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R

obert verließ früh das Büro. Seit Mary Bowman einige Stunden zuvor gegangen war, hatte er sich nicht mehr richtig konzentrieren können. Ihr Besuch hatte tief in seinem Innern gewisse Dinge wieder aufgewühlt, die er so gern vergessen wollte.

Als er aus der Tiefgarage fuhr, blendete ihn die Sonne. Bevor er sich in den fließenden Verkehr einfädelte, tastete er im Handschuhfach nach seiner Sonnenbrille. Der schwülwarme Nachmittag war nicht dazu angetan, seine Laune zu heben. Auf seinem Gesicht und den Unterarmen, wo die Haut noch kühl war von der klimatisierten Büroluft, bildete sich sofort ein Schweißfilm. Der Verkehr geriet ins Stocken. Robert durchsuchte mehrere Radioprogramme, fand jedoch keine Musik, die zu seiner Stimmung passte. Mit einem Knopfdruck schloss er das Verdeck seines Mercedes. Ihm war danach, sich einzuigeln.

»Zuhause«, blaffte er in seine Telefonanlage. Er hörte, wie gewählt wurde, dann ertönte immer wieder das Freizeichen. Erin hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten. Nun, da er wusste, dass niemand zu Hause war, konnte Robert in Ruhe seinen Plan ausführen. Aus diesem Grund hatte er das Büro so früh verlassen – und natürlich, um Den aus dem Weg zu gehen. Sein gerissener Partner hätte bestimmt spitzgekriegt, dass sich Robert mit der gegnerischen Partei unterhalten hatte.

Robert machte sich immer noch Gedanken wegen Rubys Geburtsurkunde. Unter normalen Umständen hätte er dieses Unbehagen verdrängt, doch die Tatsache, dass sich Erin so hartnäckig weigerte, Ruby einen Pass ausstellen zu lassen, hatte seinen Argwohn erst richtig angefacht. Warum war Erin von Anfang an gegen Rubys Klassenfahrt gewesen? Hatte sie Angst um ihre Tochter? Hielt sie Ruby mit ihren dreizehn Jahren für zu jung, um ohne Eltern ins Ausland zu reisen? War ihre eigene Flugangst der Grund? Oder was steckte sonst dahinter?

Vielleicht fürchtete Erin unliebsame Erinnerungen an ihren Verflossenen, wenn sie seinen Namen auf der Urkunde sah. Es konnte durchaus sein, dass Ruby gar nicht wusste, wer ihr Vater war – schließlich hatte Erin ihn nie erwähnt – und dass Lucas nicht ihr richtiger Name war. Erins Verhalten konnte viele Gründe haben, doch eines war sicher: Robert musste unbedingt die Wahrheit herausfinden. Nicht noch einmal wollte er eine Ehe durch sein krankhaftes Misstrauen aufs Spiel setzen. Sobald er wusste, woran er war, bestand keine Gefahr mehr, dass der Argwohn, der unablässig unter der Oberfläche brodelte, wie ein Vulkan ausbrach und alles zerstörte. Doch wie er die Wahrheit herausfinden sollte, ohne dass Erin es merkte, war eine andere Frage.

Um zehn nach drei hielt Robert vor seinem Haus. Im Sonnenlicht wirkte das dreistöckige Gebäude ein wenig schäbig. An manchen Stellen blätterte die schwarze Farbe von den Fensterrahmen ab, und hier und da hatten undichte Rohrleitungen feuchte Flecken auf dem ursprünglich cremeweißen Mauerwerk hinterlassen.

Robert schloss den Mercedes ab und schaute noch einmal auf die Uhr. Ruby würde in ungefähr einer halben Stunde nach Hause kommen und vergnügt die Schultasche im Flur fallen lassen, bevor sie sich über den Kühlschrank hermachte. Dann würde sie Klavier spielen oder in ihr Zimmer gehen und Hausaufgaben machen. Sie hatten Ruby mittlerweile für den Schulbus angemeldet, mit dem etliche Schüler aus der Nachbarschaft nach Hause gebracht wurden. Erin würde kaum vor sechs nach Hause kommen, aber er musste auf jeden Fall vorsichtig sein.

»Ruby? Erin?«, rief er sicherheitshalber, während er die Wohnungstür aufschloss und seine Aktentasche abstellte. Als er den schweren, süßen Duft der Freesien roch, die auf dem Marmortisch im Flur standen, blieb er für einen Augenblick stehen. Er musste daran denken, mit welcher Sorgfalt Erin die Blumen am Morgen arrangiert hatte. Blumen waren ihre Leidenschaft, besonders schlichte Bauernblumen in Weiß und Crème. Der Blumenladen war ihr ganzer Stolz und sie führte ihn mit großem Erfolg. Erin war sehr fleißig und zielstrebig in allem, was sie anpackte. Robert war erstaunt gewesen, als er hörte, dass sie keine akademische Ausbildung besaß. Wenn sie einmal eine Meinungsverschiedenheit hatten, neckte er sie mit der Bemerkung, was für eine hartgesottene Anwältin sie doch abgeben würde.

Trotz der ungewohnten Stunde nahm Robert im Wohnzimmer eine Flasche aus dem Barfach und schenkte sich einen großzügig bemessenen Whisky ein. Er hatte sowieso ein derart schlechtes Gewissen, dass er sich körperlich unwohl fühlte. Da war es wirklich gleichgültig, ob er sich ganz allein am helllichten Tag einen Drink genehmigte.

