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uby nippte an ihrer heißen Schokolade, und zu einem anderen Zeitpunkt hätte Robert eine witzige Bemerkung über ihren braunen Milchbart gemacht. Doch er traute sich kaum zu atmen, aus Angst, Ruby könnte sich unvermittelt in Luft auflösen.
Er fragte sie noch einmal: »Deine Mama ist also in Brighton?« Das hätte er sich auch denken können.
Ruby nickte, die Hände um den Becher gelegt.
»Und du bist um ein Uhr in Victoria Station angekommen?«
Wieder ein Nicken. Das Haar hing ihr in fettigen Strähnen ums Gesicht.
»Was hast du dann in der letzten Stunde gemacht?«
Ruby trug ihren Becher zum Spülbecken und ließ ein wenig kaltes Wasser hineinlaufen. »Einfach nur dagesessen. Ich hab nachgedacht und so.« Sie sank wieder auf ihren Stuhl und schien kaum den Willen aufbringen zu können, den Becher an ihre Lippen zu fuhren. »Und Art angerufen.«
»Du hast also einfach nur so nach Mitternacht in London rumgesessen?« Robert mochte gar nicht darüber nachdenken, was ihr hätte zustoßen können. »Ist sich deine Mutter überhaupt darüber im Klaren, was für Sorgen ich mir um euch beide gemacht habe?« Das war noch untertrieben. »Und sie wird sich jetzt Sorgen um dich machen.«
»Ich habe bei Baxter eine Nachricht hinterlassen.« Rubys Stimme war ganz ruhig, doch sie ließ den Kopf so tief hängen, dass ihre Stirn beinahe die Tischplatte berührte.
Robert legte ihr einen Finger unter das Kinn und versuchte, ihr Gesicht anzuheben. »Warum habt ihr mich verlassen?«
Ruby zuckte die Achseln. »Es war Mamis Idee. Ich wollte nicht.« Auf einmal war sie wieder ein Kind, das die Schuld für ein Unrecht auf andere abwälzte.
»Und, hat deine Mami auch gesagt, warum?«
Ruby seufzte. »Sie meinte, wir würden Ferien machen. Aber als wir dann bei Baxter waren, habe ich gehört, wie sie darüber sprachen, dass wir uns eine Wohnung suchen sollten und Mami einen Job. Sie sagte so was wie ›zum letzten Mal weggelaufen‹.« Ruby hob den Kopf; ihre Augen schwammen in Tränen. »Schöne Ferien. Wir sind noch nicht mal am Strand spazieren gegangen, und Geld für Eis habe ich auch nicht gekriegt.«
»Es sollte also auf Dauer sein? Mami und du, ihr seid endgültig weggegangen?« Plötzlich wünschte er, Ruby wäre nicht wiedergekommen. Dann hätte er noch einen Funken Hoffnung gehabt.
»So endgültig, wie bei uns überhaupt etwas sein kann.« Schweigend trank Ruby das Wasser aus.
Es war vier Uhr morgens, als Louisa eintraf. Am Telefon hatte sie zu Robert gesagt, dass es wenig Sinn hätte, wenn sie vorbeikäme, aber um diese nachtschlafende Zeit hatte sie seinen Überredungskünsten wenig entgegenzusetzen. Außerdem wollte er ihr die Zeit extra bezahlen.
»Ruby ist im Bett.« Robert hatte sie fest zugedeckt. Es war, als müsste er sie in Sicherheit bringen, damit sie ihm niemand mehr wegnehmen konnte. Sie war die einzige Verbindung zu seinem normalen Leben, das schon furchtbar weit zurückzuliegen schien.
»Ich glaube, ihr gefällt die ganze Sache genauso wenig wie dir.« Louisa spielte mit ihrem Ehering. »Indem sie zurückgekommen ist, hat sie deutlich gemacht, wo sie leben will.«
»Versuch das mal ihrer Mutter beizubringen.« Robert wusste nicht, ob er Louisa etwas Alkoholisches oder Tee oder Frühstück anbieten sollte. Im Osten begann sich der Himmel aufzuhellen.
»Was soll ich denn genau machen?« Louisa warf einen Blick auf ihr Handgelenk, musste jedoch feststellen, dass sie ihre Uhr im Hotelzimmer liegengelassen hatte. »Um diese Zeit«, setzte sie hinzu.
