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D
reimal wählte Robert Louisas Nummer, und jedes Mal legte er schnell wieder auf, bevor jemand abnehmen konnte.
… Lass uns in Verbindung bleiben, Rob. Wenn du irgendwann mal Hilfe brauchst …
Noch immer klangen ihm die Worte in den Ohren, die sie vor fast einem Jahr zum Abschied gesagt hatte. Gestern in der Bar des Sportclubs hatte Den erwähnt, dass sie zur Hochzeit einer Cousine wieder nach England gekommen war. Robert musste an Louisas handfeste, aufrichtige Wesensart denken. Vielleicht konnte sie ihm ja helfen.
»Hallo.« Es war noch dieselbe klare Stimme, dieselbe Louisa. »Hallo, wer ist da?«
Robert legte auf. Hier in der Tiefgarage war der Empfang sowieso schlecht, und außerdem war sie vermutlich viel zu beschäftigt, um sich mit ihm zu treffen. Das Mobiltelefon fest in der Hand, als sei es seine einzige Verbindung zu einer vernunftbegabten Welt, fuhr er mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock, wo sich die Büros von Mason & Knight befanden. Mit ihrer nüchternen Art und ihrem gesunden Menschenverstand hatte Louisa ihm viel gegeben. Sie hatte ihn Liebe und Vertrauen gelehrt und ihm beigebracht, das Leben zu nehmen, wie es kam, und sich nicht vorab den Kopf über zukünftige Probleme zu zerbrechen. Und das alles auf eine sehr liebenswerte Art und Weise, dachte er und verstaute das Handy in der Innentasche seines Jacketts. So war Louisa eben.
Robert schätzte, dass ihm noch eine Viertelstunde blieb, bevor Jed Bowman aufkreuzen würde – falls er sich überhaupt bequemte, aus dem Bett aufzustehen. Es war keine angenehme Aussicht, diesem einsachtzig großen Schlägertypen erklären zu müssen, dass bei der ersten Anhörung möglicherweise nicht alles nach seinen Wünschen gehen würde. Und heute hatte Robert schon gar keine Lust dazu. Die Anhörung war erst nächsten Woche, doch er wollte Jed rechtzeitig eintrichtern, dass er im Gerichtssaal weder fluchen noch rauchen durfte und dass er einen Anzug tragen musste. Es war wichtig, dass Jed kapierte, was für ihn auf dem Spiel stand. Schließlich wollte er nicht nur seiner angeblich drogenabhängigen Frau eins auswischen, sondern das Sorgerecht für seine Kinder erhalten.
Robert musste laut lachen, als er sich Bowman im Anzug vorstellte. Er konnte es direkt vor sich sehen: die schmuddeligen, nikotinfleckigen Hände, die aus zu kurzen, ausgefransten Manschetten hervorsahen, und den altmodischen schmalen Schlips mit dem schief gebundenen lockeren Knoten. Aber er war diesem Faulenzer und Tunichtgut von Amts wegen als Anwalt beigestellt worden und hatte den Fall daher übernehmen müssen. In letzter Zeit fielen ihm in ihrer Zwei-Mann-Kanzlei immer die undankbaren Aufgaben zu.
Robert konnte Jed Bowman schon riechen, bevor er ihn sah. Tanya, die Sekretärin von Mason & Knight, rümpfte ebenfalls die Nase und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Glastür zum Wartezimmer, hinter der eine große Gestalt auf und ab tigerte. Bei jedem Schritt verbreitete Jed den Mief von ungelüfteten Kleidern, Bier und Zigarettenrauch. Als er Roberts Stimme hörte, drehte er sich um und starrte ihn mit finsterem Blick an.
»Wurde auch verdammt Zeit«, knurrte er und ließ seine Kippe in eine halbleere Teetasse fallen. »Sie sind hier nämlich nicht der Einzige, der zu tun hat.«
Robert entschuldigte sich höflich, während er innerlich über das dumme Gemeckere seines Mandanten fluchte, und sagte dann: »Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«
»Ich hab nicht viel Zeit, wissen Sie. Muss zurück auf die Baustelle.« Jed hinterließ auf dem Teppich eine helle Schlammspur – vermutlich Zement – und verströmte aus allen Poren Aggressivität.
