18

I

n dieser Nacht schlief Robert vollständig bekleidet auf Rubys Bett. Als er erwachte, schmerzte sein Nacken und seine Beine waren völlig verkrampft. Er blinzelte benommen in die Morgensonne und brauchte einige Sekunden, bis ihm wieder einfiel, dass Erin und Ruby nicht mehr da waren.

Als er sich aufsetzte, wurde ihm übel. Dens Cognac vom Vorabend im Zusammenspiel mit Tulas üppigem Essen und dem Schock schlugen ihm auf den Magen. Betont ruhig ging Robert unter die Dusche, zog sich frische Sachen an und trank etliche Tassen schwarzen Kaffee. Dabei überlegte er die ganze Zeit, was er machen sollte. Er rief Den zu Hause an, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Jetzt, um halb acht, schlief Den bestimmt noch, und vor halb zehn würde er sich nicht im Büro blicken lassen. Robert hinterließ seinem Partner eine kurze Nachricht, dass er sich den Tag freinahm. Dann sprach er auf Tanyas Mailbox und bat sie, seine gesamten Termine abzusagen.

Danach rief er Louisa an. Nach dem zweiten Klingeln ging sie an den Apparat. Ihre Stimme klang munter und ein wenig atemlos.

»Ich bin gerade reingekommen«, sagte sie. »Ich war im Fitnessraum des Hotels. Bei dem Regen hatte ich keine Lust zu laufen.«

Robert sah aus dem Fenster. Die dicken Tropfen eines Sommerschauers klatschten gegen die Scheiben. Es gab ihm einen Stich, als er daran dachte, dass Erin und Ruby jetzt vielleicht draußen unterwegs waren.

»Du bist eine Powerfrau, Louisa.« Er wartete, aber es kam keine Antwort. Vielleicht konnte sie ja hören, unter welchem Druck er stand. Wie einer von diesen Lügendetektoren, die auf die Stimme reagierten. »Es ist etwas passiert«, gab er schließlich zu.

»Was denn?«

Sie schien an einem Getränk zu nippen. »Erin und Ruby haben mich verlassen.«

»Oh«, sagte sie und schluckte. »Das ist schlecht.«

»Kommst du her?« Robert ärgerte sich, dass seine Stimme so flehend klang, denn er wollte Louisa gegenüber auf keinen Fall Schwäche zeigen. Er fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn, was ihn daran erinnerte, dass er sich unbedingt rasieren musste. Warum war es ihm so wichtig, was Louisa von ihm hielt?

Schließlich war er ein verheirateter Mann. Den seine Frau soeben verlassen hatte.

Resigniert fuhr er fort: »Ich möchte, dass du dich so bald wie möglich mit dem Fall befasst. Ich will wissen, wohin Erin und Ruby gegangen sind und was es mit Erins Vergangenheit auf sich hat. Wenn ich selbst Nachforschungen anstelle, schieße ich nur wieder über das Ziel hinaus und mache alles noch schlimmer, als es schon ist. Ich brauche unbedingt deine Hilfe, Louisa.«

»Lass mir eine halbe Stunde Zeit. Ich bringe meinen Laptop mit, denn bis dahin habe ich bestimmt schon Nachricht wegen der Geburtsurkunde.« Jetzt kaute sie etwas.

»Das ging aber schnell.« Robert goss sich noch einen Kaffee ein. Er wünschte, er würde ebenso viel Disziplin aufbringen wie Louisa.

»Es war kein großer Aufwand. Weißt du, Robert, ich glaube, wir sollten nichts weiter unternehmen. Wenn wir Rubys Geburtsurkunde haben und Erin ganz kleinlaut wieder zurückkommt, dann gibst du ihr einfach einen Kuss und …«

»So einfach geht das wohl nicht.«

»Schau mal, ich weiß natürlich nicht, wohin die beiden gegangen sind, aber ich kann dir zumindest ein paar Fakten liefern. Dann wirst du sehen, dass alles gar nicht so schlimm ist.« Robert wollte etwas sagen, aber Louisa ließ ihn nicht zu Wort kommen. »In einer halben Stunde bin ich bei dir«, sagte sie und legte auf. Er seufzte. Sie verhielt sich noch immer mehr wie eine Freundin statt wie eine professionelle Detektivin.

