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D
en ganzen Abend saß Robert allein im Wohnzimmer, seinen Laptop auf den Knien und die Akte eines Mandanten aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch. Er versuchte zu arbeiten, doch er konnte an nichts anderes denken als an seine verzweifelte Stieftochter und natürlich an Erin – die Frau, die an dieser Verzweiflung schuld war.
Über den Fernsehbildschirm flackerten Bilder ohne Ton und warfen bunte Lichtreflexe auf die Wände. Robert starrte mit leeren Augen auf die blassgelb gestrichene Wand, warf hin und wieder einen Blick auf die herzzerreißenden Briefe, die die Frau seines Mandanten geschrieben hatte, und wartete mit wachsender Ungeduld darauf, dass Erin nach Hause kam.
Er hatte sie auf ihrem Mobiltelefon angerufen, doch nur die Mailbox erreicht. Sie hielt sich bei keiner ihrer Freundinnen auf, und falls sie in ihrem Laden war, würde sie nicht ans Telefon gehen. Als Ruby endlich wieder in der Lage gewesen war zu sprechen, konnte sie ihm auch nicht sagen, wohin ihre Mutter gegangen war.
Erst als der verregnete Nachmittag in den Abend überging, hatte sich das Mädchen einigermaßen erholt. Die ganze Zeit über war Robert nicht von ihrer Seite gewichen. Er hatte ihr über den steifen Rücken gerubbelt, sie in eine warme Decke eingepackt und ihr einen Becher heißen Tee an die Lippen gehalten. Er hatte nicht zu fragen brauchen, was los war. Das wusste er auch so.
Robert zog die Schuhe aus und legte die Beine aufs Sofa. Er fühlte sich erschöpft – von seinem wilden, rücksichtslosen Squashspiel, dem Trinken am frühen Nachmittag, von Erins unverhofftem Sinneswandel, aber vor allem von seinem schlechten Gewissen. Er hätte bei Ruby bleiben müssen.
Er deckte sich mit einer Felldecke zu. Normalerweise war er durchaus fit und stolz auf seinen ansehnlichen, sportlichen Körper, dem man die achtunddreißig Jahre nicht ansah. Besonders freute er sich über Erins anerkennende Blicke, wenn er sich abends auszog. Heute jedoch fühlte er sich zehn Jahre älter.
Immer wieder stellte er sich Rubys Gesicht vor, in dem Moment, als ihre Mutter ihr sagte, dass sie nicht aufs Greywood College gehen dürfe. Er liebte Ruby ebenso sehr wie Erin, in Augenblicken wie diesem sogar noch mehr. Es war so schwer, Ruby ein Vater zu sein und dabei zu wissen, dass er eben doch nicht ihr richtiger Vater war! Wenn sie seine leibliche Tochter gewesen wäre, hätte er dem Unfug längst ein Ende gemacht. Dann hätte sich Erin fügen müssen. Robert hätte gern gewusst, ob er wohl eines Tages Rubys richtiger Vater sein würde – mit allen Rechten und Pflichten.
Er musste eingenickt sein, doch als die Haustür aufgeschlossen wurde, schreckte er hoch, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Erin stand in der Wohnzimmertür. Selbst im Halbdunkel des Zimmers erkannte Robert, dass sie vollkommen durchnässt war. Als sie das Licht einschaltete, sah er, dass sie achtlos einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Die vielfarbigen Blüten baumelten neben ihrem Knie.
»Für Ruby«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und hob die Hand.
»Das wird ihr bestimmt ein großer Trost sein«, erwiderte Robert sarkastisch und stand auf. Er ging in die Küche und knallte den Deckel des Wasserkessels auf die Arbeitsplatte. »Kaffee? Das ist dir bestimmt ein großer Trost.« Erin war Robert in die Küche gefolgt und stand jetzt hinter ihm. Er roch ihr regenfeuchtes Haar und den schwachen Duft der Sommerblumen.
»Ich hab’s ihr nicht gesagt«, sagte Erin.
Die Kaffeedose in der Hand drehte sich Robert langsam um und starrte seine Frau an. Ihr blondes Haar war dunkel vor Nässe, und die verlaufene Wimperntusche bildete schwarze Ränder unter ihren Augen. Sie hatte geweint. Er löffelte den löslichen Kaffee in zwei Becher und goss ihn mit dem Wasser auf, noch bevor es richtig kochte.
»Ich habe es ihr nicht gesagt, weil sie es schon wusste«, fügte Erin hinzu.