»Du lieber Himmel«, sagte er zu sich selbst, »es ist doch bloß ein Drink. Und es ist ja nicht so, als ob Erin eine Affäre hätte.« Robert kippte den Whisky hinunter und schenkte sich gleich noch einen ein. Dann stand er einen Augenblick lang einfach da und drehte das Glas in den Fingern. Das geschliffene Kristall war ein Hochzeitsgeschenk von Jennas Eltern gewesen. Als hätten seine Erinnerungen sie zum Leben erweckt, glaubte er plötzlich, durch das Erkerfenster Jennas Gesicht zu sehen. Das Bild war unscharf wie ein verwaschenes Aquarell. Doch als er genauer hinschaute, war es fort. Nur ein paar Sonnenstrahlen fielen fächerförmig ins Zimmer. Ärgerlich über sich selbst zuckte er mit den Schultern und stieg die Treppe hinauf. Für Geister aus der Vergangenheit war jetzt keine Zeit.

Vor kurzem hatten sie die beiden ehemaligen Speicherräume in Arbeitszimmer umgewandelt. Hier erledigte Erin ihren Papierkram für den Laden, und Robert arbeitete in seinem Zimmer oft Akten durch, die er aus der Kanzlei mitbrachte.

In Erins Büro schaltete er ihren Computer ein und wartete ungeduldig, bis sich das Gerät hochgefahren hatte.

»Endlich«, seufzte Robert mit einem erneuten Blick auf seine Uhr. Er öffnete das Inhaltsverzeichnis der Festplatte und warf einen Blick auf Erins Datensätze und Softwareprogramme. Unschlüssig klickte er sich durch übersichtlich organisierte Ordner und Buchhaltungsdateien, ohne zu wissen, wonach er genau suchte.

Dann öffnete er Outlook Express und ordnete Erins Mails nach dem Absender. So konnte er feststellen, ob sie mit jemandem besonders viele Mails ausgetauscht hatte. Immer wenn der Absender ein Mann war, überflog Robert die Nachricht. Meist ging es um den Großeinkauf von Blumen oder darum, dass eine Lieferung nicht rechtzeitig eingetroffen war. In einer Mail kündigte der Vermieter des Ladens eine Mieterhöhung an; andere Nachrichten hatten Erin und Ruby einander zum Spaß geschickt. In einer von ihnen sprach Ruby so begeistert davon, was für ein liebevoller Vater Robert sei, dass ihm vor lauter schlechtem Gewissen ganz elend zumute wurde. Aber Ruby und seiner Ehe zuliebe musste er Gewissheit haben.

In Erins E-Mails fanden sich keine interessanten Hinweise in Bezug auf sein Problem, doch sie zeigten Robert, wie hart seine Frau für ihren Laden arbeitete. Es war nicht leicht, ganz allein ein Geschäft zu führen, doch Erin meisterte alles mit ihrer gewohnten Tüchtigkeit. Robert gab sich noch immer nicht zufrieden. Er durchsuchte jede einzelne Datei auf Erins Computer und überprüfte die Liste mit den Internetadressen, die Erin in letzter Zeit angeklickt hatte. Hin und wieder nippte er an seinem Whisky und lockerte seine Krawatte. Hier unter dem Dach war es heiß und stickig, daher nahm er sich die Zeit, um ein Kippfenster zu öffnen. In dem Moment erstarrte er. Jemand kam die Treppe herauf. Erschrocken blickte Robert auf die Uhr, bevor er in Panik alle Stecker aus den Steckdosen zog. Mit einem Pfeifen schaltete sich der Computer aus und der Bildschirm wurde schwarz. Im gleichen Augenblick trat Ruby ins Zimmer.

»Oh«, sagte sie von der Tür her, »ich dachte, du wärst Mum. Ich habe jemanden hier oben gehört.« Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. Offensichtlich war sie irritiert, dass sich Robert im Arbeitszimmer ihrer Mutter aufhielt. Robert mochte sich gar nicht ausmalen, was Erin erst dazu sagen würde.

»Ich bin’s nur.« Beim Ausatmen roch Robert seine Whiskyfahne.

»Und was machst du hier?«, fragte Ruby herausfordernd. Sie hörte sich beinahe an wie Erin, dachte Robert. Wenn er verhindern wollte, dass Ruby ihrer Mutter etwas erzählte, musste er sich auf der Stelle eine plausible Erklärung einfallen lassen.

»Ich suche nach deiner Geburtsurkunde.« In seinem Beruf hatte Robert gelernt, rasch zu denken. »Ich brauche sie, um dir einen Pass machen zu lassen. Du willst doch mit nach Wien fahren, oder?«

»Na klar!« Rubys Gesichtszüge entspannten sich und nahmen wieder den üblichen arglosen Ausdruck an.

»Hattest du schon jemals einen Pass, Ruby?« Robert erhob sich vom Schreibtischstuhl, ging zu seiner Stieftochter hinüber und drückte sie kurz an sich.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie achselzuckend. »Auf jeden Fall bin ich noch nie geflogen.«

»Du bist heute aber früh zu Hause!« Robert versuchte, sich seine Enttäuschung über die Störung nicht anmerken zu lassen.