»Nichts.«
»Du willst mich dafür bezahlen, dass ich hier am frühen Morgen nichts tue?«
»Ja, du kannst mir beim Warten Gesellschaft leisten.« Als sie ihn verständnislos anblickte, fügte er hinzu: »Auf die Ergebnisse des DNS-Tests.«
Sie tranken Kaffee. Dann ging Robert zum Herd und verquirlte ein paar Eier. Louisa, die mit dem Rücken zu ihm saß, sagte: »Dir ist doch wohl klar, dass die Schwierigkeiten erst richtig losgehen, falls sich herausstellt, dass Erin nicht Rubys leibliche Mutter ist?« Sie drehte sich zu ihm um. »Jetzt mache ich uns erst mal Rühreier«, sagte er nur.
Später, als es hell wurde, der Himmel in Rosa-, Blau- und Orangetönen leuchtete und der Straßenverkehr langsam in Gang kam, standen sie beide im Garten. Robert rauchte.
»Ich muss wirklich wieder damit aufhören.« Er hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und nahm einen langen Zug. Plötzlich fiel ihm die Tarotkarte ein. Er zog sie aus der Tasche seiner Jeans und drehte sie hin und her.
»Was ist das?«
Lächelnd und verlockend blickte die Gerechtigkeit ihn von Cheryls Karte an, als wollte sie ihm sagen, dass er das Richtige tat.
»Die Antwort«, antwortete er, blinzelte in die aufgehende Sonne und zog wieder an seiner Zigarette.
Der Ärger begann am Vormittag. Robert hatte sich entschlossen, Ruby ausschlafen zu lassen, doch nachdem Louisa vorsichtig in Rubs Zimmer gelugt hatte, um sich zu vergewissern, dass es ihr gutging, bereute er seine Entscheidung.
»Rob! Ruby ist weg!«
»Was meinst du mit weg?« So hatte er Louisa noch nie kreischen hören. Er rannte die Treppe hoch und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal.
»Sie ist nicht in ihrem Zimmer und auch sonst nirgends!« Louisa eilte durchs ganze Haus und schaute in jeden Raum.
»Also, jetzt mal keine Panik. Vielleicht ist sie ja zur Schule gegangen.« Robert lief wieder hinunter und riet beim Greywood College an. Kurz darauf legte er den Hörer auf und schüttelte den Kopf. Dann versuchte er es mit Rubys Handynummer, wurde jedoch direkt auf ihre Mailbox umgeleitet. Er hinterließ ihr eine Nachricht, in der er sie aufforderte, auf der Stelle zu Hause anzurufen.
»Ihr wird schon nichts passiert sein«, sagte Louisa. »Wahrscheinlich ist sie spazieren gegangen, um einen klaren Kopf zu bekommen.«
Eine Stunde später waren Roberts Nerven zum Zerreißen gespannt. Nervös lief er hin und her und versuchte, nicht daran zu denken, was gerade mit seiner Familie geschah.
Gegen Mittag rief Louisa bei James im Genforschungsinstitut an. Er teilte ihr mit, dass die Proben brauchbar gewesen seien, jedoch noch kein Ergebnis vorläge.
Den ganzen Tag über warteten sie, redeten, wichen nicht vom Telefon und lauschten auf Schritte vor der Tür, auf einen Schlüssel im Schloss. Um fünf Uhr nachmittags war Robert schließlich völlig verzweifelt.
Plötzlich rief er: »Aber sicher doch!«, und schlug sich gegen die Stirn. »Sie ist bestimmt bei ihm!« Schon hatte er Schlüssel, Jacke und Handy zusammengerafft. »Den wievielten haben wir heute?«
»Den einundzwanzigsten. Warum?«
»Sie war zu einer Sonnwendfeier bei Art zu Hause eingeladen.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, nicht sicher, worüber er sich mehr aufregen sollte – über das Verschwinden seiner Tochter oder die Leute, mit denen sie sich abgab.