»Baustelle? Haben Sie denn einen Job?« Falls Jed eine feste Arbeit vorweisen und damit zeigen konnte, dass er bereit war, Ordnung in sein Leben zu bringen, würde das seiner Sache ungemein nutzen.
»Nicht direkt«, antwortete Jed rasch. Er kratzte sich mit seinen plumpen Fingern das stoppelige Kinn und machte ein Gesicht, als hätte er schon zu viel gesagt.
»Natürlich nicht.« Wie könntest du auch einen bezahlten Job haben, wo du doch die Sozialhilfe einstreichst, fügte Robert in Gedanken hinzu. Dieser Mann hatte nicht das geringste Interesse daran, die Verantwortung für seine Kinder zu übernehmen. Ihm ging es, seit er seine Frau mit seinem Bruder im Bett überrascht hatte, einzig und allein darum, ihr zu schaden. Robert hatte die schmutzige Geschichte schon mehrfach gehört, auch wenn sein wütender Mandant sie jedes Mal ein wenig anders ausschmückte. Jed Bowman war ein aufbrausender Mensch.
»Wann haben Sie Ihre Kinder das letzte Mal gesehen, Jed?« Robert stellte seine Aktentasche unter den lederbezogenen Schreibtisch und zog das Jackett aus. Als er das Handy in der Jackentasche fühlte, musste er für einen Augenblick erneut an Louisa denken. Es drängte ihn danach, Bowman rasch loszuwerden und sie noch einmal anzurufen.
»Ist schon ein paar Wochen her. Sie lässt mich nicht zu ihnen.« Jed zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche seines fleckigen Hemdes.
»Hier ist ein Nichtraucherbüro. Aber wir sind bald fertig. Könnten Sie so lange warten?«
Jed zog ein Gesicht. »Muss ich ja wohl. Ich will nur meine Kids aus dem Haus da holen. Sie hat jetzt einen Mann mit ’nem Tuntenauto und einem tollen Job.«
»Wissen Sie das genau?«
»Das haben mir meine Nachbarn erzählt. Meine ehemaligen Nachbarn«, verbesserte er sich.
Robert sah mit Erstaunen, wie eingefallen Jed Bowmans sonnenverbranntes Gesicht wirkte. An Hals und Wangen warf die stoppelige Haut Falten, was ihm das Aussehen einer alten, zahnlosen Bulldogge verlieh.
»Ich hab sie wirklich geliebt, Mann. Ganz ehrlich.«
Aus einem Impuls, den er sich selbst nicht erklären konnte, öffnete Robert ein Fach seines Schreibtisches und holte einen Aschenbecher aus Kristallglas heraus. Er hatte ihn nicht mehr benutzt, seit er sich nach seiner Hochzeit mit Erin das Rauchen abgewöhnt hatte. Auch während des turbulenten letzten Wochenendes hatte er kein Bedürfnis nach Nikotin verspürt, doch als er jetzt sah, wie Jeds Gesicht beim Anblick des Aschenbechers etwas von seiner alten Festigkeit zurückgewann, hätte er seinen Mandanten am liebsten um eine Zigarette gebeten.
Oder hatte es etwas mit Louisas klarer, heller Stimme zu tun?
Robert ging mit seinem Mandanten die Unterlagen durch, auch wenn er daran zweifelte, dass sich Jed wirklich bewusst war, was eine Niederlage für ihn bedeuten würde. Seine Zeugen waren wenig vertrauenswürdig, und alle bis auf einen hatten mit Alkohol und Drogen zu tun. Roberts Fähigkeiten als Anwalt waren aufs Äußerste gefordert, wenn er beweisen wollte, dass Mary Bowman als Mutter ihrer beiden Kinder ungeeignet war, wo doch der Vater mit solch zwielichtigen Gestalten verkehrte.
Bestenfalls würde man die Kinder in eine Pflegefamilie geben. Schlimmstenfalls jedoch … Robert musste sich eingestehen, dass ein Zusammenleben mit ihrem Vater wohl die schlechteste Lösung wäre, obgleich er Mary Bowman nicht kannte und ihre Qualitäten als Mutter daher nicht beurteilen konnte. Bisher hatte er nur durch Jed von ihr gehört, der kein gutes Haar an seiner Frau ließ.