»Das Tennisturnier wurde abgesagt. Die von der anderen Schule konnten nicht, und deshalb durften wir früher gehen, um für die Abschlussklausuren am Ende des Schuljahres zu üben. Ich bin mit dem Minibus gekommen.«

Sie trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Offensichtlich erwartete sie, dass er mit ihr schimpfen würde, weil sie den öffentlichen Bus genommen hatte. Wenn er ihr das durchgehen ließ, würde sie ihm umso bereitwilliger helfen, dachte Robert. »Weißt du, wo deine Geburtsurkunde ist, Ruby?«

»Ich habe noch nie eine gesehen, aber ich weiß, dass Mum solche Sachen hier drin versteckt.« Ruby ging zu Erins Schreibtisch, der wie ein antiker französischer Sekretär aussah, in Wahrheit aber als moderner Computerarbeitsplatz konstruiert war. Zu Roberts Verblüffung zog sie zielstrebig die mittlere Schublade ganz heraus. Dann kniete sie sich hin, tastete in dem leeren Raum herum und zog schließlich stolz eine abgenutzte schwarze Geldkassette hervor. Ruby stellte sie auf den runden Teppich, der einen Teil der farbig gestrichenen Dielen bedeckte, zog einen kleinen Schlüssel unter dem Teppich hervor und schloss die Kassette auf. »Du erzählst doch Mum nichts davon, oder?« Mit gerunzelter Stirn blickte sie kurz zu Robert hoch, bevor sie den Deckel anhob. »Ich habe mal gesehen, wie sie die Kiste herausholte und etwas hineinlegte. Sie hat nicht gemerkt, dass ich sie beobachtet habe, und wäre bestimmt sauer, wenn sie es wüsste.« Robert bemerkte ein leichtes Zucken unter ihrem linken Auge. »Aber ich habe nicht reingeschaut. So etwas würde ich nie tun.«

Robert kauerte sich neben seine Stieftochter. Wie gebannt starrte er auf die Metallkassette, als sei sie ein Schatz aus einem Pharaonengrab. Er tätschelte Ruby den Rücken. »Keine Angst, Ruby. Das bleibt unser Geheimnis.«

Ruby hob den Deckel hoch. »Siehst du? Ich hatte recht. Da sind alle möglichen Papiere drin. Und schau nur, Mum hat einen Pass. Also darf ich ja wohl auch einen haben.«

Ruby zog einen Schmollmund und wedelte mit dem Pass über ihrem Kopf herum. Sie fand es ungerecht von ihrer Mutter, dass sie sie nicht mit auf Klassenfahrt gehen lassen wollte!

»Na, das ist ja immerhin etwas.« Robert versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Er nahm Ruby den Pass aus der Hand und schlug ihn auf der Seite mit dem Foto auf. Er stellte fest, dass er noch nicht lange abgelaufen war.

Beim Weiterblättern sah er, dass das Dokument selten benutzt worden war. Nur ein paar verblichene Marken zeugten von lange vergangenen Reisen nach Spanien und Griechenland. Wahrscheinlich Urlaubsreisen, dachte er und schaute sich noch einmal Erins Bild an. Mit einem leisen Lächeln studierte er ihre Züge. Mit ungefähr Anfang oder Mitte zwanzig war sie ein ziemlich unscheinbares junges Ding gewesen, das so mürrisch dreinblickte, als sei es eine unerträgliche Zumutung, für ein Foto zu posieren.

Seit er Erin kannte, hatte sie ihr Haar noch nie lang oder mit einem Pony getragen. Sie ging regelmäßig zum Friseur, um sich ihre modische Kurzhaarfrisur nachschneiden und die aschblonde Tönung auffrischen zu lassen. Auch Pausbacken und das auffällige Make-up gehörten eindeutig der Vergangenheit an. Heute war Erin mindestens sechs bis sieben Kilo leichter und fast immer ungeschminkt.

Robert musste daran denken, wie sehr sich sein eigenes Passbild von seinem gegenwärtigen Aussehen unterschied. Mit einem Lachen klappte er den Pass zu und legte ihn wieder in die Kassette. Damit konnte er nichts anfangen. »Was haben wir denn hier sonst noch?«, fragte er betont beiläufig. In Wahrheit fürchtete er immer noch, dass Ruby ihrer Mutter alles erzählen könnte. Oder dass Erin ebenfalls vorzeitig auftauchte und ihn auf frischer Tat ertappte. Rubys Geburtsurkunde fand er nicht. Er beschloss, die Nachforschungen ein andermal fortzusetzen, wenn er allein im Haus war.

Die Nachforschungen fortsetzen, sagte er in Gedanken vor sich hin. Er dachte an Louisa und ihre Joggingrunde am vergangenen Wochenende. Vielleicht sollte er sie anrufen und sich bei ihr entschuldigen. Aber was würde das nutzen? In ihrer Beziehung gab es keinen Platz für Reue und Entschuldigungen.

Sie sahen sich so selten, dass bei jedem Treffen die Probleme und Fragen vom letzten Mal schon wieder vergessen waren. So machten sie immer wieder reinen Tisch. Er überlegte, ob Louisa ihm wohl helfen konnte, eine Geburtsurkunde für Ruby zu besorgen. Immerhin war sie Detektivin und hatte viele Verbindungen.

Robert sah zu, wie Ruby die Kassette abschloss, den Schlüssel wieder unter den Teppich legte und die kleine Kiste behutsam in den Raum hinter der Schublade zurückstellte. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er sich später noch einmal in dieses Zimmer schleichen und sich Erins Papiere genauer ansehen wollte. Schließlich hatte er sich ja bereits davon überzeugt, dass keine Geburtsurkunde von Ruby dabei war. Die anderen Dokumente waren offensichtlich privat, sonst hätte Erin sie nicht so gut versteckt.

