16. Kapitel

2 Jahre später ...

„Komm schon, du Nudel! Du bist gleich dran.“ Annika deutete Leonie mit hektischen Bewegungen, dass sie endlich auf die Bühne kommen sollte. Vanessa wartete schon am richtigen Platz mit einem Kaktuskostüm und die vielen Kinder befanden sich längst auf der Bühne. Lediglich Leonie hatte scheinbar letzte Bedenken als Frosch aufzutreten.

„Quak“, ätzte sie sauer und spuckte die lange Plastikzunge raus, die sie die ganze Zeit im Mund zusammengerollt hatte.

„Scheiße! Tu die gefälligst wieder rein! Die ist erst in fünf Minuten dran. Und jetzt motz nicht rum. Glaubst du mir macht es Spaß hier den Fliegenpilz zu spielen?“ Damit schnappte sie sich Leonies langes, rosa Plastikding, wuzelte es zu einem Ball zusammen und stopfte es ihr wieder in den Mund. Die würgte kurz und schaute genauso dämlich drein, wie sie sich fühlte. Annika hatte nicht übel Lust ihr eine zu scheuern. Oder einfach nur laut zu lachen. Eines von beidem eben.

Die Kinder begannen zu singen und Leonie wurde hektisch. Das Singen war das Zeichen für ihren schleimig grünen Auftritt. Aber was tat man nicht alles für die beste Freundin, nur weil die sich einbildete in Heimen für behinderte Kinder arbeiten zu müssen und immer wieder Theateraufführungen zu veranstalten. So war Annika zum Pilz geworden und sie auf den Frosch gekommen.

Leoni ging in die Hocke, warf noch einen bösen Blick zu Annika und hüpfte dann mit völlig bescheuertem Gesichtsausdruck und riesengroßen Glubschaugen auf die Bühne. Die Kinder kreischten vor Vergnügen. Manche hielten sich weiter an den Text, andere kamen einfach mit freudestrahlendem Gesicht auf sie zugelaufen und begannen sie zu streicheln und lieb auf sie einzureden.

„Du bist aber ein großer Frosch“, trällerte das kleine Mädchen mit Down-Syndrom und grinste so zuckersüß, dass Leonie ganz vergaß sich unwohl zu fühlen. Zum Glück plöppte sogar die Zunge zum richtigen Zeitpunkt heraus und nachdem die meisten fest daran gezogen und ihren Schabernack gemacht hatten, durfte Leonie wieder die Bühne verlassen. Es war quasi ein fliegender Wechsel mit dem Fliegenpilz, dem nicht entgangen war, mit welcher Rührung Leonie die Reaktion der Kinder über sich ergehen hatte lassen.

Nach der Vorführung waren sie alle drei so erledigt, als hätten sie das Theaterstück alleine vorgeführt und sowohl dreißig Schauspielrollen übernommen, als auch Ton und Technik und dann noch den Job der Souffleuse gespielt. Dennoch fühlten sie sich gut. Unglaublich gut sogar. Das Lachen der Kinder, die Freude der Eltern ... all das entschädigte sie für ihre Mühen und die peinlichen Kostüme. Dieses Mal hatte sogar ATV und die Presse vorbeigeschaut und versprochen einen positiven Artikel über das Heim zu schreiben bzw. zu senden. Vanessa konnte wirklich stolz auf sich sein. Seit ihrem Schwenk vom Medizin- zum Psychologiestudium war sie immer wieder mit solchen Jobs konfrontiert, um Praxis zu sammeln und Geld zu verdienen. Und mit ihr ... oft auch Leonie und Annika.

