15. Kapitel
Die Lage hatte sich binnen weniger Stunden drastisch verändert.
Er hatte seine Jungs aktiviert, genug Ausrüstung beschafft und knapp vor dem Aufbruch den entscheidenden Anruf bekommen. Allerdings nicht von seiner ursprünglichen Kontaktperson, sondern von Sternitzer, der Legende aus Evok-Zeiten. Dieser Sternitzer hatte in der Spezialeinheit als Mann fürs Grobe gegolten, war allerdings von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Ohne ein Wort oder einen Hinweis. Martin Brandt hatte ihn nicht gut gekannt, war erst etwas später zur Evok-Spezialeinheit gestoßen, aber die Geschichten über Andreas Sternitzer hatten sich gehalten. Seine Unerschrockenheit und seine Effizienz waren legendär geblieben, sein Abgang aber wurde nie ganz geklärt und wie eine Verschlusssache gehandelt. Gerüchte gab es freilich schon, aber auf die hatte er noch nie viel gegeben. Nachdem Brandt die Evok-Einheit recht bald wieder verlassen hatte, war ihm die Geschichte um Andreas Sternitzer nicht mehr weiter wichtig gewesen. Bis heute.
Nun befand er sich mit seinen vier Kumpels auf dem Boot, das Sternitzer genannt hatte und dirigierte es in die Richtung, die er vorgegeben hatte. Er hatte ein Codewort aus Evok-Zeiten verwendet, dass ihn als Kumpel auswies. Auch wenn die Jahre viel geändert hatten, so war es doch ein Codewort, das nur in bestimmten Notsituationen verwendet werden durfte. Nur die Ranghöchsten kannten es überhaupt. All das mochte noch nichts heißen, aber Brandt hatte während dem Telefonat so ein Gefühl und darauf musste er sich verlassen. Die drei Mädchen sollten in einer abgelegenen Bucht von Maslovs Insel übergeben werden. Lebend. Das alleine zählte. Er mochte ein arroganter Arsch sein und verzweifelten Eltern zu viel Kohle abnehmen, aber er hatte einen extremen Ehrenkodex. Wenn er jemanden Rettung versprach, musste schon sehr viel passieren, um das nicht bis zum letzten Atemzug durchzuziehen.
„Los da hinten“, blaffte er seinen Kumpel an und zeigte auf eine kleine, versteckte Bucht vor ihnen. Genau dort mussten sie hin. Die Koordinaten stimmten haargenau überein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie gut in der Zeit lagen und wenn alles gut ging und er tatsächlich dem Codewort und seinem Gefühl trauen konnte, dann würden die Mädchen in spätestens einer Stunde in ihrem Gewahrsam sein.
Die Mädchen lagen auf der Rückbank der großen Limousine und schliefen. Alle drei hatten eine hohe Dosis Devils Breath eingeatmet und sollten sich nach ihrem Erwachen an nichts mehr erinnern. Das Zeug war so stark, dass sie in ein paar Stunden vermutlich nicht einmal mehr wussten, ob sie die Schule bereits abgeschlossen hatten oder nicht. Wenn sie Glück hatten, konnten sie sich noch an ihre Eltern erinnern und an Bruchstücke ihres Lebens. Aber – und nichts anderes zählte für Blue – sie würden im Großen und Ganzen unbeschadet sein und am Leben bleiben.
Stefan warf einen verstohlenen Blick auf Blue, der den Wagen mit vollkommen versteinerter Miene lenkte. Das Tempo war mörderisch, die Lenkbewegungen von Blue so minimal, dass man meinen könnte, niemand würde das Auto steuern. Stefans Angst beschränkte sich ausschließlich darauf, dem neuen Sicherheitschef nicht zu nahe zu kommen. Irgendwie hatte der Typ es aus seiner Gefangenschaft heraus geschafft und war geradewegs auf Toms Posten gelandet. Natürlich ahnte er, dass der bereits in blauen Flammen aufgegangen war, aber er wusste nicht, wie er es geschafft hatte, Maslov zu all dem zu bringen. Tom zu opfern, die Mädels freizulassen. Das war schon recht viel auf einmal.