»Wie wäre es, wenn wir zu Luigi was Kaltes trinken und ein Stück Kuchen essen gehen? Ich lade dich ein.« Beim Sprechen starrte Robert an die Decke. Er verachtete sich selbst.

Doch Ruby lächelte fröhlich. Sie liefen zusammen die Treppe hinunter und verließen das Haus. Luigis Café war nur ein paar Häuser weiter, und Rubys Hausaufgaben konnten warten.

Robert fand einen freien Tisch vor dem Lokal. Er bestellte Erdbeershakes und Plundergebäck. Er war sich bewusst, dass er immer noch eine Whiskyfahne hatte, auch wenn es Ruby anscheinend nicht aufgefallen war.

Robert fühlte sich elend. Seine Schuldgefühle und dazu die noch immer glühende Sonne, die durch die Smogschichten drang, verursachten ihm bohrende Kopfschmerzen. Sein Plan, heimlich in Erins privaten Papieren zu schnüffeln, erinnerte ihn fatal daran, wie beim letzten Mal alles begonnen hatte. Was würde Louisa wohl zu seinem Vorhaben sagen? Bestimmt würde es ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen, wenn er es ihr erzählte. Robert blinzelte heftig und nippte an seinem Erdbeershake.

»Weißt du was?«, fragte Ruby. Sie hockte auf der Kante ihres Bistrostuhls, rührte mit dem Strohhalm in ihrem Glas und hielt die Augen gesenkt.

»Was denn?« Robert brachte ein Lächeln zustande, obgleich der Schmerz immer stärker hinter seinen Schläfen pochte.

»Ein Junge an meiner Schule findet mich nett. Er will sich mit mir treffen.«

Robert wusste, dass ihr dieses Geständnis ebenso schwerfiel wie ihm, Erin seine Schnüffelei zu beichten.

»Das ist ja toll, Liebes! Wie heißt er denn?« Er schlug einen erfreuten Ton an, auch wenn ihm klar war, dass die ganze Geschichte in ein paar Monaten mit Liebeskummer enden würde. Während er Ruby die Hand tätschelte, musste er an seine eigenen ersten, unbeholfenen Annäherungsversuche als Teenager denken. Außerdem schoss ihm wieder einmal die Frage durch den Kopf, wer wohl Rubys Vater war und was er sagen würde, wenn er seine große Tochter jetzt sehen könnte.

»Er heißt Art und ist zwei Klassen über mir«, antwortete Ruby. »Er spielt in einer Rockband.« Mit lautem Geschlürfe saugte Ruby die letzten Reste aus ihrem hohen Glas. »Art hat ein Stipendium, weil er wirklich klug ist. Sein Dad könnte sich Greywood sonst nicht leisten.«

Robert bemerkte, dass sich Rubys Wangen röteten. Wie schön für sie, dachte er. Wie wunderbar. Dass jemand Ruby mochte, freute ihn so sehr, dass er sich alle väterlichen Ermahnungen verkniff. Er machte weder eine warnende Bemerkung über zu langes Wegbleiben noch über Küssen oder Schlimmeres. Außerdem konnte ja Erin mit ihrer Tochter über Jungs und Dates reden und ihr die notwendigen Ratschläge mit auf den Weg geben. Also ermunterte er Ruby nur, ihm mehr über Art zu erzählen.

»Art – das ist ein seltsamer Name. Woher stammt der Junge?«

»Der Name ist nicht seltsam. Er hat mir gesagt, es ist Gälisch und bedeutet Stein.« Das Sonnenlicht verlor sich in Rubys unergründlichen Augen und ließ ihr langes, dunkel kastanien­braunes Haar glänzen. Mit einer angefeuchteten Fingerspitze las sie die Kuchenkrümel von ihrem Teller auf und ließ sie auf den Gehsteig fallen. Sofort kamen einige Tauben herbeigehüpft und begannen, sich um die Krumen zu balgen.

Als es immer mehr Vögel wurden, verscheuchte Robert sie mit der Spitze seines Schuhs. Dann tupfte er sich die Stirn mit einer Papierserviette ab. Seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Er spannte den Sonnenschirm über ihrem Tisch auf.

»Aus welchem Teil von London kommt er denn?«

»Er stammt eigentlich aus Wales.«

»Oh, wie schön. Von der Küste oder aus dem Landesin­neren?« Robert war kurz davor, das Thema »Art« fallenzu­lassen, da Ruby nur wenig mitteilsam schien.

»Seine Familie waren fahrende Leute. Aber sie sind sesshaft geworden, als Art das Musikstipendium bekam. Sein Dad ist davon überzeugt, dass Art mal berühmt wird.«

Als Robert sich erneut den Schweiß von der Stirn wischen wollte, stieß er an seinen Teller mit der Kuchengabel. Beides fiel klirrend zu Boden, worauf der ganze Schwarm Tauben, der zwischen den Tischen herumpickte, erschreckt aufflatterte. Robert wich das Blut aus dem Kopf, und ihm wurde übel. Alles erschien ihm plötzlich so unwirklich, selbst die Stimme, die in seinem Kopf dröhnte: fahrendes Volk, Hippies, Zigeuner – alles ganz wunderbar, überhaupt kein Problem.

»Fahrende Leute, sagst du?« Robert bemühte sich um einen gelassenen Ton.