Trotz Louisas tröstlichen Worten fühlte Robert, wie sich in ihm ein altbekanntes Gefühl regte, das seit Jennas Tod in seinem Unterbewusstsein geschlummert hatte. Nun erhob sich dieses Gemisch aus Zorn. Argwohn und Besessenheit wie ein Phönix aus der Asche und ergriff erneut von ihm Besitz. Es kam ihm so vor, als sei Jenna zurückgekehrt und würde ihn zwingen, die ganze Qual noch einmal zu durchleben. Vielleicht wollte sie ihm ja die Chance geben, es diesmal besser zu machen.

Auf dem Weg die Treppe hinauf in Erins Arbeitszimmer nahm Robert immer zwei Stufen auf einmal. Er wollte Erins Kassette holen, um sich die Briefe von Baxter King noch einmal genauer anzusehen. Aber sie waren nicht mehr da. Erin hatte sie mitgenommen.

Wahrend er auf Louisa wartete, durchforstete Robert erneut Erins Computerdateien, fand jedoch nichts Außergewöhnliches. Er blätterte in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, doch das meiste war nur Papierkram für den Laden. Ob Erin ihn wohl wie gewöhnlich öffnen würde? Und was war mit Rubys Schule? Er konnte nur hoffen, dass das Leben zumindest für Ruby so normal wie möglich weiterging, und nahm sich vor, zum Blumenladen zu fahren, sobald Louisa an die Arbeit gegangen war.

Vierzig Minuten später war Louisa noch immer nicht da und Robert hatte Erins gesamtes Büro erfolglos durchstöbert. Er ging über den Treppenabsatz zu Rubys Zimmer. Betrübt blickte er sich in dem leeren Raum um und ließ sich dann auf das Bett fallen. In der Luft hing noch ein Hauch von Rubys süßlich duftendem Deospray. »Erin, Erin«, seufzte er und rieb sich die müden Augen. Er musste lächeln, als sein Blick auf die Poster von Rockstars, Schauspielern und niedlichen Tierkindern fiel, mit denen Ruby die Wände verziert hatte. Das bunte Sammelsurium verriet, dass sie sich auf der Schwelle zwischen einem kleinen Mädchen und einer jungen Frau befand.

Robert starrte nach oben. Von diesem Blickwinkel aus hatte er das Gewirr von glitzernden und funkelnden Mobiles noch nie betrachtet, die Ruby an der Decke aufgehängt hatte. Ein paar von den Dingern hatten ihm immer im Weg gehangen, wenn er Ruby gute Nacht sagte. Doch erst vom Bett aus konnte er erkennen, warum sie Ruby so gut gefielen. Sie waren wirklich zauberhaft und entführten den Betrachter – vielleicht in die Traumwelt, in die Ruby sich immer wieder zurückzog.

Ein Mobile fiel Robert besonders ins Auge. Es bestand aus etwa zwanzig oder dreißig Quarzbröckchen, die wie ein altmodischer Kronleuchter über dem Bett baumelten. In der Mitte, sodass man es von der Seite aus nicht sehen konnte, hing etwas Ovales aus mattem Gold. Wie eine reife Frucht, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden.

Robert stand auf und besah sich das Ding näher. Es war ein großes Medaillon aus billigem Rotgold, das an einer Kette hing und offensichtlich nicht zum Mobile gehörte. Es war sicher erst später hinzugefügt worden.

Behutsam löste er die Kette, nahm das Medaillon in die Hand und bemerkte, dass es von einer Staubschicht und ein paar dünnen Spinnweben bedeckt war. Anscheinend hatte es lange niemand mehr angefasst. Es trug ein eingraviertes Muster auf der Vorderseite und hatte hinten einen Deckel, der an einer Seite mit einem kleinen Scharnier versehen war. Mit den Fingernägeln versuchte Robert, ihn zu öffnen. Da das Medaillon eine leichte Delle hatte, dauerte es eine Weile, bis der verklemmte Deckel nachgab. Drinnen befand sich das verblichene Schwarzweißtoto einer jungen Frau, deren akkurate Locken unter einer Pelzmütze hervorsahen. Um den Hals trug sie einen dicken Pelzkragen. Der Hintergrund war völlig verschwommen. Robert vermutete, dass das Foto aus den 1940er Jahren stammte, war sich aber nicht sicher. Auch das Alter der Frau konnte er nur schätzen. Sie war vermutlich nicht älter als fünfundzwanzig.

