38. Kapitel

Blue hatte ein wirklich grässlich anzusehendes Hemd aus beschichtetem Polyvinylgewebe ergattert und sofort übergezogen. Es war bunt gemustert und roch erbärmlich nach Chemie. Die Hitze machte es nicht gerade erträglicher, das Ding zu tragen, aber Blue kannte das ja und solange es flammhemmend war, war es perfekt. Mit nacktem Oberkörper wäre er auf jeden Fall mehr aufgefallen, als er es durch seine Größe und sein Aussehen vermutlich schon tat.

Das Hotel war dann eine Katastrophe, wenn auch perfekt für seine Zwecke. Der Rezeptionist – sofern man den alten, halbblinden Mann als solchen bezeichnen konnte – stellte keine Fragen und nahm sich das Geld brav selber aus Blues Metallschatulle. Da Blue keine Handschuhe bekommen hatte, musste er im Umgang mit Menschen und eventuell brennbaren Materialien extrem vorsichtig sein.

In seinem Zimmer hockte er sich dann auf den Steinboden, um zu schlafen. Doch seine Gefühle spielten verrückt und er unterdrückte ein Schluchzen. Alles in seinem Leben lief verkehrt. Nichts machte mehr Sinn. Er dachte an Vanessa und verdrängte zugleich den Gedanken an sie und Merenpath. Er hatte sie in seiner Gewalt und verbrachte gerade eine Menge Zeit mit ihr alleine. Was wenn er gerade jetzt das Ritual der Vereinigung vollzog? Eine Träne stahl sich aus seinen Augen. Dabei hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr geweint.

Eine blaue Feder schwebte langsam von der Decke, streifte Blues Nase, als wolle sie ihn trösten. Überrascht hob er den Kopf und versuchte zu erkennen, woher das kleine, zarte Ding gekommen war. Dann schüttelte er den Kopf, als wäre auch das nur Zeitverschwendung und konzentrierte sich wieder auf seinen Schmerz, der so heftig in seiner Brust brannte, dass er am liebsten alles hier in Kairo in Flammen gesetzt hätte. Er fühlte sich alleine und leer und wusste doch, dass er selbst etwas gegen diese Zustand unternehmen musste. Wie jeder Mensch sehnte er sich nach Sinnhaftigkeit, Ganzheit und Hoffnung. Hoffnung auf ein erfülltes Leben, auf die Frau, die er liebte und auf Berührungen, die nicht ausschließlich körperlicher Natur waren. Er wollte es so sehr und – ja – er war bereit noch einmal zu bitten, obwohl er beim letzten Mal gleich zwei Raketen um die Ohren gepfeffert bekommen hatte. Doch hier auf diesem kühlen Steinboden und dem heruntergekommenen Zimmer hatte er nun das Gefühl den richtigen Zeitpunkt gewählt zu haben. Genau konnte er es nicht erklären, doch er fühlte sich mit einem Mal wie ein Teil eines großen Ganzen. Als gäbe es keinen Gott oder mehrere Götter, sondern nur dieses eine große Ganze und genau das bat er um Hilfe. Er betete aus ganzem, offenen Herzen, fühlte sich gut dabei und geborgen ... und erzeugte damit plötzlich einen wahren Regen von blauen Federn. Aus allen Ritzen und Ecken schienen sie zu dringen und wie aus dem Nichts zu entstehen. Auch von der Decke segelten sie herab, waren fluffig weich und fantastisch blau. Blue griff staunend in die blaue Pracht und rieb ein paar der weichen Dinger zwischen seinen Fingern, ohne sie abzufackeln. Er lächelte sogar einen Moment und staunte über die wunderbare Weichheit, ehe eine Stimme hinter ihn völlig aus dem Konzept brachte.

„Es ist an der Zeit“, flüsterte diese Stimme und obwohl sie sanft klang, zuckte Blue erschrocken zusammen, kam sofort in die Höhe und drehte sich blitzschnell um die eigene Achse. Als er dann den unerwarteten Eindringling vor sich sah, blieb ihm vor Schreck das Herz stehen. Alle Luft wich aus seinen Lungen und er bekam am ganzen Körper Gänsehaut.

„DU!!!“, keuchte er schließlich fassungslos.

„Ja, ich.“

„Aber du ... bist tot!“ Blue atmete so schwer, dass er kaum noch sprechen konnte.

„Das denke ich nicht“, flüsterte der Eindringling und grinste frech. Blue rieb sich zur Sicherheit die Augen und starrte noch einmal auf das Wesen.

„Joshua! Aber ich ... habe dich getötet!“

„Aber Andreas, Engel kann man nicht töten.“

„Aber ich ...“

„Nein, ich habe mich für dich geopfert.“

„WAS?“ Blue war außer sich, wütend, durcheinander und erfüllt von einer Ehrfurcht, die er am liebsten negiert hätte. Dieses Wesen hatte ihm Jahre in der Hölle bereitet und wandelte dennoch unter den Lebenden? Solch einen Schwachsinn musste der Engel erst einmal erklären. Gott, was hatte er für seine Schandtat nicht gebüßt und dann war der Dreckskerl noch nicht mal verletzt?