»Ja, so richtig mit Wohnwagen und Anhängern. Aber die haben sie in Wales gelassen, solange Art hier zur Schule geht. Jetzt wohnen sie in einem besetzten Haus.«

»Was?« Roberts Mund war wie ausgetrocknet. Er brauchte unbedingt ein Glas eiskaltes Wasser.

»Art sagt, es ist wirklich toll. Sie haben sogar Strom und alles. Er hat mich zur Sonnwendfeier eingeladen. Da geben seine Leute eine Party.«

»So, eine Party.« Robert winkte der Kellnerin und zahlte. Dann machte er sich mit Ruby auf den Heimweg. Ihrem Geplapper über Art hörte er nur noch mit halbem Ohr zu. Er hatte schon mehr als genug erfahren.

Erin ging ihm aus dem Weg. Die einzigen Zeichen für ihre Anwesenheit waren ihr metallic-blauer Mazda vor dem Haus und ein Bund orangefarbener Gerbera, die auf dem Tisch im Flur lagen. Als Robert hörte, wie die Haustür zufiel, hatte er ihr vom Wohnzimmer aus einen Gruß zugerufen, der aber vielleicht in den Tönen von Rubys neuester Komposition untergegangen war.

Er drückte die Esszimmertür zu, um die Klaviermusik ein wenig zu dämpfen, und stieg müde die Treppe hinauf. Aus dem Bad hörte er Wasser in die Wanne rauschen, und auf dem Fußboden im Schlafzimmer lag ein Häufchen abgelegter Kleider, die Erins Duft verströmten. Robert beschloss, seine Frau nicht beim Baden zu stören, und stieg noch eine Treppe höher zu seinem Arbeitszimmer. Nach wie vor war die Luft hier oben heiß und abgestanden. Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und warf einen Blick in Erins Büro. Sie war schon oben gewesen und hatte ihre Aktentasche neben den Schreibtisch gestellt. Außerdem hatte sie den Computer eingeschaltet, weil sie nach dem Essen offenbar noch arbeiten wollte. Hoffentlich hatte sie nichts gemerkt. Nur gut, dass er daran gedacht hatte, das Computerkabel wieder in die Steckdose zu stecken.

Robert seufzte, als ihm auffiel, wie lange es her war, dass sie einen unbeschwerten Abend zusammen verbracht hatten – ohne Sorgen wegen Terminen oder Unterlagen oder Rubys Schulproblemen. Sie waren erst ein paar Monate verheiratet, doch ihr Leben schien nur noch aus Routine und Verantwortung zu bestehen.

Gegen seinen Willen musste Robert an Jenna denken. Sie beide hatten gar nicht genug Zeit gehabt, um in Alltagstrott zu geraten. Vielleicht, so ging ihm durch den Kopf, hätte eine gewisse Routine ihrer Ehe gutgetan. Vielleicht wäre mit dem täglichen Einerlei das Vertrauen gewachsen und Jenna wäre heute noch am Leben.

Robert spürte, wie sich jenes alte, krankhafte Misstrauen wieder in sein Leben schlich, das seine Ehe mit Jenna vergiftet hatte. Er versuchte, dagegen anzugehen, doch die leise, bohrende Stimme ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Unablässig flüsterte sie ihm zu, dass Erin ihm etwas verheimlichte. Die Ungewissheit machte ihn wahnsinnig.

Robert ging in sein Büro, stieß das Kippfenster auf und hakte den Hebel ein. Mit wütendem Gebrumm schossen zwei Wespen zum Fenster hinaus und surrten über die Dächer davon. Erschöpft ließ er sich in seinen Sessel fallen. Ihm war klar, dass er keine Arbeit erledigt bekam, solange ihm diese Gedanken im Kopf herumspukten.

»Frag sie doch einfach«, murmelte er. »Du kannst sie doch, verdammt noch mal, einfach fragen!« Robert schlug mit der Faust so fest auf die Kante seines Schreibtisches, dass die Computertastatur klapperte. Die Beziehung zu Jenna hatte er derart gründlich kurz und klein geschlagen, dass ihre Ehe auf jeden Fall am Ende gewesen wäre, selbst wenn Jenna den Unfall überlebt hätte.

Vielleicht lag es ja an seinem Beruf, dass er so argwöhnisch und misstrauisch war. Im Laufe seiner Karriere war er vielen zweifelhaften Charakteren begegnet, sodass er eigentlich ein untrügliches Gespür dafür entwickelt haben sollte, ob seine Frau ihm gegenüber aufrichtig war oder nicht. Zumal Erin nicht annähernd den unangenehmen Mandanten glich, mit denen er es normalerweise zu tun hatte. Und außerdem galt auch für Erin der Grundsatz, dass ein Verdächtiger so lange als unschuldig galt, bis seine Schuld bewiesen war. Wenn da nur nicht dieses komische Gefühl gewesen wäre, das er einfach nicht loswurde! Er beschloss, noch am selben Abend Louisa anzurufen.

Robert öffnete den Aktenschrank und langte nach der Flasche Scotch, die er für Notfälle dort gelagert hatte.

Zum allerersten Mal kam es ihm so vor, als würden sich sein Privatleben und sein Beruf vermischen. Bisher war es ihm gelungen, beides sorgfältig voneinander zu trennen, auch wenn er sich oft Arbeit mit nach Hause brachte. Diesmal aber färbte seine Einstellung – diese berufsmäßige Skepsis – auf sein Privatleben ab. Dabei hatte er sich fest vorgenommen, dass seine zweite Ehe von Vertrauen und Respekt geprägt sein sollte. Doch allmählich spürte er, wie dieser Entschluss ins Wanken geriet. Und nicht zuletzt hatten die ethischen Grundsätze, auf denen der gute Ruf von Mason & Knight ruhte, durch Mary Bowmans Bericht einen empfindlichen Schlag erlitten. Robert spürte mit Entsetzen, dass sein Leben ihm abermals zu entgleiten drohte. Es war genau wie beim letzten Mal.