»Also, Punkt neun Uhr. Und bitte rasiert und in einem ordentlichen Anzug.« Robert erhob sich, beugte sich in der blauen Wolke aus Zigarettenqualm über den Schreibtisch und wollte seinem Mandanten aus purer Gewohnheit die Hand reichen. Doch als er Jeds schmutzige Hände und Fingernägel sah, verzichtete er darauf.
»Ich werd mir einen borgen müssen.« Übel gelaunt angesichts dieses Aufwandes verließ Jed die Kanzlei.
Robert zwang sich, nicht gleich wieder zum Telefon zu greifen, und ging stattdessen mit Tanya einige Akten durch, bis sie ihn darauf aufmerksam machte, dass sie dieselben Fälle bereits in der Woche zuvor besprochen hatten.
Dann unterbrach Robert eine Telefonkonferenz in Dens Büro. Schließlich begab er sich in sein eigenes rauchgeschwängertes Zimmer und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Nachdem er sein Handy eingeschaltet hatte, wurde ihm eine Nachricht auf seiner Mailbox angezeigt. Er hörte sie ab.
»Robert, ich glaub es nicht! Deine Nummer wurde angezeigt, aber ich konnte dich nicht hören. Wahrscheinlich war die Verbindung schlecht. Egal, wie geht’s dir? Wir haben so lange nichts voneinander gehört! Weißt du, dass ich wieder für eine Weile in England bin? Ruf mich doch zurück, und dann verabreden wir uns. Das heißt, nur falls du willst. Vielleicht hast du ja auch keine Lust dazu oder kannst nicht oder sonstwas. Du weißt schon. Ach, ruf mich doch einfach an.«
Das war Louisa – klar und deutlich wie immer.
Er drückte die Rückruftaste und verbrannte sich in dem Augenblick, als er ihre Stimme hörte, den Mund am heißen Kaffee.
»Rob?«
»Ja, ich bin’s«, antwortete er und musste trotz der schmerzenden Lippen grinsen. »Ist dort etwa Miss Forrest?« Dann bemerkte er sein Versehen.
»Da müssen Sie sich verwählt haben«, hörte er ihre ironische Stimme.
»Was macht denn das Eheleben, Mrs …« Er schluckte. Es fiel ihm schwer, den Namen auszusprechen. »Mrs van Holten?«
»Nun, danke der Nachfrage, mein lieber Mr Knight, das Eheleben ist einfach herrlich!« Dann hörte er ihr Kichern, und mit ihm kamen tausend verschiedene Erinnerungen. Es war nicht das alberne Kichern eines Teenagers oder einer koketten jungen Frau, sondern das leise, selbstsichere Lachen einer Frau, die genau weiß, was sie vom Leben erwartet. Ob sie es auch bekommen hatte, wusste Robert nicht. »Und darf ich Sie das Gleiche fragen?«
»Mein Leben ist ebenfalls ganz herrlich, Mrs van … van Holten. Genau, wie Sie es mir versprochen haben.« Robert erinnerte sich noch an die winzige Spur von Traurigkeit in Louisas Blick, sorgsam hinter einem Lächeln verborgen, als er ihr Erin vorgestellt hatte.
»Wirklich? Das freut mich sehr für dich, Robert! Du hast es verdient, nach allem, was du durchgemacht hast.« Er glaubte, einen kaum vernehmlichen Seufzer zu hören. Vielleicht war es aber auch nur ein Knistern in der Leitung gewesen.
»Du auch.« Plötzlich merkte Robert, dass ihre Unterhaltung dabei war, in Gefühlsduselei abzugleiten. Das konnte nicht lange gutgehen. »Bist du in London?« Gespannt hielt er den Atem an.
»Leider nein, sonst würde ich gleich bei dir anklopfen und dich zum Essen abholen.«
Robert schloss für eine Sekunde die Augen, froh, dass Louisa es nicht sehen konnte.
»Ich bin über das Wochenende in Somerset zur Hochzeit meiner Cousine eingeladen. Und danach fahre ich ein bisschen durchs Land und besuche ein paar ältere Verwandte.« Ihre Stimme klang müde.