Robert setzte sich Erin am Küchentisch gegenüber. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und die Füße hinter den Stuhlbeinen verhakt. Obgleich sie die Bewegung zu unterdrücken versuchte, bemerkte er das Beben ihrer Schultern. Er wartete darauf, dass sie weitersprach.
»Sie hat unser Gespräch heute Morgen mitbekommen.« Erin seufzte und fuhr mit dem Finger an einem Sprung in ihrem Becher entlang. »Es war ein schwerer Tag für sie.«
Robert schnaubte nur und schüttelte den Kopf. »Weißt du überhaupt, dass sie heute zum ersten Mal ihre Periode bekommen hat?«
Erin vergrub das Gesicht in den Händen. »Und ich war nicht bei ihr …«
Das Gleiche hätte Robert sagen können, doch das wollte er Erin gegenüber nicht eingestehen. Außerdem spürte er, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Obwohl er als Anwalt daran gewöhnt war, nur Fakten gelten zu lassen, konnte er seinem Gefühl normalerweise trauen.
Erin war seine Frau. Bei ihrer Hochzeit im April hatten sie sich Treue und Aufrichtigkeit geschworen. Sie war doch sonst so vernünftig und praktisch veranlagt. Warum tat sie ihrer Tochter so etwas an? Für Ruby war die Musik das Wichtigste im Leben. Nur wenn sie aufs Greywood College ging, konnte sie ihrer Neigung folgen und gleichzeitig ihren dummen Klassenkameraden entkommen. Das Klavierspiel gehörte ebenso zu ihr wie die Farbe ihres Haares oder die leicht schräg stehenden Augen. Und jetzt hatte ihre Mutter all ihre Hoffnungen zerstört. Robert konnte diese Vorstellung nur schwer ertragen.
Wieder seufzte Erin, senkte erneut den Kopf. »Heute Morgen kam sie zu mir und sagte: ›Ich weiß, dass ich nicht nach Greywood gehen darf.‹ Einfach so. Ich wollte mit ihr darüber reden, aber sie machte einen ganz normalen Eindruck. Sie ist sogar für mich in den Laden gegangen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie …« Erin schluchzte leise und schuldbewusst. Wie auch immer es weitergehen mochte, für ihre Tochter hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen.
Wütend sah Robert zu, wie seine Frau die Küche aufräumte, als wollte sie jedem weiteren Gespräch über Ruby aus dem Weg gehen. Offenbar war es ihr wichtiger, die Wäsche ordentlich zu falten und die Sockenpaare zusammenzusuchen, als sich um ihre Tochter zu kümmern, die sich oben in ihrem Zimmer in den Schlaf weinte.
Um halb zwei gingen Robert und Erin schlafen. Nachdem er im Bad gewesen war, schaute Robert noch einmal nach Ruby. Sie lag auf der Seite, einen alten, abgenutzten Stoffhasen im Arm, und schnaufte ein wenig im Traum. Robert wünschte, er könnte ihr den Albdruck nehmen und ihr alle Wünsche erfüllen. Er hauchte einen leichten Kuss auf ihre Wange und ging ins Bett.
Nach einem kurzen, unruhigen Schlaf sah Robert nur zu bald, wie die Morgendämmerung den Himmel orangerosa färbte. Ihm wurde das Herz schwer, als ihm einfiel, dass Montagmorgen war.
»Schick sie bitte heute noch nicht wieder in die alte Schule.« Robert rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Es fiel ihm schwer, jemanden um etwas zu bitten. Er drehte sich zu Erin um und fuhr fort: »Ruby kann erst mal mit mir in die Kanzlei kommen.«
Zu seiner Überraschung nickte Erin. »Ich rufe in Greywood an und erkläre ihnen die Situation.«
»Das erledige ich schon. Ich werde vom Büro aus anrufen.« Erin widersprach nicht. Sie war offenbar nur allzu froh, dass er das Gespräch mit der Schulleiterin übernehmen wollte.
Bevor Robert aufstand, starrte er für eine Weile an die Decke. Konnte er sich jetzt zum ersten Mal als richtiger Vater beweisen? Er schaute zu Erin hinüber, die sich gerade einen cremefarbenen seidenen Morgenrock überzog, und dachte: Oder beweise ich so zum ersten Mal Misstrauen?
Eine halbe Stunde später kam Ruby zu Robert und Erin in die Küche. Sie trug ihre alte Schuluniform, hatte sich mit Make-up, Wimpertusche und Lipgloss geschminkt und sich das Haar mit einem blauen Tuch zu einem Pferdeschwanz gebunden. Zu Roberts Erstaunen lächelte sie.