Erin war mit dem Baden fertig und rief ihm zu, dass sie schnell ein paar Kleinigkeiten einkaufen gehen wolle. Sie hatten sich immer noch nicht gesehen, seit sie nach Hause gekommen war. Rubys Musik drang bis in das oberste Stockwerk. Sie komponierte ein Lied für Art und war offensichtlich mit Feuereifer bei der Sache.

Mit Unbehagen dachte Robert daran, was Ruby ihm erzählt hatte. Wie sollte er Erin nur beibringen, dass ihre Tochter auf eine Party in einem besetzten Haus gehen wollte? Das würde sie nie erlauben. Plötzlich fiel ihm ein, dass er jetzt die Gelegenheit hatte, sich noch einmal diese Kassette anzuschauen. Doch er musste sich beeilen, da das Lebensmittelgeschäft nicht weit entfernt war.

Ihm dröhnte noch immer der Schädel von den Nachwirkungen der Hitze und des zweiten Scotch, der sich nicht besonders mit dem Erdbeershake vertrug. Als er in Erins Arbeitszimmer hinüberging, schwor er sich, dass es wirklich das allerletzte Mal sein sollte. Ein kleiner Ausrutscher in einer ansonsten makellosen Beziehung, in der es sicher auch für die fehlende Geburtsurkunde eine vernünftige Erklärung gab.

Nach einem flüchtigen, prüfenden Blick über die Schulter kniete sich Robert vor den Schreibtisch. Arbeit und Zuhause, Vergangenheit und Gegenwart – alles schien ineinanderzu­fließen. Vor Gericht war es gang und gäbe, dass ein Anwalt die Taten seines Mandanten mit geschickten Worten beschönigte. Dabei führte er häufig die schweren Lebensumstände des Angeklagten als Entschuldigung an. Und nun saß Robert hier und versuchte, sich selbst weiszumachen, dass er das Recht habe, in den persönlichen Dingen seiner Frau herumzu­schnüffeln, sofern sich dadurch ein Beweis finden ließ. Ein Beweis wofür eigentlich?

Während er geschickt und zielstrebig zu Werke ging, wuchs seine Aufregung immer mehr. Es war wie früher – ein Gefühl, das ihm nur allzu vertraut war. Ihm trat der Schweiß auf die Stirn. Aber nicht aus Scham oder Angst, dass Erin ihn ertappen könnte. Er wusste, dieses körperliche Symptom war ein Zeichen dafür, dass seine Vernunft und sein Instinkt miteinander rangen.

Wie Ruby wenige Stunden zuvor tastete Robert nach der Kassette und zog sie heraus. Einen Augenblick lang lauschte er aufmerksam, bevor er den Schlüssel unter dem kleinen Teppich hervorholte und das Metallkästchen aufschloss. Sein Herz schlug hart im Rhythmus der Melodie, die Ruby gerade spielte.

Behutsam nahm er den ganzen Stapel Unterlagen aus der Kassette. Er musste unbedingt darauf achten, sie in derselben Reihenfolge wieder zurückzulegen. Er dachte kurz an Erin. Sie war jetzt bestimmt im Laden und kaufte eine Flasche Wein, schwarze Oliven und einen Kopf Salat. Vermutlich blieben ihm noch zehn bis zwölf Minuten.

Der Papierstapel bestand aus alten Geburtstagskarten, ein paar Prüfungsurkunden, die Ruby im Klavierunterricht bekommen hatte, einigen Fotos von Ruby am Strand. Auf einem war sie etwa drei Jahre alt, doch er erkannte sie an den unverwechselbaren schokoladenbraunen Augen und dem Grübchen am Kinn.

Robert warf einen flüchtigen Blick auf Schulzeugnisse und einen unvollendeten Brief, den Erin dem Datum nach zu urteilen vor mehr als zehn Jahren geschrieben hatte. Seltsamerweise trug er die Anrede »Liebe Erin …«. Soweit Robert erkennen konnte, hatte sie sich darin Kummer von der Seele geschrieben. Doch die meisten Wörter waren unleserlich und wirkten unzusammenhängend. Schließlich löste er das rote Band, mit dem ein dickes Bündel Briefe zusammengebunden waren. Er konnte sich nicht recht entscheiden, was er in der kurzen Zeit zuerst öffnen sollte, und wählte aufs Geratewohl den Umschlag einer Geburtstagskarte.

»Meiner lieben kleinen Ruby zu ihrem fünften Geburtstag. Ich werde Dich immer liebhaben. Deine Mummy.«

Lächelnd schlug Robert die nächste Karte auf. Diesmal war es ein Glückwunsch zu Rubys siebtem Geburtstag, wieder unterschrieben mit »Mummy«.

Kein Daddy?, dachte Robert verwundert und schob die Karten wieder sorgfältig in die Umschläge. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Wann sich Erin ihren eigenen Worten nach von Rubys Vater getrennt hatte, wusste er nicht mehr, und er wollte es auch gar nicht so genau wissen. Aber er hatte allmählich den Eindruck, als sei Ruby zu dem Zeitpunkt noch sehr klein gewesen.