Zur Belohnung beschlossen sie gemeinsam noch auf einen Drink in den achten Bezirk zu gehen. Seit ihrem Umzug nach Wien hatten sie die günstigsten Lokale für Studenten klar Schiff gemacht, denn sie hatten nie wirklich viel Geld. Vor zwei Jahren hatten sich ihre Eltern verspekuliert und eine Menge Geld verloren. Weil sie aber nun einmal untereinander befreundet waren und offenbar den gleichen Deal abgeschlossen hatten, waren sowohl Vanessas, als auch Annikas und Leonies Eltern zu gleichen Teilen betroffen gewesen. Zumindest war das die Version, die ihre Eltern ihnen erzählt hatten, denn die Mädchen wussten nichts mehr von ihrer Schiffsreise und der Entführung. Auch wenn Psychologen davon abgeraten hatten alles zu vertuschen, hatten sich die Eltern doch dafür entschieden. Denn die Wahrheit kannte niemand. Nicht einmal Martin Brandt, der die Mädchen schlafend und unversehrt an einem verregneten Sommertag bei ihren Eltern abgeliefert hatte. Natürlich hatten sie medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen und auch Fragen von der Polizei, doch die Droge hatte nicht nur das Gedächtnis der Mädchen in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch ihre Konzentrationsfähigkeit. Alle drei hatten sie über Monate wie neben sich gestanden und waren zu keiner Aussage in der Lage gewesen. Nachdem Polizei und Psychologen erkannt hatten, wie wenig die Mädchen wussten, hatten sie sie dann doch irgendwann in Ruhe gelassen. Martin Brandt und ein etwas hochrangiger Polizeibeamter, der Harald Leiner auch die Karte von Brandt zugesteckt hatte, und hatten das ihre dazu beigetragen, damit nicht allzu sehr nachgeforscht wurde. Die Gefahr für die drei Familien wäre einfach zu groß gewesen. Und dieses kleine Sicherheitsnetz für drei unschuldige Familien funktionierte bis zum heutigen Tag.

Zum Glück hatten sich alle drei Familien für den gleichen Landeswechsel nach Österreich entschieden. Und Wien war gar nicht so schlecht, wenn man bestimmte Bezirke und Lokale mied. Aber die gab es wohl in jeder Stadt und Vanessa und ihre Freundinnen hatten sowieso in erster Linie mit studierenden, jungen Menschen zu tun, die im Normalfall unproblematisch waren. Ihre Eltern hatten zwar viel Geld verloren, aber Annika, Leonie und Vanessa konnten hier dennoch studieren. Vanessa hatte sich für ein kompliziertes Studium in Psychologie mit der Hauptrichtung Pädagogik entschieden, Annika für ein langweiliges BWL-Studium und Leonie für Grafik und Design, weil ihr die Lust auf Mode plötzlich vergangen war. Alle drei mussten zwar in einem ziemlich heruntergekommenen Studentenheim wohnen und sich mit Nebenjobs über Wasser halten, aber sie durften studieren und das wussten sie zu schätzen.

Die drei Frauen glaubten vor zwei Jahren einen schlimmen Virus erwischt zu haben, der sie für Monate ausgeknockt hatte, und ihnen zusätzlich ein paar ordentliche Gedächtnislücken beschert hatte. Aber sie hatten die Zeit der Schwindelanfälle und mancher Blackouts überwunden und aus reinem Selbsterhaltungstrieb zu studieren angefangen. Manches aus dieser Zeit war für immer in den Untiefen ihres Unterbewusstseins verschwunden, doch das Studium hatte sie ablenkt, ihre Konzentrationsfähigkeit geschult und ihr Gehirn wieder auf Vorderfrau gebracht. Binnen kürzester Zeit waren sie wieder vollständig hergestellt gewesen, wobei Vanessa plötzlich einen seltsamen Blau-Tick und ein Faible für Ägyptologie hatte, Annika schüchtern geworden war und Leonie zu singen und zu tanzen angefangen hatte. Doch das waren Nebenerscheinungen, die im Vergleich zu dem, was wirklich passiert war, ziemlich harmlos erschienen.

Kichernd saßen die drei nun in dem Lokal für Studenten und schlürften einen Sangria, den sie im großen Literkrug bestellt hatten. Isidora, die Kellnerin, setzte sich kurz zu ihnen. Die Mädels waren nicht überdurchschnittlich oft in dem Lokal, aber doch irgendwie Stammgäste.

„Und viel Erfolg gehabt?“, fragte Isidora, die mit ihrer dunklen Schönheit, ihrem südländischen Temperament und der dunklen Stimme der absolute Renner hier bei den Jungs war. Ursprünglich stammte sie aus Libyen, war dann nach Ägypten übersiedelt und schließlich nach Europa ausgewandert. Die Unruhen in ihrem Heimatland hatten sie fortgetrieben. Seit Mubarak vor zwei Jahren gestürzt worden war, hatte es ständig Ausschreitungen gegeben und immer wieder Machtwechsel. Ihre Eltern hatten das nicht länger hingenommen und waren mit ihr nach Italien und später nach Österreich gezogen. Wobei ihr Vater ein sehr gelehrter und aufgeklärter Mann war, sonst wäre ein solch freizügiges Leben für seine Tochter nicht möglich gewesen. Isidoras Deutsch war fast perfekt, obwohl sie die Sprache noch nicht lange lernte, aber da sie aus einer gebildeten Familie kam, hatte sie schon früh gelernt sich mit anderen Ländern, ihren Gepflogenheiten und Sprachen auseinanderzusetzen. Dazu klang der Wiener Dialekt aus ihrem Mund extrem witzig und irgendwie charmant.