»Wann musst du nach Amsterdam zurück?« Den hatte ihm schon gesagt, dass sie mehrere Wochen in England bleiben wollte. Er wusste es von einem Geschäftspartner, der Louisa engagiert hatte, oder so ähnlich. Robert konnte sich nicht mehr genau erinnern – immerhin hatte er da schon fünf Bier intus gehabt.
»Du kennst mich doch. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe ein paar Aufträge für eine holländische Agentur angenommen. Daher kann es sein, dass ich nur eine Woche bleibe, vielleicht aber auch vier.«
»Wir sollten uns treffen.« Robert hielt den Atem an. Er dachte an Erin und wünschte, er hätte nicht angerufen.
»Ja, gern. Was hast du am nächsten Wochenende vor?«
Robert zögerte ein wenig mit der Antwort. Louisa hatte doch gerade von dieser Hochzeit erzählt! Wollte sie ihn etwa nach Somerset einladen? Und Erin und Ruby vielleicht auch? Er lächelte bei dem Gedanken. Ein paar Tage auszuspannen würde ihnen allen wahrscheinlich guttun.
»Nichts Besonderes, aber das hängt von Erin ab. Gut möglich, dass sie kurzfristig eine Dinnerparty arrangiert.« Er lachte ein wenig, damit seine Lüge glaubwürdiger klang. Erin stand im Augenblick gewiss nicht der Sinn nach Partys. »Was hast du dir denn vorgestellt?«
»Warum packst du nicht deine Familie ins Auto und kommst übers Wochenende aufs Land? Willem fliegt auch zur Hochzeit her, und dann könnten wir uns alle, na ja, mal wiedersehen.«
Robert versprach, sie anzurufen, sobald er mit Erin gesprochen hatte. Er hoffte, dass sich seine Frau für die Idee begeistern konnte. Sie hatte Louisa bisher nur einmal getroffen, vor ihrer Hochzeit, kurz bevor Louisa das Land verließ, um einen Holländer zu heiraten. Sicher, er und Louisa hatten sich sehr nahe gestanden, aber das gehörte der Vergangenheit an.
Außerdem war ein Ausflug aufs Land durchaus die geeignete Überraschung, die er Ruby versprochen hatte. Und wer weiß? Womöglich würde dieser Plan auch Erins Zorn darüber beschwichtigen, dass er Ruby zum Greywood College gebracht hatte.
Nachdem Erin geduscht und sich umgezogen hatte, kam sie die Treppe herunter und trat wie ein Frühlingshauch in die Küche. Doch trotz ihres frischen Aussehens wirkte sie erschöpft und begann sofort, von ihrem anstrengenden Tag im Geschäft zu berichten. Robert reichte ihr ein kühles Glas Wein. Der Abend war für Anfang Juni ungewöhnlich schwül und windstill.
»Und heute ist sie erst um elf Uhr aufgekreuzt«, sagte Erin gerade. »Der habe ich aber was erzählt! Du bist gefeuert, mein Fräulein, habe ich zu ihr gesagt.« Erin nahm den Wein und lächelte Robert zu. »Du bist einfach wunderbar. Was hast du vor?« Sie betrachtete die vielen Zutaten auf der Arbeitsplatte und schnupperte die ungewohnten Düfte.
»Ach, nichts Besonderes. Ich hatte nur mal Lust zu kochen.« Robert legte die Arme um Erin, drückte sie an sich und atmete den Duft ihres frisch gewaschenen Haares ein. Er kochte höchst selten und wollte sich in Wahrheit nur bei seiner Frau einschmeicheln, bevor er ihr die Sache mit dem College beichtete. Hoffentlich klappte alles! Er hatte Tanya gebeten, ihm ein Rezept aus dem Internet zu suchen und die erforderlichen Zutaten zu besorgen.
»Ruby ist heute ausgesprochen munter«, sagte Erin. »Danke, dass sie nach der Schule in die Kanzlei kommen durfte. Das ist für sie mal eine Abwechslung vom Laden.«
»Kein Problem«, erwiderte Robert und überlegte kurz, ob jetzt wohl der richtige Moment war, ihr alles zu erzählen. Er gab das geschnittene Hähnchenfilet in den heißen Wok, worauf sich die Küche mit Rauch füllte.