»Morgen«, sagte sie, ließ ihre Schultasche fallen, riss die Kühlschranktür auf und holte Saft und Eier heraus. »Ich hab einen Riesenhunger«, setzte sie hinzu. »Ihr braucht mich heute nicht zu fahren. Ich bin früh genug dran für den Bus.«
Robert beobachtete sie genau. War das Lächeln wirklich echt? Klang ihre Stimme nicht ein wenig verhalten? Sie schluckte mehrfach – vor lauter Angst? Und blinzelte sie vielleicht aufsteigende Tränen fort? Er ging zu ihr hinüber und wollte sie tröstend in die Arme nehmen.
Ruby duckte sich und wich ihm aus. Sie holte eine Pfanne aus dem Schrank, schlug drei Eier auf und ließ sie in die Pfanne gleiten. Robert musste sich zusammennehmen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihre Zurückweisung seinen Stolz verletzte. Es war geradezu lachhaft, dass ihn dieses Mädchen so zu kränken vermochte.
Während er zusah, wie Ruby die Eierschalen in den Abfalleimer warf, dachte er: Womöglich möchte sie in Wahrheit am liebsten weiter auf ihre alte Schule gehen. Vielleicht hatte Erin recht damit, dass Weglaufen am Ende nur neue Probleme brachte. Was wusste er schon? Er war noch nie zuvor mit Erziehungsproblemen konfrontiert gewesen. Allerdings hatte er die bittere Erfahrung gemacht, dass seine Ängste nur noch größer wurden, wenn er sich ihnen stellte, bis sie am Ende so übermächtig waren, dass sie das Liebste, was er besaß, zerstörten.
Seufzend drehte sich Robert um, lehnte sich ans Spülbecken und schaute in den Garten hinaus. Er war auf der Suche nach Argumenten, mit denen er Erin noch umstimmen konnte, doch gegen seinen Willen gingen seine Gedanken immer wieder zu Jenna zurück. Er sah ihr Bild draußen in seinem Garten, zart und flüchtig wie ein Chiffontuch im Wind. Mit wehendem Haar und einem strahlenden Lächeln stand sie dort unter der Weide. Dann bückte sie sich und zupfte ein Unkrauthälmchen aus.
Was willst du?, fragte er sie in Gedanken. Du gehörst nicht hierher.
Er hasste Jenna, weil sie ihm das antat. Und er hasste sich selbst noch mehr, weil er es zuließ. War seine Trauer denn noch immer so groß? Hatte er sich vor lauter Schuldgefühlen noch immer nicht mit dem Verlust abgefunden?
Der Montagmorgen nahm seinen gewohnten Verlauf, als wenn nichts geschehen wäre. Der Wasserkessel dampfte, Robert blätterte die Zeitung durch, und in der Diele fiel raschelnd die Post auf die Fußmatte. Ruby machte sich ihr Frühstück und fluchte leise, als ein Eigelb in der Pfanne zerlief. Erin sagte gar nichts. Mit leicht geöffnetem Mund und halb geschlossenen Augen stand sie da und beobachtete, wie ihre Tochter das Essen in sich hineinschaufelte. Sie sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Jetzt könntest du noch alles wiedergutmachen, dachte Robert. Aber Erin rührte sich nicht.
Da stieß Robert einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Ich gehe duschen. Und danach muss ich zur Arbeit.« Während er nach oben lief und dabei immer zwei Treppenstufen auf einmal nahm, tauchte so plötzlich ein beunruhigendes Bild vor seinem inneren Auge auf, dass er stolperte und sich am Geländer festhalten musste. Als wären die ständigen unwillkommenen Erinnerungen an seine erste Frau nicht schon schlimm genug, sah er auf einmal vor sich, wie zwei schluchzende Kinder aus den Armen ihrer Mutter gerissen wurden. Der Bowman-Fall.
Im ersten Gang steuerte Robert den Wagen durch den dichten Verkehr und trommelte dabei mit den Fingern aufs Lenkrad. Ruby neben ihm wirkte vollkommen ruhig und gefasst.