Robert löste das Foto aus dem Medaillon, wo es zweifellos seit vielen Jahrzehnten seinen Platz hatte. Auf der Rückseite stand etwas in einer altmodischen Handschrift. Er kniff die Augen zusammen, um die winzigen verblassten Buchstaben entziffern zu können.

»Babka Wystrach« murmelte er, nicht sicher, ob er den fremdartigen Namen richtig ausgesprochen hatte. Abermals warf er einen Blick auf die junge Frau. Ihr Lächeln wirkte nervös, ein Eindruck, der durch die kleine steile Falte zwischen ihren Brauen noch verstärkt wurde.

Robert schob das Bild wieder an seinen Platz und ließ den Deckel zuschnappen. Dann steckte er das Medaillon in die Hosentasche und ging hinunter. Bevor er im Greywood College anrief, hielt er am Fenster noch einmal nach Louisa Ausschau. Die Schulsekretärin teilte ihm mit, dass seine Tochter von der Lehrerin als abwesend gemeldet worden war. Er bat um Entschuldigung und erklärte, dass Ruby mit einem Magen-Darm-Virus zu Hause bleiben musste.

Nach dem Telefongespräch ließ er sich seufzend auf einen Küchenstuhl fallen. Während er die Nummer von »Floristik taufrisch« wählte, fiel sein Blick auf zwei schmutzige Teller und eine Kasserolle im Spülbecken – die Überreste von Erins und Rubys letztem Abendessen. Wenn er nicht so krankhaft misstrauisch gewesen wäre, befände sich Ruby jetzt in der Schule und Erin in ihrem Geschäft.

Im Laden meldete sich niemand. Er war also noch geschlossen. Ohne sich viel davon zu versprechen, wählte Robert anschließend zuerst Erins, dann Rubys Handynummer, wurde jedoch beide Male auf die Mailbox umgeleitet. Er hinterließ keine Nachricht.

»Meine Güte«, sagte Louisa, als sie in die Küche trat und ihren Laptop auf den Tisch stellte. Sie ließ ihren Blick über das schmutzige Geschirr und den überquellenden Mülleimer wandern. »Du solltest vielleicht eine Putzfrau einstellen.«

Robert ignorierte ihre Bemerkung und schenkte ihr einen Kaffee ein. Er wusste, dass sie keine Milch nahm. »Das hier habe ich heute Morgen in Rubys Zimmer gefunden. Es könnte uns vielleicht weiterhelfen.« Er schob ihr das Medaillon zusammen mit der Tasse über den Tisch zu.

»Hast du keinen Kräutertee? Vielleicht Pfefferminz oder Kamille?«

Robert schüttelte den Kopf, irritiert über ihre Sonderwünsche. »Mach das Medaillon mal auf. Da steht ein Name drin.«

»Eins nach dem anderen, Rob«, sagte sie bedächtig und neigte sich über ihren Laptop. »Gut …« Sie nagte an ihrer Unterlippe, während sie eine gerade eingetroffene E-Mail öffnete. »Das ist von der Agentur.« Robert stützte sich mit beiden Armen auf die Tischplatte, sah ihr mit angehaltenem Atem über die Schulter und las den Text so rasch er konnte mit.

»Die Suche war erfolglos. Was soll das heißen?« Im Grunde wusste er genau, was das bedeutete, doch er wollte es von Louisa hören.

»Damit habe ich nicht gerechnet«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Die haben sich bestimmt geirrt.«

Ein kurzer Anruf bei der Agentur ergab jedoch, dass sie Rubys Geburtsurkunde trotz aller Bemühungen nicht ausfindig machen konnten. Sie waren noch nicht einmal generell auf den Namen Ruby Lucas gestoßen. Louisa machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und du bist sicher, dass Ruby tatsächlich unter dem Namen Lucas registriert ist?«

»Ganz sicher«, erwiderte er und dachte daran, wie er Erin die Information mit viel Mühe entlockt hatte. Er zog sich einen Stuhl näher und setzte sich neben Louisa, sorgfältig darauf bedacht, mit seinem Knie nicht an ihr Bein zu kommen. Wie gebannt starrten sie auf den Monitor.

»Dann verstehe ich aber nicht –«, begann Louisa.