„Ja, danke. Ich war der Frosch“, ätzte Leoni, grinste dabei aber, als hätte es ihr wirklich Spaß gemacht.

„Die Kinder waren süß“, meinte Annika und prostete den anderen Mädels zu. Für sie war Sangria wie Weihnachten und Ostern zusammen.

„Sogar die Presse war da und ATV. Vielleicht kommen wir ja sogar ins Fernsehen“, grinste Vanessa und wunderte sich, dass Isidora plötzlich ein wenig ernster wurde. „Was ist denn? Du guckst plötzlich so traurig. Stimmt was nicht Isidora?“ Die versuchte sich nichts anmerken zu lassen und lächelte wieder.

„Nein, nein. Mir ist nur gerade etwas eingefallen. Aber egal!“ Sie schüttelte sich kurz, als ob sie sich von einem lästigen Gedanken befreien müsste. „Diesen Erfolg müssen wir feiern, nicht wahr? Ich bringe euch noch einen Krug, auf Kosten des Hauses. Okay?“ Und damit brach ein lautes „Höööööööö“ am Tisch aus.

„Das ist ja mal ne Ansage“, zwitscherte Leoni, während Annika noch mit dem langen ö vom Hööö beschäftigt war. Vanessa aber konnte sich nicht so recht freuen. Isidora hatte so bekümmert gewirkt.

Nach zwei Stunden feiern, traf Vanessa die Kellnerin auf dem Weg zur Toilette. Wieder dieser traurige Blick. Vanessa konnte es sich nicht erklären, aber sie hatte immer ganz gute Antennen für Befindlichkeiten anderer und Isidora hatte offenbar Probleme. Entschlossen nahm sie sie bei der Hand und zog sie in eine Ecke des Ganges, wo sie ungestört waren.

„Was ist los, Isidora? Wenn du Probleme hast, dann rede mit mir. Du weißt, dass wir dir gerne helfen, wenn wir können.“ Isidoras Augen waren so groß wie Teiche, dunkel und sonst immer geheimnisvoll. Doch nun waren sie gefüllt mit Tränen und einem Blick, der ihre Sorgen zeigte. Vanessa spürte einen Kloß im Hals. Irgendetwas Wesentliches stimmte nicht. Isidora strich Vanessa eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und fuhr mit ihren Fingern zärtlich über die Wange der jungen Frau.

„Es geht nicht um mich, Süße. Es geht um dich.“

„Was? Wie meinst du das?“

„Sei mal ehrlich, Vanessa. Hast du jemals mit einem Mann geschlafen?“ Diese Frage kam dann so unvorbereitet, dass Vanessa sich augenblicklich versteifte. Auch ihr Mitgefühl für eventuelle Probleme der schönen Isidora hielt sich plötzlich in Grenzen. Was sollte denn so eine Frage? Isidoras Zärtlichkeit wurde deutlicher. Sie mochte Vanessa. Sehr sogar.

„Ich ... äh ... Isidora, also bitte! Willst du damit etwa andeuten ...“ Vanessa stockte und wäre wohl einen Schritt zurückgegangen, wenn sie nicht schon an der Wand gestanden hätte. Isidora war ganz nahe, ihr Gesicht nur Zentimeter von ihr entfernt. Vanessa wusste gar nicht wie ihre geschah oder was sie tun sollte.

„Du hattest noch nie einen Mann. Es stimmt doch“, flüsterte Isidora mit heißem Atem und hypnotischem Blick. Ihre Hand streichelte immer noch Vanessas Wange, wanderte ihren Hals hinab, umfasste ihre Schulter.

„Ich ... stehe nicht auf Frauen. Sorry, Isidora“, meinte Vanessa, bemerkte aber, dass sie inzwischen außer Atem gekommen war. Die Kellnerin stand ja auch so nahe, dass ihre Brüste bereits die ihren berührten. Es war ein komisches Gefühl. Ungewohnt und doch nicht unangenehm. Diese Frau war eine Schönheit, sinnlich und aufregend und der absolute Männerschwarm. Aber das hier war eindeutig nichts für Männer.