»Weißt du, wo er wohnt?« Louisa griff ebenfalls nach ihren Sachen und warf sich eine dünne Strickjacke über. »Ich lasse meinen Laptop an, falls James die Testergebnisse mailt.« Sie legte Robert leicht die Hand auf den Arm. »jetzt dauert’s nicht mehr lange.«
Sie traten aus dem Haus und Robert schaute in den postkartenblauen Himmel. »Ich habe keine Ahnung, wo Art wohnt«, sagte er und zog ratlos die Schultern hoch. Dann schien er einen Entschluss zu fassen. Mit raschen Schritten ging er zu seinem Wagen und entriegelte ihn. »Schnell, wir müssen zu Rubys Schule, bevor sie dort Feierabend machen.« Während er sich mit waghalsigen Manövern durch den Berufsverkehr schlängelte, rief er in der Schule an, doch wie erwartet weigerte sich die Sekretärin, die Daten eines Schülers herauszugeben. Auf dem Lehrerparkplatz standen nur noch zwei Autos. Rasch stellte Robert den Wagen ab. Gleich darauf eilten er und Louisa durch die leeren Gänge und riefen, ob noch jemand da wäre.
Ein Lehrer, den Robert nicht kannte, kam aus einem der Klassenzimmer und nahm seine Brille ab. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Ja. Ich brauche auf der Stelle die Telefonnummer eines Schülers. Es ist dringend – ich habe auch bereits die Polizei benachrichtigt.« Er hörte, wie Louisa angesichts seiner dreisten Lüge leicht nach Luft schnappte. Ich hätte wirklich die Polizei rufen sollen, dachte er.
»Gehen Sie ins Sekretariat. Die Sekretärin ist wahrscheinlich noch da. Zweiter Gang links, dritte Tür.« Der Lehrer schlurfte davon und zog eine leichte Whiskyfahne hinter sich her.
Gleich darauf klopften sie an die Tür des Sekretariats, erhielten jedoch keine Antwort. Also traten sie einfach ein.
»Anscheinend hält sie sich noch irgendwo im Gebäude auf.« Robert zeigte auf den weißen Pullover, der über der Stuhllehne hing, auf die Tasse mit dampfend heißem Tee und die Handtasche auf dem Boden. Der Computer war eingeschaltet.
»Lass mich mal ran.« Louisa klickte sich rasch durch ein paar Ordner. In weniger als einer Minute hatte sie das Schülerverzeichnis ausfindig gemacht. Robert stand währenddessen in der Tür und hielt Wache.
»Wie heißt er mit Nachnamen?«
Robert zuckte mit den Schultern, den Blick unverwandt auf den Korridor gerichtet. »Weiß der Himmel. Kannst du nicht einfach nach Art suchen? Er ist mit einem Stipendium hier.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Grinsend öffnete Louisa eine Liste mit Schülern, die finanzielle Zuschüsse erhielten. Sie umfasste etwa dreißig Namen. »Art Gallway, 23 Meakin Avenue.« Louisa notierte die Adresse auf einem Zettel und stellte die ursprüngliche Bildschirmansicht wieder her.
»Oh«, sagte die Sekretärin überrascht. Sie wollte gerade mit einem Arm voll Akten eintreten, doch Robert blieb in der Tür stehen und versperrte ihr so den Weg.
»Entschuldigen Sie bitte, dass wir einfach in Ihr Büro eingedrungen sind«, zwitscherte Louisa und schob Robert beiseite. Dabei steckte sie unauffällig den Zettel in ihre Schultertasche. »Wir haben uns nach Schulprospekten umgesehen. Haben Sie noch welche?«
Nachdem sich die Sekretärin mit einem raschen Blick auf die Hände der beiden versichert hatte, dass sie nichts gestohlen hatten, brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. »Natürlich«, sagte sie und reichte ihnen von einem Ständer in der Ecke ein paar Broschüren.
Als Robert und Louisa fort waren, nahm die Sekretärin an ihrem Schreibtisch Platz. Sie stellte fest, dass der Stuhl noch warm war.
Während Louisa die Adresse in das Navigationsgerät eingab, fuhr Robert so rasant vom Schulparkplatz, dass er um ein Haar einen großen Lieferwagen gerammt hätte.
»Du mich auch!«, brüllte er den Fahrer an und wendete mit einer weiten U-Kehre. Dann sagte er in seiner normalen Stimme: »Natürlich wissen wir nicht, ob sie wirklich bei Art ist. Wenn nicht, geht’s weiter nach Brighton.«
Zwanzig Minuten lang fuhren sie durch London, bis sie südlich der Themse in eine Gegend kamen, die sie beide nicht kannten. Vor rund hundert Jahren war die breite Meakin Avenue wahrscheinlich eine begehrte Wohngegend gewesen, doch mittlerweile sahen die Häuser aus der Zeit König Edwards baufällig und heruntergekommen aus.