»Ist doch klar«, unterbrach Robert sie. »Erin hielt es nicht für nötig, die Geburt ihrer Tochter anzumelden, da das Kind bloß das Ergebnis einer schnellen, geschäftsmäßigen Nummer war. Vielleicht wollte sie Ruby ja sogar zur Adoption freigeben, hatte dann aber keine Lust auf den ganzen Papierkram.«

Louisa trank einen Schluck Kaffee. »Lass uns noch mal darüber nachdenken, Rob.« In diesem Augenblick klingelte ihr Mobiltelefon. Nach einem Blick auf das Display nahm sie den Anruf zögernd entgegen. »Hi«, sagte sie und lauschte dann. »Ich kann nicht. Bin bei der Arbeit.« Wieder hörte sie zu. »Mindestens noch ein paar Tage.« Sie holte so tief Luft, dass es fast wie ein Seufzen klang. »Ich weiß. Tut mir leid. Tschüss.« Sie klappte das Handy zu und nahm das Gespräch mit Robert wieder auf, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. »Wir müssen uns das gründlich durch den Kopf gehen lassen, Rob –«

»War das Willem?«

»Ja.« Die Antwort kam ein wenig widerstrebend.

»Du scheinst dich nicht besonders über seinen Anruf gefreut zu haben.«

»Er wollte, dass ich nach Hause komme.«

»Das ist nur verständlich.« Robert dachte daran, wie sehr er wünschte, dass Erin und Ruby wieder bei ihm wären.

»Es geht dir gar nicht mehr in erster Linie um die Geburtsurkunde, sondern um Erins zweifelhafte Vergangenheit, stimmt’s?« Louisa hatte offenbar keine Lust, über Willem zu reden.

Als Robert seine Beine ausstreckte, stieß er versehentlich gegen Louisas Oberschenkel. Sie trug eine schwarze Hose, die sich eng an ihre durchtrainierten Beine schmiegte und ein wenig hochgerutscht war, sodass Robert ihren Knöchel mit dem silbernen Fußkettchen sehen konnte.

»Ja«, antwortete er geistesabwesend. Im Augenblick war er mehr an dem Verhältnis zwischen Louisa und ihrem Mann interessiert. »Willst du denn nicht nach Hause?«

Louisa seufzte. »Ich bin bei der Arbeit. Für dich. Wenn ich diesen Auftrag erledigt habe, fahre ich nach Hause zu Willem.« Robert registrierte, dass sie den Namen ihres Mannes fast widerwillig aussprach. »Allerdings weiß ich gar nicht genau, was ich eigentlich noch für dich tun soll«, setzte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.

»Zunächst einmal könntest du herausfinden, wer diese Frau ist.« Er tippte mit dem Finger auf das Medaillon. Louisa drehte es um und öffnete den Deckel. Auch sie holte das Bild heraus. »Und dann kannst du dafür sorgen, dass einer von deiner tollen Agentur sich Erins Computer vornimmt und gelöschte Dateien wiederherstellt. Das soll doch angeblich möglich sein.«

»Findest du nicht, dass das ein bisschen zu weit geht, Robert? Erinnert dich das nicht allzu sehr an das letzte Mal?« Sie schaute sich die Rückseite des Fotos an. »Ungewöhnlicher Name. Da sollte sich doch etwas in Erfahrung bringen lassen. Für die Nachforschungen brauche ich einen Tag.«

Robert nickte. Die Sache mit dem Computer ging ihm nicht aus dem Kopf. »Du kannst mein Haus gern als Stützpunkt für deine Recherchen und … na ja, was auch immer benutzen. Wenn du willst, gebe ich dir einen Schlüssel.«

»Danke. Macht es dir etwas aus, wenn ich mal einen Blick in Erins Büro werfe?«

»Nur zu. Die pikanten Briefe hat sie mitgenommen, aber ich kann dir was zu Baxter King sagen, dem Mann der mir erzählt hat, dass … du weißt schon.«

»Könnte gut sein, dass sie heute Abend schon wieder zu Hause ist. Und wie stehst du dann da, Robert Knight, mit einer anderen Frau im Haus?« Louisa lächelte ihn so strahlend an, als nehme sie an einem Schönheitswettbewerb teil. »Geh jetzt ins Büro oder mach sonst was und lass mich weiterarbeiten. Du musst dir nicht auch noch den Kopf hier zerbrechen.«

Robert zerbrach sich aber sehr wohl den Kopf über die Sache. Gedankenverloren stand er da und starrte vor sich hin, während Louisa auf ihre Tastatur einhämmerte, als wäre er gar nicht vorhanden.