sich auf, als müsste er sich gegen Vorwürfe wappnen. Doch das Baby war damals schon tot gewesen. Sie hätten es auf keinen Fall retten können. »Cheryl plädiert bereits auf Unzurechnungsfähigkeit. Sie sagt, ihre postnatale Depression sei weder erkannt noch behandelt worden.«

»Gehen wir«, sagte Robert. Er musste hier raus. Bevor Ruby überhaupt richtig wach war, hatte er sie schon auf die Füße gestellt und bugsierte sie zum Auto. »Was wolltest du mir eben sagen?«, fragte er Louisa, während sie die kleine Straße hinunterfuhren.

Louisa warf einen Blick nach hinten zur Rückbank, wo sich Ruby mit den Kopfhörern in den (ihren zusammengerollt hatte. »Ach nichts«, sagte sie und legte Robert leicht die Hand auf den Arm. »War nicht so wichtig.«

Bald fuhren sie auf der M1 in Richtung Süden. Robert hielt den Blick auf die Straße gerichtet, nur ab und an warf er einen verstohlenen Blick zur Seite, um zu sehen, ob Louisa eingeschlafen war. Doch sie blickte die ganze Zeit unbeweglich und schweigend hinaus in die Nacht.