»Ob du es glaubst oder nicht, sie macht doch tatsächlich gerade Hausaufgaben.« Als Erin die steile Falte auf Roberts Stirn bemerkte, blickte sie ihn scharf an. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Du freust dich anscheinend gar nicht, dass Ruby heute in der Schule nicht belästigt wurde.«
»Doch, natürlich.« Robert legte den Pfannenwender ab, drehte das Gas herunter und wandte sich zu seiner Frau um. Als er ihr die Hände auf die Schultern legte, ging ihm unvermittelt durch den Kopf, wie zerbrechlich sie doch wirkte. Dann setzte er zum Sprechen an. »Hör mal, ich muss dir …«
»Dad, ich brauche deine Hilfe. Die anderen Mädchen beschäftigen sich schon seit Wochen mit diesem Projekt, und Miss Draper sagt, ich soll versuchen, bis zum Ende des Schuljahres aufzuholen, und …«
»Deine Mutter und ich wollten gerade etwas besprechen, Ruby. Ich komme gleich hoch und helfe dir.«
Ruby blickte erst ihre Mutter, dann Robert an. Als sie begriff, liefen ihre Wangen rot an. »Oh«, sagte sie nur und zog sich rasch wieder zurück.
»Wer ist Miss Draper?« Erin schüttelte Roberts Hände ab. »Und bei welchem Projekt soll Ruby aufholen?« Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Rob?«
Robert drehte den Herd ganz ab und schob Erin einen Stuhl hin. Ohne die Augen von ihm zu wenden, setzte sie sich ihm gegenüber an den Tisch. Robert wich ihrem Blick aus und schaute stattdessen auf ihre schlanken Hände, die sie nervös knetete.
»Ich habe Ruby heute nach Greywood College gebracht, Erin. Sie konnte einfach nicht weiter in ihre alte Schule gehen.« Endlich blickte er auf. Die Spannung zwischen ihnen war beinahe mit Händen zu greifen. Wie vertraut ihm dieses Gefühl von Enttäuschung und Misstrauen war – nur dass er diesmal den Grund dafür geliefert hatte.
»Wie konntest du nur?« Erin stand auf, ging zur Spüle hinüber und starrte durch die Fensterscheibe hinaus in den kleinen Garten mit dem Weidenbaum, unter dem sie sich einmal geliebt hatten. Die Gefahr, entdeckt zu werden, hatte es besonders aufregend gemacht.
»Ich weiß, dass Ruby deine Tochter ist, aber durch unsere Heirat habe auch ich einen Teil der Verantwortung für sie übernommen. Wir sind doch jetzt eine Familie, und wenn ich glaube, dass es das Beste für Ruby ist …«
»Was du sagst, wird also gemacht, ja?« Erin fuhr herum und starrte ihn mit harten, kalten Augen und schmalen Lippen an. »Worum es dabei in Wahrheit geht, ist dir ganz gleich.«
»Es geht darum, dass Ruby glücklich ist. Als ich sie heute Nachmittag abholte, strahlte sie über das ganze Gesicht.« Robert hatte zwar weder Lust zum Kochen noch Appetit, doch um ihrem Streit die Spitze zu nehmen, schaltete er den Herd wieder ein und goss die vorbereitete Sauce auf die Fleischstücke. Wahrscheinlich würde außer Ruby niemand etwas davon essen …
Als Ruby herunterkam, verließ Erin die Küche. Das Mädchen schaute Robert fragend an.
»Deine Mutter ist nicht besonders begeistert darüber, Liebes«, sagte er und gab ihr ein wenig Sauce zum Kosten.
»Scharf, aber lecker«, sagte sie nur. »Muss ich jetzt doch wieder in meine alte Schule gehen?«
»Auf gar keinen Fall. Mach dir deswegen keine Sorgen.« Jetzt warf auch Robert einen Blick aus dem Fenster. Beim Anblick der Weide musste er daran denken, wie leidenschaftlich sich Erin ihm hingegeben hatte. Er wollte sie doch nur von ganzem Herzen lieben dürfen. »Und eine Überraschung habe ich auch für euch.«
Kaum hatte er dies gesagt, hellte sich Rubys Miene auf und sie rannte hinaus, um ihre Mutter zu holen.