Er blätterte die anderen Briefe und Postkarten durch. Die meisten trugen die Londoner Adresse, wo Erin gewohnt hatte, als sie sich kennenlernten, doch etwa ein halbes Dutzend war an »Floristik taufrisch« adressiert. Es waren sowohl Postkarten mit wenigen Worten darunter als auch mehrere Seiten lange Briefe. Alle trugen als Unterschrift nur die verschnörkelten Buchstaben »BK«, in roter oder grüner Kugelschreiberschrift. Die Handschrift war kaum zu entziffern. Bei einem Brief, den Robert aus dem Umschlag nahm, hatte der Schreiber sogar über den gedruckten Briefkopf hinweggekritzelt.

Mit Mühe entzifferte er den Absender: King’s Blumen, Market Street, Brighton, und las, was BK zu sagen hatte.

Meine liebste Erin,

ich vermisse Dich ganz schrecklich. Jeder fragt mich, wo Du bist. Ich freue mich, dass Du diesmal in der großen Stadt zurechtkommst. Hüte Dich vor den ganzen garstigen Männern! Schließlich bin ich nicht mehr da, um Dich zu beschützen. Kann sein, dass ich in ein, zwei Monaten in die Stadt komme. Ich rufe Dich aber vorher an, damit Du schon mal das Bett herrichten kannst, mein Schatz.

Die Blumen lassen die Köpfe hängen, seit Du nicht mehr da bist.

Für immer in Liebe,

Dein B. K.

Robert krampfte sich der Magen zusammen. Für immer in Liebe – dafür war er doch jetzt zuständig! Er legte den Brief auf den Stapel und nahm einen anderen zur Hand. Wieder ging es um einen Besuch und darum, wie sehr Erin in Brighton vermisst wurde. Ein paar Mal wurde erwähnt, was für ein braves Kind Ruby doch sei. Einer der Briefe trug die Unterschrift »Onkel Baxter«.

Wenn der Absender aller Briefe Erins Onkel war, dann konnte sie wohl kaum eine Affäre mit ihm haben. Aber es war seltsam, dass sie nie einen Onkel erwähnt hatte. Bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte Erin ihm erzählt, dass ihre Eltern tot seien und sie weder Geschwister noch andere Verwandte besitze. Daraufhin hatte sich Robert nie wieder nach ihrer Familie erkundigt. Es gab eben keine, nur sie und Ruby. Vielleicht handelte es sich ja um einen Nennonkel und keinen richtigen Verwandten.

Das Bündel enthielt auch zwei Briefe, die Erin als Antwort an Baxter geschrieben, jedoch nie abgeschickt hatte. Sie erzählte von ihrem neuen Leben in London und davon, wie schwer es ihr gefallen sei, nach dem Brand aus Brighton wegzugehen. Sie schrieb, wie dankbar sie ihm für all das sei, was er für sie getan habe. Sie habe sich sehr über seinen Besuch am vergangenen Wochenende gefreut. Dann erzählte sie, wie es Ruby in der neuen Schule ging und dass sie selbst einen Job gefunden habe, bei dem sie Brautsträuße binden durfte. Das musste der Blumenladen sein, in dem Erin gearbeitet hatte, als sie und Robert sich kennenlernten.

Vor Roberts innerem Auge tauchte Erin so auf, wie sie bei ihrer ersten Begegnung ausgesehen hatte, doch er schob das Bild energisch beiseite. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für glückliche Erinnerungen. Er ließ den Brief sinken und starrte an die Decke. Blinzelnd versuchte er, die Tränen zurückzuhalten, die ihm plötzlich in den Augen stachen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass Erin in Brighton gelebt hatte. Und einen ehemaligen Liebhaber oder ein Feuer hatte sie auch nie erwähnt. Robert war immer davon ausgegangen, dass es für sie seit der Trennung von Rubys Vater keinen anderen Mann gegeben hatte. Das hatte er zumindest glauben wollen – weil es am wenigsten beunruhigend war, musste sich Robert eingestehen.

Vielleicht hatte sich Erin ja gerade deswegen in eine Affäre gestürzt, weil er so wenig Interesse an ihrem Vorleben gezeigt und den Gedanken an mögliche frühere Liebhaber immer verdrängt hatte! So war es ja auch Jennas Jugendliebe gewesen, die den entscheidenden Keil zwischen Robert und sie getrieben hatte. Er wusste tatsächlich erstaunlich wenig über Erins Vergangenheit, vermutlich weil er gar nichts wissen wollte. Doch das sollte sich in Zukunft gründlich ändern.

Er überflog verschiedene weitere Briefe und blieb abermals an einem hängen, der mit »Liebe Erin« begann. Allerdings war das Gekritzel auch hier wieder so unleserlich, dass er es in der kurzen Zeit, die ihm blieb, nicht entziffern konnte. Im selben Augenblick dämmerte Robert die Wahrheit. Dieser Baxter King war nicht etwa ein Teil von Erins Vergangenheit – er war noch immer ihr Liebhaber. Offenbar traf sie sich noch immer mit ihm.