„Von wegen nicht verletzt, Andreas! Ich bin kurzfristig für dich gestorben und deine Art zu töten hat verdammt weh getan.“ Der Engel hatte ganz klar seine Gedanken gelesen und sich nicht einmal an dem Wort „Dreckskerl“ gestoßen, sondern nur an seiner angeblich falschen Schlussfolgerung. Blue war fasziniert und auch irgendwie erleichtert. Immerhin schien er plötzlich nicht mehr der Idiot der Nation zu sein. Trotzdem hatte er qualvolle Jahre hinter sich und riesengroße Erleichterung, wegen möglicher Schuldfreiheit, gab sich gerade mit rasender Wut, wegen falscher Strafe, einen heftigen Schlagabtausch.

„Ich habe mich für dich geopfert, um dich wieder auf den Weg zu bringen.“

„Indem du mich gezeichnet hast wie einen Hund?“ Blue hasste dieses heilige Getue und er wollte Klartext reden. Immerhin hatte sich der Mistkerl über drei Jahre lang nicht blicken lassen. Joshua aber neigte nur den Kopf und betrachtete mit arrogant hochgezogener Augenbraue seine Fingernägel.

„Möchtest du dich wirklich als Hund bezeichnen? Als kleines, süßes Wuscheltier?“

„Ich-bin-kein-Wuscheltier!“, blaffte Blue und stemmte seine Hände in die Seite. „Und ich bin sicher nicht süß!“

„Dafür bist du wunderschön“, meinte der Engel und grinste auf eine Weise die frech war und zugleich ehrlich. Blue war verwirrt. So wie der Mistkerl da stand, wirkte er selbstgefällig und arrogant und doch schaffte er etwas Nettes zu sagen, das noch dazu irgendwie heilig klang. Wie gesagt ... Blue hasste diesen heiligen Scheiß. Aber er begriff auch, dass dieser Engel mit seiner blauen Aura offenbar die Quelle von Blues Magie war. Nicht Gott hatte ihn gezeichnet, sondern einzig und alleine dieser Engel. Als er gestorben war – ob nun für ihn oder einfach, weil er blöd im Weg gestanden hatte – war seine Magie offenbar an Blue übergegangen. Vanessa hatte etwas von göttlichem Anker gesagt und genau das waren seine blauen Linien wohl ... die magische Verbindung zu Joshua und der Anker für den Engel, um auf die Erde zu kommen. Joshua nickte kurz, als hätte Blue alles laut ausgesprochen. Blue wurde wieder ärgerlich.

„Warum die blauen Fluffifedern?“, fragte er, weil er den Mistkerl irgendwie aus der Reserve locken wollte. Doch der ließ sich nur bedingt provozieren. Die Frage wollte er dennoch nicht unbeantwortet lassen und so klappte er mit einem lässigen Grinsen auf den Lippen seine mächtigen, großen und sehr blauen Flügel hervor.

Blues Augen wurden groß. Wo Joshua die Dinger zuvor untergebracht hatte war Blue ein Rätsel, denn das Federzeug hatte gut und gerne eine Spannweite von vier Metern und nahm den ganzen Raum ein. Der Anblick war fantastisch und das Zimmer erstrahlte mit einem Mal in diesem wunderbaren Licht, das nicht zu vergleichen war mit seinem Blau, wenn er in Rage geriet oder Angst hatte. Es war die gleich Magie und doch völlig anders. Denn, das was er nun fühlte war doch tatsächlich Liebe und Geborgenheit.

„Scheiße, das ist gut.“

„Ja, nicht wahr? Ich liebe Drama.“ Joshua grinste bis über beide Ohren und wackelte ein wenig mit der blauen Flügelpracht.

„Aber du verlierst Federn! Zum Glück bist du kein Fisch, sonst wären es Schuppen.“ Joshua bekam große Augen.

„Sieh an, sieh an!“, meinte er dann. „Da hat jemand Humor dazu bekommen. Hm, ich sehe noch Hoffnung für dich am Horizont, Andreas.“ Er lächelte kurz, dann wurde er schlagartig ernst und seine Augen begannen blau-türkis zu schimmern.

„Du fragst dich sicher warum du all das durchleben musstest und ich will dich nun nicht länger auf die Folter spannen.“ Kurz biss er sich auf die Lippen. „Sorry, das war kein beabsichtigtes Wortspiel. Ich weiß, wie hart die letzten Monate und Jahre waren. Aber es war nun einmal an der Zeit etwas zu lernen.“ Joshua legte seine Hände auf Blues Schultern und sah ihm direkt in die Augen. Sein Blick war hypnotisch und ganz klar nicht von dieser Welt.