»Deine Mutter wird wütend sein«, sagte er. Doch als er den schelmischen Blick bemerkte, den Ruby ihm von der Seite zuwarf, und sah, wie ihre Augen vor Freude und Aufregung funkelten, wusste er, dass er das Richtige tat. Ruby nickte schweigend, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ursprünglich hatte sie darauf bestanden, mit dem Bus zur Schule zu fahren, auch wenn das bedeutete, dass sie sich zwanzig Minuten lang von den anderen Kindern anpöbeln lassen musste, noch bevor der langweilige Schultag richtig losging und überforderte junge Lehrkräfte versuchten, mit renitenten Klassen zurechtzukommen. Doch nach vielem Hin und Her war Ruby einverstanden gewesen, dass Robert sie in seinem Wagen mitnahm. Allerdings nur unter der Bedingung, dass er sie außer Sichtweite der Schule absetzte. Wenn die anderen sahen, dass sie in einem nagelneuen Mercedes-Cabrio zur Schule gebracht wurde, hätte sie nur noch mehr Ärger bekommen.
Als sich Robert vorstellte, dass sich Rubys Mitschüler wie knurrende Bestien auf sie stürzen würden, war sein Entschluss gefasst. Heimlich packte er Rubys neue Schuluniform in den Kofferraum, dazu ihre Sportsachen und noch ein paar andere Dinge, die sie in der neuen Schule vielleicht brauchen konnte.
Robert machte eine Vollbremsung. »Himmel!«, rief er. »Das war knapp.«
»Du brauchst keinen Unfall zu bauen, um mich von der Schule fernzuhalten. Mum sagt schließlich, wir dürfen nicht länger weglaufen.« Ruby zwinkerte ihm zu. Zum Glück hatte sie ihren Sinn für Humor nicht verloren.
»Aber das ist doch nicht deine Meinung, oder?« Robert streichelte Rubys Hand. Er wollte, dass sie ihm vertraute und sich auf ihn verließ. Die Autoschlange setzte sich erneut in Bewegung. »Wenn deine Mutter uns auf die Schliche kommt, nehme ich die Schuld auf mich.«
Ruby nickte und schluckte schwer. »Sie wird ausflippen. Ganz bestimmt. Wenn Mum nein sagt, dann heißt das auch nein. Egal, ob sie gute Gründe dafür hat oder nicht.«
Genau das ist der springende Punkt, dachte Robert. Sie hat eben keinen guten Grund. Er hielt an einer Tankstelle. »Du ziehst dich hier besser schnell um. Schließlich willst du doch nicht schon am ersten Tag zu spät kommen.« Sie lächelten einander zu wie zwei Verschwörer – Vater und Tochter.
Robert begleitete Ruby bis zur Tür der Damentoilette und trug dabei die Tasche mit der neuen Uniform. Während sie sich umzog, tankte er und kaufte eine von den Taschenlampen, die es gerade im Sonderangebot gab. Abfällig betrachtete er die traurigen überteuerten Chrysanthemensträuße, die in Eimern mit viel zu wenig Wasser vor sich hin welkten. In Erins Geschäft gab es nur schöne frische, geschmackvoll gebundene Schnittblumen und nicht solch ein tristes Zeug. Er strich leicht mit den Fingern über die schlappen, farblosen Blütenblätter. Kurz darauf kam Ruby bereits aus dem Toilettenraum. Sie war ein völlig neues Mädchen.
»Komm mal her«, sagte Robert lachend, »du hast noch das Preisschild am Kragen.« Er zupfte das Schildchen von dem grau und grün gemusterten Pullover und bürstete ihr mit der Hand ein paar Flusen von der Schulter. »Verdammt schick«, sagte er und warf der Verkäuferin, die sie anglotzte und dabei mit offenem Mund Kaugummi kaute, einen unfreundlichen Blick zu.
»Aber Dad«, kicherte Ruby, »du sollst doch nicht fluchen.«
Jedes Mal, wenn Ruby ihn Dad nannte – was selten vorkam –, wurde ihm ganz warm ums Herz. Meistens sagte sie Robert zu ihm. Wenn ihm seine Frau doch auch ein wenig mehr vertrauen würde …
Robert scheuchte Ruby ins Auto, und sie schoben sich durch den dichten Verkehr bis zum Greywood College. Als sie vor dem eindrucksvollen Gebäude hielten, sagte er: »Heute Abend habe ich eine tolle Überraschung für dich und deine Mutter. Etwas, worüber ihr euch bestimmt riesig freut.« Er würde sich schon etwas einfallen lassen.
»Ach, Daaad«, antwortete Ruby gedehnt und grinste. Sie schlug die Wagentür zu und hüpfte die Treppe zu der prächtigen Eingangstür hinauf. Mit einem dicken Kloß im Hals blickte Robert ihr nach und fragte sich gleichzeitig, wie er seiner Frau beibringen sollte, dass er sich über ihren Willen hinweggesetzt hatte. Und dann musste er sich auch noch eine Überraschung ausdenken.