„Warum zeigst du dann jedem Mann die kalte Schulter? Hast du dich jemals gefragt, warum du nicht mal auf den heißesten Typen anspringst. Alle hier im Lokal wissen, dass sie an dich nicht rankommen und glaube mir, ich habe mich umgehört. Du blockst sie alle ab und dafür gibt es nur eine Erklärung ...“ Sie sprach nicht weiter, senkte einfach ihre schönen, vollen Lippen auf Vanessas Mund und drückte sie mit ihrem ganzen Körper fest an die Wand. „Ich bitte dich nur um einen Kuss ...“, hauchte sie leise auf Vanessas Lippen und begann zärtlich an ihr zu knabbern.

Vanessas Augen waren groß, das Gefühl ungewöhnlich und doch nicht uninteressant. Viel zu lange schon verzehrte sie sich nach einer Liebe, die es nicht gab, träumte von Geistern und Dämonen. Die Männer hatten bei ihre keine Chance, weil sie einfach alle zum Brüllen langweilig waren. Ebenso wie sie. Die Intensität, die sie sich vorstellte, gab es nicht. Nur in ihrem Kopf und in ihren Träumen. In ihren verruchten, blauen Träumen.

Isidoras Zunge kitzelte sie, verlockte sie und in dem Moment beschloss Vanessa, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Sie öffnete ihren Mund und hieß die überraschend liebevolle und zugleich leidenschaftliche Versuchung willkommen. Isidoras Lippen waren unglaublich weich und voll, ihre Zunge sehr beweglich, ihre Hände auf Vanessas Brüsten. Vanessa stöhnte auf und vertiefte den Kuss. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihre Hände wanderten über den Rücken der Frau, fuhren seitlich zu ihren Brüsten. Ja, das war gut. Sehr gut sogar. Vanessa sehnte sich nach Liebe, aber sie hätte nie gedacht, dass sie sich nach der Liebe einer Frau sehnen würde. Bei ihren Freundinnen wäre sie nie auf diese Idee gekommen.

Schwer atmend und mit einer gewissen Überraschung im Gesicht löste sich die schöne Kellnerin von Vanessa.

„Wow. Du küsst ja unglaublich gut“, flüsterte sie und konnte gar nicht aufhören, ihren Körper an Vanessa zu pressen. Ihre Hände hatte sie jetzt wieder unter Kontrolle und auf Vanessas Schultern gelegt. „Ich mache in einer Stunde Schluss. Du musst heute unbedingt zu mir. Ich habe dir so viel zu sagen. Wenn du willst können wir nur reden. Echt.“ Sie stockte und sah Vanessa tief in die Augen. Ihre dunklen Augen schienen zu brennen.

„Isidora, ich ...“ Vanessa war noch durcheinander. Für sie war das alles so neu und auch wenn ihr der Kuss gefallen hatte, war sie sich nicht gerade sicher, ob sie das wollte.

„Ich weiß. Das ist ein bisschen viel auf einmal. Aber ich MUSS mit dir sprechen. Da gibt es etwas, von dem du nichts weißt: Dein Leben ist in Gefahr.“ Und das war dann wieder so ein Moment, wo Vanessa an allem zu zweifeln begann, sich versteifte und die schöne Kellnerin auf Distanz schob.

„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie und versuchte nicht mehr an den Kuss, sondern einzig und alleine an die letzte Aussage zu denken.

„Nicht hier, Süße! Bitte hol‘ mich in einer Stunde vom Hinterausgang ab. In meiner Wohnung erkläre ich dir alles. Und ... glaube mir ... ich mag dich sehr, sonst würde ich dir das nicht sagen wollen. Bitte, komm!“ Damit ließ sie die verstörte Vanessa stehen und ging zurück hinter die Theke, wo schon eine Menge Arbeit auf sie wartete.

Einen Moment blieb Vanessa noch stehen, zittrig und ziemlich durcheinander. Mit der Hand fuhr sie sich an die Lippen und konnte nicht fassen, was sie gerade getan hatte. Mein Gott, ich bin lesbisch ... ging es ihr durch den Kopf und als sie in den Spiegel blickte und ihre roten Wangen sah und das Glitzern in den Augen, hätte sie am liebsten geheult. Sie hatte den Kuss genossen und die Zärtlichkeit ... und doch wollte sie lieber einen Mann. DEN Mann aus ihren Träumen, aus ihrem Gefühl, ihrer Fantasie. Doch genau diesen unmöglichen Typen gab es offenbar nicht. Und zwar nicht mal im Ansatz.