Das Essen schmeckte recht gut, auch wenn es etwas zu scharf gewürzt war für diesen drückend heißen Abend. Ein einfacher Salat hätte besser gepasst. Ruby, die der aufregende Tag hungrig gemacht hatte, aß ihre Portion auf, doch Erin schob das Essen auf dem Teller hin und her, wie ein Kind, das keinen Appetit hat.
Sie sprachen kaum etwas, und als Ruby einmal ihre neue Schule erwähnte, brachte Robert sie mit einem warnenden Blick zum Schweigen. Erin war noch immer schlecht gelaunt wegen der Probleme im Geschäft und murmelte etwas von unzuverlässigen Angestellten. Sie war noch dabei, sich einen Kundenstamm aufzubauen, denn der Vorbesitzer hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt, wie ein Blumenladen geführt werden musste. Robert hatte Erin das Geschäft zur Hochzeit geschenkt und war überzeugt, dass sie damit Erfolg haben würde. Sie war tüchtig, wusste alles über den Blumenhandel, und zudem befand sich der Laden in einer der besten Lagen an der Haupteinkaufsstraße.
»Ich habe es ihr schon hundertmal gesagt, aber sie hat einfach keine Lust zum Arbeiten.« Erin schien laut zu denken. »Ich muss mich nach jemand anderem umsehen.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich sie diesmal wirklich rausgeschmissen habe.«
Robert streichelte ihre Schulter. »Vielleicht solltest du ihr noch eine Chance geben. Ruf sie einfach an und bitte sie, wiederzukommen. Wenigstens am nächsten Samstag.« Er warf Ruby einen Blick zu. »Ich glaube, deine Mutter könnte ein bisschen Erholung vertragen.«
»Wovon um alles in der Welt redest du, Robert?« Immer noch verärgert, erhob sich Erin und begann, das Geschirr abzuräumen. Doch Robert unterbrach sie.
»Setz dich bitte noch mal her. Wie wäre es mit einem Wochenende in einem romantischen Hotel auf dem Land? Es gibt dort ein Schwimmbad und einen Wellnessbereich, und man kann reiten und Golf oder Tennis spielen. Und anschließend kannst du dich massieren lassen oder zur Kosmetikerin gehen.«
Louisa hatte Robert den Namen des Hotels genannt, in dem die Hochzeit stattfinden sollte. Daraufhin hatte er sich die Website angeschaut und sich erkundigt, ob es für das Wochenende noch freie Zimmer gab. »Ich habe Ruby eine Überraschung versprochen und ich dachte, ein Wochenendtrip würde uns allen guttun.«
Erin nahm die Ankündigung mit unbewegter Miene auf. Ganz still saß sie da, die Hände auf der Tischplatte gefaltet, und verriet mit keinem Blick, was sie von dem Vorschlag hielt. Ruby dagegen sprang auf und fiel Robert um den Hals. Wenigstens bei einem Mitglied der Familie habe ich einen Treffer gelandet, dachte Robert.
»Darf ich da reiten, Dad?«
Sie hatte schon wieder Dad gesagt. Ihm wurde ganz wohlig zumute. Er nickte und drückte Rubys Hand, die trotz der Hitze eiskalt war.
»Wie wäre es, wenn du diese Briefe holen würdest, die du in der Schule bekommen hast? Du hast doch gesagt, ein paar davon sind wichtig.«
Ruby nickte und lief los, um ihre Schultasche zu holen.
»Das gefällt mir nicht, Rob.« Erin blickte ihrem Mann fest in die Augen. »Ganz und gar nicht.«
Zumindest hatte sie ihn wieder eines Blickes gewürdigt. Das war zumindest ein Anfang. »Es ist doch nur für ein Wochenende.«
»Ich meine nicht das Wochenende. Das ist …« Sie zögerte und nahm Roberts Hand. »Das ist eine nette Idee. Ich wollte sagen, dass mir die Sache mit Greywood nicht gefällt. Wegen dem Weglaufen vor Problemen«, setzte sie hinzu, als müsste sie ihn an ihre Beweggründe erinnern.