„Das Leben kann nicht mit solch einer Selbstverständlichkeit verschwendet werden. Ein Leben ohne Gefühl und Liebe, nur getrieben von der Macht zu zerstören ist deiner nicht würdig. In dir steckt bedeutend mehr, vor allem mehr Respekt dir und dem Leben gegenüber. Und natürlich war es höchste Zeit für etwas Demut.“ Joshua nickte, als wäre das der für ihn wichtigste Punkt. „Der Genuss, den du beim Töten verspürt hast, war auch ein wenig fragwürdig. Wobei ich diese scheiß Dämonen auch nicht leiden kann.“ Er grinste so gemein wie es sonst nur Verbrecher konnten.

„Bist du sicher, dass du ein heiliges Wesen bist?“

„Können Schweine fliegen?“

„Was?“ Blue fühlte sich nicht nur veräppelt, er fühlte sich seiner Zeit beraubt. „Ich meine, das ist doch alles nur Blabla. Natürlich verstehe ich das mit dem Leben und der Demut. Wer würde das nicht, nach all der qualvollen Zeit. Aber das passt doch eigentlich nicht zu dir! DU scheinst mir nämlich nicht sehr ehrenvoll zu sein. Stellst dich tot, lässt mich durch deine Magie eine Menge Menschen töten. Und ich meine eine Menge! Und dann erscheinst du hier – viel zu spät, wie ich anmerken darf – und schwafelst etwas von der Wichtigkeit jeden Lebens. Wie viele Tote gehen wohl durch deine Magie auf dein Konto, hm?“

„Frech, sehr frech“, brummelte Joshua, hatte aber immer noch diesen heilig blauen Blick drauf, der etwas so Gutmütiges ausstrahlte, dass Blue – trotz seiner Wut – immer weniger wütend wurde. Ein Paradoxon oder so, aber das fühlte sich gar nicht so schlecht an. Wenn er ehrlich war, mühte er sich sogar redlich ab, dem schönen Himmelswesen überhaupt noch Paroli zu bieten. Am liebsten hätte er ihn nämlich umarmt und um die Liebe seines Lebens angefleht. Aber das wollte er ihn nun wirklich nicht zeigen und auch nicht lange denken, denn der Mistkerl hatte schon ein paar Mal seine Gedanken gelesen.

„Und warum bist du ausgerechnet jetzt erschienen?“

„Du hast doch um Hilfe gebeten. Endlich einmal. Die Träne ist mir auch nicht entgangen“, sagte er stolz und Blue verdrehte wieder die Augen.

„Du willst mich zum Heulen bringen? Bitte! Wenn du willst heule ich dir die Füße nass, wenn du mir dafür Vanessa bringst. Ich möchte nur ein einfaches und normales Leben führen. Mehr nicht.“

„Vergiss es!“

„Was?“ Blue war schon wieder fassungslos. Was war nur los mit diesem Engel? „Aber du bist doch hier, um mir zu helfen!“

„Ich meinte: Vergiss, dass du jemals ein normales Leben führen wirst! Das kann ich dir nicht bieten. Das bietest du dir selber nicht. Und du hast schließlich die Aufgabe gegen das organisierte Verbrechen zu handeln, vor allem gegen den Menschenhandel vorzugehen. Bisher hattest du damit nicht viel Erfolg, aber das kann ja noch werden. Und du hast – für meine Begriffe zumindest – doch eine Menge gelernt und ... ja gut ... wollen wir es mal so belassen.“ Joshua sprach in Rätseln und Blue verstand ihn falsch.

„So belassen? So belassen? Aber ich will es nicht so belassen, verdammt. Ich brauche deine blaue Magie nicht! Was ich brauche ist Liebe, einen normalen Körper und Vanessa. Verstehst du, du Vogel?“

„Vogel? Hm. Wenn du so weiter machst, überlege ich mir noch eine Lektion in Respekt und weit mehr Demut.“ Blue schluckte eine weitere Beleidigung herunter und Joshua grinste schon wieder.

„Du hast Schlimmes durchgemacht, Blue, und du bist verzweifelt. Ich weiß also warum du so reagierst. Aber – ob du es glaubst oder nicht – ich liebe dich aus ganzem Herzen. Ich denke nicht in einem Schema von Gut und Böse, oder dass eine Tat die andere rechtfertigt oder wiedergutmacht. Trotzdem muss ich eingestehen, dass ich Happy Ends ... nein, Happy Solutions liebe. So richtig schöne Herzenssachen eben. Ich rede nicht so gerne vom Ende, weißt du?“ Blue sah den Engel an, als hätte der nun völlig den Verstand verloren. Irgendwie wirkte dieses Wesen total heilig und zugleich völlig durchgeknallt.

„Ich werde dich zu deiner Vanessa bringen. Du brauchst nichts zu verstehen oder zu fragen. Sage ihr nur VORHER wer du bist, okay?“