Am liebsten hätte Robert unter Wutgeheul den Brief zerfetzt und wäre Erin in den Laden nachgerannt, um sie zur Rede zu stellen. Doch bevor er sich zu derart unüberlegten Handlungen hinreißen ließ, gewann sein nüchterner Anwaltsverstand die Oberhand. Mit kühlem Blick las er weitere Briefe. Darin war vom Austausch von E-Mail-Adressen die Rede und davon, dass Erin von einem Internetcafé aus Kontakt zu Baxter aufnehmen wollte. Kein Wunder, dass er keine belastenden Mails auf Erins Computer gefunden hatte. Dazu hatte sie es zu schlau angestellt. Da nicht alle Briefe datiert waren, konnte er sie zeitlich nicht genau einordnen. Doch weil in einigen Rubys Schulprobleme erwähnt wurden und manche Briefe an die Adresse von »Floristik taufrisch« gegangen waren, musste er davon ausgehen, dass die Beziehung zu Baxter seit ihrer Heirat unverändert fortbestand.

Ihm blieben nur noch etwa fünf Minuten. Robert speicherte die Adresse in Brighton in seinem Gedächtnis, als wären es die Daten eines Mandanten. Dann brachte er die Karten und Briefe wieder in die ursprüngliche Reihenfolge, legte sie in die Kassette und warf noch einen langen Blick auf diese Andenken, die Erin offenbar so teuer waren. Kurzentschlossen zog er irgendeinen der Briefe aus dem Bündel. Als Anwalt konnte er derart wichtige Beweisstücke nicht übergehen. Kaum hatte er den Deckel zugemacht und das Kästchen wieder in das Versteck hinter der Schublade gestellt, rief auch schon Erin von unten, dass sie wieder da sei.

Eilig ging er hinüber in sein eigenes Arbeitszimmer, schob den gestohlenen Brief zwischen ein paar Akten und öffnete willkürlich eine Datei auf dem Laptop.

»Ich dachte, das könnte dir gefallen.« Unversehens stand Erin hinter ihm, reichte ihm ein Glas Wein und begann, mit ihren langen, kräftigen Fingern seine Schultern durchzukneten. Robert war hin- und hergerissen. Er hasste Erin dafür, dass sie ihn hinterging, dennoch genoss sein Körper ihre Berührungen. »Komm doch runter zum Essen. Es gibt Lachs.«

Widerstrebend überließ er sich der wohltuenden Massage, unter der sich seine verspannten Muskeln lockerten. Je mehr er sich entspannte, desto mehr zweifelte er zugleich an seiner eigenen Urteilsfähigkeit. Mein Gott, es war doch seine Erin, die er liebte, ja geradezu anbetete! Sie würde ihn doch nie und nimmer betrügen! Oder? Die Tatsache, dass er ihr nicht mehr vertraute, machte es ihm unmöglich, ihre Berührungen ohne Gewissensbisse zu genießen. Erin war eine gute Frau, die sich als alleinerziehende Mutter tapfer durchgeschlagen hatte. Und jetzt tat sie alles, um ein florierendes Geschäft aufzubauen und ihre Tochter so gut wie nur möglich zu erziehen. Er seufzte. Bestimmt war alles nur ein Missverständnis. Robert rief sich ins Gedächtnis, was er sich nach Jennas Tod geschworen hatte. So etwas durfte nie wieder geschehen.

Er drehte sich um und zog Erins Kopf zu sich herab. »Kann der Lachs noch ein bisschen warten?«

Sie küssten sich so leidenschaftlich und innig wie schon lange nicht mehr. Erins Mund schmeckte nach Wein und einem Hauch Zahnpasta, ihr Haar duftete nach Kräutershampoo. Sie setzte sich auf seinen Schoß. Doch als ihr Gesicht immer näher kam, verschwammen ihre Züge plötzlich und Jenna sah ihn »Du bist ja ganz verschwitzt.« Lächelnd knöpfte sie sein Hemd auf. »Soll ich dich unter die Dusche begleiten?«

Robert erwiderte ihr Lächeln nur flüchtig. Er bemühte sich krampfhaft, den Gedanken zu verdrängen, dass Erin ihn betrog, und als er ihr tief in die hellblauen Augen blickte, wäre es ihm beinahe gelungen. Sein Körper verlangte nach ihr, doch statt seinem Verlangen nachzugeben, schob Robert Erin brüsk von seinen Knien und stand auf. Wie ein Alkoholiker, der nicht von der Flasche loskam, konnte sich Robert nicht von seinem Verdacht befreien. Immerhin hatte er einen Beweis für ihre Untreue.

»Ich muss noch an einem komplizierten Fall arbeiten«, sagte er und wandte sich ab, um Erins Blick zu entgehen. »Tut mir leid.« Geschäftig kramte er in den Papieren auf seinem Schreibtisch, bis Erin hinausgegangen war. Sie knallte die Tür so fest zu, dass der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Die Erschütterung ging ihm bis ins Herz.

Er ließ sich wieder in seinen Sessel sinken und nahm den Brief zur Hand, den er aus Erins Kassette entwendet hatte. Angestrengt versuchte er, aus dem wüsten Gekrakel schlau zu werden. Der Bogen trug keine Adresse. Anscheinend war es überhaupt kein Brief sondern nur ein paar unzusammenhängende Satzfetzen, die Erin in aller Eile aufs Papier geworfen hatte.

»… Wenn du wüsstest … endlich in Sicherheit … so schrecklich … mein Baby wieder …«

»Ach, Erin«, seufzte er, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Seine Frau war ihm ein Rätsel geworden. Wie viel Zeit seines Lebens hatte er damit vergeudet, Jenna zu belauern und zu bespitzeln, und wohin hatte das alles geführt! So etwas konnte er nicht noch einmal durchstehen.