»Hier solltest du dir eine Immobilie kaufen«, sagte Louisa, während sie die einstmals hochherrschaftlichen Gebäude betrachtete. »Ernsthaft«, fügte sie hinzu, obgleich ihr klar war, dass Robert zurzeit alles andere im Sinn hatte als Geldanlagen. »Da, Nummer dreiundzwanzig.« Sie zeigte auf ein Haus, dessen hohe Fenster von hunderten von Kerzen erleuchtet waren. Ihre Flammen waren in der Mittsommersonne fast nicht zu erkennen.
Heute ist der längste Tag des Jahres, dachte Robert. Und der längste Tag meines Lebens. Sie stellten den Wagen ab, gingen über den kurzen, unkrautüberwucherten Weg zum Haus und hämmerten an die Eingangstür.
»Überrascht mich nicht«, bemerkte Robert, als niemand öffnete. Die Musik drinnen war so laut, dass die Fenster klirrten und das ganze Haus förmlich in seinen Grundfesten bebte. Das Stimmengewirr ließ darauf schließen, dass die Party bereits in vollem Gange war. Als Robert versuchsweise die Klinke niederdrückte, stellte er fest, dass sich die Tür problemlos öffnen ließ.
Dicht gefolgt von Louisa trat er in die schummrige Diele. Nur mit Mühe bahnten sie sich einen Weg durch die zahlreichen Menschen, die überall herumstanden oder mit dem Rücken an der Wand auf dem Fußboden saßen. Andere lümmelten auf den Treppenstufen herum, tranken aus Dosen, rauchten Joints und beachteten die Neuankömmlinge nicht weiter.
Bei diesem Lärm nach Ruby zu rufen, war zwecklos. Während sie weiter ins Innere des Hauses vordrangen, hätte sich ein Teil von Robert am liebsten einen Drink und einen Joint geschnappt, sich unter die Feiernden gemischt und Erin für immer vergessen. Er griff hinter sich, tastete nach Louisas Hand.
Erin vergessen – das hätte er nicht einmal für eine Sekunde fertiggebracht.
»Weißt du, wo Art ist?«, schrie Robert einem Jugendlichen zu, der sich auf ein schmutziges Sofa gefläzt hatte. Der Junge grinste nur einfältig und zuckte die Achseln. Also drängte sich Robert weiter durch die Menschenmenge und musterte dabei die Umstehenden. Jung und Alt waren auf dieser Party vertreten, die meisten offensichtlich fahrendes Volk oder Aussteigertypen, oder auch New-Age-Anhänger mit Flatterkleidern und verfilztem Haar. Roberts Herz klopfte heftig, als er, Louisa noch immer im Schlepptau, die Küche betrat. Auf einem alten Kieferntisch stand Essen, dazwischen brennende Teelichte. Zwei Männer luden sich gerade Bohnensalat und Fladenbrot auf ihre Teller.
»Da, Rob, sieh mal!« Louisa zupfte an Roberts Hand.
Draußen im Garten war eine Gruppe von Jugendlichen zu sehen. Einige hielten sich eng umschlungen, andere tanzten mit hoch über den Kopf erhobenen Händen und wieder andere tranken etwas aus Dosen und rauchten. Auch Ruby war dabei. Sie warf gerade den Kopf zurück und lachte, dann legte sie die Arme um Arts Hals. Robert marschierte nach draußen.
»Ruby!« Erbost zog er sie von dem Jungen weg. »Was treibst du hier?«
»Hallo, Paps«, sagte Art. »Sie sind doch bestimmt auch mal jung gewesen.« Er steckte eine Hand in die Tasche. Robert spannte die Muskeln an.
»Ist ja gut«, mischte sich Louisa ein. »Lass ihn, Robert. Hauptsache, wir haben Ruby gefunden.«
»Zeit zu gehen, junge Dame.« Seine Worte kamen Robert unecht vor, sie erreichten, dass er sich einmal mehr wie ein unechter Vater fühlte. Welches Recht hatte er schon, Ruby etwas zu befehlen? Sie gehörte ja nicht einmal zu ihrer Mutter, geschweige denn zu ihm.
»Wohin gehen wir denn?«, fragte Ruby und sträubte sich gegen seinen Griff.
»Zu deiner Mutter«, antwortete Robert.
Erst als sie alle drei im Auto saßen, dachte er: Zu welcher Mutter eigentlich?