Kurz darauf kehrte Ruby mit einem ganzen Stapel Papier zurück, und Robert blätterte ihn durch. »Dafür brauchst du ja eine Sekretärin, Ruby! Hoffentlich ist es nur so viel, weil du in dieser Schule neu bist.« Er überflog die Briefe. »Um das hier musst du dich kümmern, Erin. Du weißt ja, sie brauchen eine Kopie von Rubys Geburtsurkunde und von ihrem Impfausweis. Ich erledige das mit dem dicken Scheck.« Robert lächelte, nach wie vor nur allzu bereit, alle Kosten für Rubys Schulausbildung zu tragen.
»Ich dachte, du hättest das Schulgeld schon bezahlt.«
»Hab ich auch. Das hier ist für die Klassenfahrt nach Wien, im August. Das Ganze wurde schon vor ein paar Monaten organisiert, aber weil Ruby neu ist, müssen wir jetzt gleich alle Formulare ausfüllen, damit sie mitfahren kann.« Robert war klar, dass Ruby bei allen Schulaktivitäten mitmachen musste, wenn sie dort ein Bein auf den Boden bekommen wollte.
»Wien?« Erins Stimme klang ganz dünn. Sie kniff ungläubig die Augen zusammen.
Ruby hüpfte vor Aufregung von einem Bein aufs andere. »Wir bekommen Unterricht am Wiener Konservatorium, und ich darf im Opernhaus Klavier spielen! Dann schauen wir uns noch alle möglichen Sachen an, und eine Disko gibt es auch und …«
»Wien – das ist doch in Österreich.« Erins leise Worte unterbrachen den begeisterten Redeschwall ihrer Tochter.
»Ich fliege mit dem Flugzeug, Mum. Endlich mal!«
Erin saß steif und bewegungslos da, nur ihr leicht zitterndes Kinn verriet ihre innere Anspannung.
»Es ist eine tolle Gelegenheit für Ruby. Übrigens, wir könnten in der Zeit auch für ein paar Tage wegfahren!« Robert legte Erin die Hand aufs Bein, doch sie zuckte zurück. »Mein Gott, ich dachte, du würdest dich freuen!«
Er stand auf und stellte die Teller zusammen. Er vermochte sich Erins Verhalten in den letzten Tagen einfach nicht zu erklären. Die Aussicht, dass ihre Tochter in eine Stadt mit einem derart regen kulturellen Leben wie Wien reisen würde, hätte Erin normalerweise in helle Begeisterung versetzt. Schließlich hatten Rubys Bedürfnisse für sie Vorrang vor allem anderen. Das war ein Zug, den Robert an seiner Frau besonders bewunderte.
Mit viel Geklapper stellte er das Geschirr in die Spülmaschine.
»Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht für sie freue …«, begann Erin, doch dann versagte ihr die Stimme, und sie blickte Robert mit schmerzerfüllten Augen an. »Es ist nur …« Sie senkte den Kopf. »Sie kann eben nicht mitfahren.«
»Ach, Unfug«, erwiderte Robert. Er wollte sich diese Mätzchen nicht länger bieten lassen. Ruby würde mit nach Wien fliegen, und wenn er sie selbst dorthin begleiten musste. »Ruby ist alt genug, um ein Wörtchen mitzureden. Das Mädchen ist ja schließlich nicht dein Eigentum.« Er registrierte das Zucken um Erins Mund, ihren plötzlich ausdruckslosen Blick, und sprach dennoch weiter. »Vergiss nicht, auch die anderen Formulare auszufüllen und Rubys Papiere rauszusuchen. Das ist wichtig.«
Robert trocknete sich die Hände ab. Er hatte sich schon wieder ein wenig beruhigt. Wenn Erin Bedenken wegen der Reise nach Wien hatte, würde er Verständnis zeigen und dann versuchen, sie zu ihrer Einwilligung zu überreden. Das Wochenende in Somerset war dafür bestimmt der richtige Zeitpunkt. Jetzt brauchte er ihr bloß noch beizubringen, dass auch Louisa da sein würde.