In Wahrheit hatte Blue sein Leben an den Teufel verkauft. Nach dem Erlebnis mit Vanessa und dem Wissen um seine Zuneigung für sie, aber auch der darauffolgenden Tortur durch Tom, hatte er die einzig sinnvolle Konsequenz gezogen. Tom hatte ihn betäubt, gewaschen und wie ein Tier zum Trocknen aufgehängt. Nichts war so widerlich wie ein Sadist, der sich ständig einen runterholte, während man selber litt. Die lange Gefangenschaft, Tom, aber vor allem Vanessa hatten ihn letztendlich zur Unterschrift getrieben ... unter einen dämonischen Vertrag, der ihn zur Leibeigenschaft zwang. Von nun an war er verpflichtet für Maslov zu arbeiten und nicht mehr in der Lage seine Kraft gegen ihn oder seine Anweisungen zu richten. Aus dem Grund hatte er ja vor seiner Einwilligung ein Gegengeschäft von seinem neuen Boss gefordert. Toms Leben zum Beispiel und die Freilassung der drei Neuzugänge. Ebenso hatte er eine Klausel einfügen lassen, dass diese Leibeigenschaft keinerlei Arten von Sexdiensten beinhaltete. So weit wäre sein Edelmut dann doch wieder nicht gegangen. Er wollte den Mädchen helfen, das wollte er wirklich, aber eben nicht um jeden Preis. Seine Freiheit freiwillig zu opfern, war schon hoch genug.
Maslov hatte nicht sofort zugestimmt und sich vor allem bei Vanessa sehr bemüht ihn auszutricksen. Doch Blue war nicht dumm. Er hatte Maslov alles von der Red-Watch-Liste und Merenpath herausgelockt und binnen kürzester Zeit einen Lösungsvorschlag unterbreitet. Vanessa stand jetzt ganz offiziell unter seinem Schutz und war somit unantastbar – zumindest was Maslov und seine Männer anging. Die Assistenzärztin aber hatte eine Ausnahme bekommen. Mit ihren sterilen Gummihandschuhen und dem entsprechenden Wissen musste sie eine der essentiellen Übereinstimmungen von Vanessas Wunschprofil beseitigen, um das Mädchen endgültig für Merenpath uninteressant zu machen. Wenn Blue diese Frau nicht selber haben konnte – und so viel stand fest – sollte auch keiner dieser perversen Bastarde sie bekommen. Bessi, wie sich die gute Assistenzärztin nannte, war selbst einmal im horizontalen Gewerbe tätig gewesen, ehe sie die Assistenz bei Maslovs Privatarzt übernommen hatte und über die Jahre fast besser geworden war als der eigentliche Doktor. Blue hatte sie also beauftragt und Maslov hatte schweren Herzens zugestimmt. So war die gute Frau zu Vanessa gegangen und hatte sie auf recht unspektakuläre Weise und vermutlich mit einem Ablenkungsmanöver defloriert. Zack, schon war die Sache in Blues Sinne und ganz ohne Schwanzbeteiligung erledigt und Vanessa von der Liste gestrichen. Natürlich gab es bei magischen Rahmenbedingungen immer ein gewisses Gefahrenpotential. Wer wusste schon genau über welche Macht der Ägypter verfügte und welche Möglichkeiten, die Wahrheit herauszufinden. Doch allzu weit konnte es mit der Macht nicht stehen, wenn er einen Mädchenhändler beauftragen musste, um eine Frau für ihn zu finden. Das alles hatte Maslov überzeugt und er hatte sich für Blue entschieden. Für ihn und seine Forderungen. Devils Breath war dafür die ideale Droge und Garant, dass sich die Mädels an nichts mehr erinnern würden. Den Rest musste Blue selbst organisieren.
Die Limousine fuhr bis zum Ende der holprigen Straße. Die Bucht war noch gut 500 Meter entfernt. Blue hatte nicht viel Zeit gehabt, es den Mädchen wirklich komfortabel zu machen und sich für eine einfache Scheibtruhe entschieden. Stefan trug eines der Mädchen über den Schultern, Blue hatte Vanessa und Leoni in die Scheibtruhe gesetzt und schob sie durch den Rest des Dschungels bis zum Meer. Natürlich hätte er je eine der Mädchen über seine mächtigen Schultern schmeißen können, doch die Nähe zu seinem Hals und seinem Kopf war zu gefährlich, die Gefahr von magischen Flammen zu groß.
Das Boot lag bereits vor Anker, Martin Brandt stand bereit. Ebenso seine vier Kumpels. Alle waren sie in lächerliche Kriegsmontur gepfercht und machten einen auf Rambo. Blue schüttelte den Kopf über so viel Schwachsinn. Zu viert hätten sie nicht mal die kleine Zehe auf Maslovs Insel, geschweige innerhalb seines Anwesens gebracht. Diese Bucht hier war die einzige, die nicht verdrahtet oder vermint war und nur deswegen hatte er sie hierher beordert. Kameras gab es dennoch zur Genüge, doch die hatte er zuvor für drei Stunden ausschalten lassen. Der Abtransport der Mädchen durfte nicht dokumentiert werden. Das war eine der Auflagen Maslovs, denn er fürchtete sich mehr als er zugeben wollte vor den Mann, den sie Merenpath nannten.
„Sternitzer“, rief Brandt und reichte Blue die Hand.
„Brandt“, erwiderte Blue mit einem Lächeln und schlug in die gereichte Hand ein. Natürlich trug er extra gut isolierende Handschuhe. Stefan blieb eher im Hintergrund, winkte nur mit stoischer Miene und lud Annika sofort ins Boot ein.
„Mit dem heutigen Tag schulde ich dir etwas“, sagte Blue zu Martin Brandt. „Dir und deinen Kumpels. Vorausgesetzt ihr bringt die Mädchen sicher nach Hause. Und ich werde mich erkundigen, ob das der Fall ist, verlass dich drauf. Alle drei Frauen sind unantastbar, verstanden? Nicht, dass da was falsch verstanden werden könnte.“
„Keine Angst, wir sind Profis. Womit habt ihr sie betäubt?“
„Devils Breath“, erklärte Stefan, der nun dazu überging Vanessa aus der Scheibtruhe zu heben und ins Boot zu laden. Allmählich kamen die Kumpels von Brandt auch in die Gänge und packten mit an. Martin sog scharf die Luft ein.
„Devils Breath sagst du? Ich hoffe der Typ, der es verabreicht hat, kennt sich damit aus. Das Zeug kann verdammt tödlich sein.“
„Keine Angst, wenn sich wer auskennt, dann Maslov. Sorge DU nur dafür, dass keiner weiß wo die Mädchen waren. Das ist eine der wesentlichsten Bedingungen Maslovs. Sonst ist deren Leben keinen Cent mehr wert ... und das Eure noch weniger.“ Blue starrte dem kleineren Mann fest in die Augen, doch der verzog keine Miene.
„Das ist selbstverständlich, Sternitzer. Danke, Mann!“ Martin Brandt wusste genau wie ungewöhnlich diese ganze Aktion war und er konnte sich zusammenreimen, dass Maslov kein Wohltäter war, sondern sehr viel dafür bekam, wenn er die Mädchen zu ihren Eltern zurückschickte.
„Ich heiße jetzt Blue. Sternitzer gibt es nicht mehr.“
„Okay, Blue. Ich gebe Dir Bescheid, wenn wir die jungen Dinger zuhause abgeliefert haben. Versprochen.“
„Danke.“ Damit reichte er Martin Brandt noch einmal die Hand und sah ihm fest in die Augen. Sie hatten sich bei Evok nie wirklich gut kennengelernt, doch Brandt hatte den Ruf verlässlich zu sein. Mit einem schnellen Schritt war Blue dann noch beim Boot und warf einen Blick hinein. Die Männer hatten alle drei Mädchen behutsam in die Mitte gelegt und mit einer Plane zugedeckt. Die hatte wenigstens ein paar Löcher für die Luftzufuhr. Im Prinzip sah alles rechte einfach und bieder aus, bis auf das dämliche Kriegsgewand der Männer natürlich.
Das war also der Abschied von der Frau, die sein Leben verändert hatte und die noch viel mehr hätte verändern können. Sie war der einzige Mensch, der ihm seit seiner Wandlung etwas bedeutet hatte und die vermutlich immer einen Platz in seinem Herzen haben würde. Für diese Frau hatte er alles riskiert und auch alles aufgegeben, denn er bezahlte ihre Freiheit mit der seinen. Ein Leben lang.
Für einen Moment schloss er die Augen und zählte bis drei, dann hob er die Plane kurz in die Höhe und verabschiedete sich stumm von seiner Liebe. Vanessa lag friedlich schlafend auf dem Boden, hatte ihren Kopf auf die Schulter von Annika gelegt und sich seitlich an sie herangekuschelt. Ihr schöner Anblick schmerzte ihn mehr, als alles, was er in seiner Gefangenschaft durchgemacht hatte. Leise fluchte er auf das verlorene Glück mit dieser Frau, hasste Gott wie eh und je und verachtete sich für das Leben, das ihm nun bevorstand. Letztendlich aber wusste er, dass er richtig handelte.
Niemand konnte etwas von seiner Gefühlsregung sehen oder spüren. Dafür hatte er sich viel zu sehr im Griff und gelernt, seine Emotionen nicht zu zeigen. Erst als er die Plane wieder fallen ließ, zeigte er solch einen mörderisch wütenden Blick, dass ihm sowieso jeder aus dem Weg ging. Noch einmal wandte er sich an Martin Brandt und fixierte ihn mit seinem stechenden, silbrigen Blick.
„Morgen gibst du Bescheid, sonst werde ich Himmel und Hölle in Bewegung bringen dich zu finden. Und nun seht zu, dass ihr hier wegkommt. Das Sicherheitssystem für diesen Abschnitt wird in knapp zwanzig Minuten wieder aktiviert.“