32. Kapitel

„Wie viele Männer hast du auf deiner Seite?“

„Nur den Mann im Kontrollraum. Aber am Fluggelände ist noch einer, der zu 80 Prozent hinter uns steht. Vorausgesetzt wir nehmen ihn mit und du erledigst Merenpath. Ohne Merenpaths Tod geht gar nichts. Die scheißen sich hier alle die Hosen voll vor dem Mann.“

„Wie gesagt, der Typ ist ein Halbgott und hat mich berührt, ohne in Flammen aufzugehen. Ich habe also keine Ahnung wie man ihn töten kann.“

„Soweit ich weiß hast du als einfacher Mensch bereits die Macht gehabt einen Engel zu töten, dann wird es dir ja wohl auch gelingen einen Halbgott zur Strecke zu bringen.“

„Einen Engel?“, japste Annika überrascht. „Die gibt es also auch?“ Beide Männer drehten sich zu ihr um, als hätten sie vergessen, dass auch sie mit von der Partie war. Mehr oder weniger genervt sahen sie ihr in die Augen und gaben zeitgleich die gleiche, knappe Antwort.

„JA!“

„Aber, aber ...“, begann sie und stockte, weil Blue die Augen verdrehte. Martin wirkte ein wenig kooperativer.

„Und es gibt auch Dämonen. Sorry, für die Kurzfassung, aber wir müssen weiter.“ Martin versuchte im Ansatz ein Lächeln, doch freundlicher Smalltalk hatte ihm noch nie gelegen und die Zeit drängte wirklich. Sie hatten zwei Wachen ausgeschaltet, Blue aus dem Sicherheitstrakt befreit und mussten so rasch als möglich zu Merenpaths Privaträumen. Für Annika aber war das alles ein wenig viel neue Realität. Schockiert blieb sie stehen und sah von einem zum anderen. Dämonen und Engel! Sie schluckte ungewöhnlich laut.

„Einen Engel“, murmelte sie betroffen und wandte sich nun ausschließlich an Blue, der sie ziemlich mürrisch anstierte. Der faszinierende, blaue Mann hatte etwas Heiliges getötet?

„Es war ein Versehen“, knirschte er und wollte sich abwenden.

„Niemand kann einen Engel töten“, keuchte Annika, die zwar keine Ahnung von all diesen Dingen und seltsamen Wesen hatte, doch einen Boten Gottes zu töten, erschien ihr absurd. So etwas war nicht möglich.

„Nun, das ist offenbar ein Märchen“, blaffte Blue.

„Wir müssen weiter!“, blaffte wiederum Martin, der keine Lust auf Plaudereien hatte. „Im zweiten Stock sind Merenpaths Räumlichkeiten und ich kenne eine gute Abkürzung mit deutlich weniger Wachpersonal. Mir nach!“ Damit ging er los, hielt die Kette fest, mit der er Blue hinter sich herzog und deutete Annika, dass sie ihnen folgen sollte.

Sie kamen ganze zwanzig Meter weit.

„HALT!“ Der erste Securitymann im Erdgeschoss bekam große Augen und stierte auf die unvorhergesehene Gruppe von Leuten. Im Protokoll stand nichts von einem Gefangenentransport und dieser Martin Brandt war erst seit kurzem im Dienst seines Bosses.

„Hi! Ich bringe die beiden Täubchen zu Merenpath“, erklärte Martin völlig emotionslos. „Kleine Party, wenn du verstehst.“ Doch der Mann wollte nicht verstehen.

„Davon steht nichts auf meiner Liste.“ Damit sah der dunkelhäutige Kerl auf einen Zettel, der das Tagesprotokoll enthielt und schüttelte den Kopf. Sein Blick wurde finster und seine Hand wanderte automatisch zum Funkgerät. Ziemlich professionell und ziemlich schade, denn Martin reagierte blitzschnell. Die Nadel in seiner Hand enthielt ein starkes Betäubungsmittel in tödlicher Dosis. Mit nur einer fließenden Bewegung rammte er sie dem Wachmann in den Hals. So schnell, das der nicht einmal mehr zu einem Röcheln kam. In Stresssituationen funktionierte Martin wie eine Maschine, doch er hatte in jahrelanger Arbeit gelernt nicht unnötig Menschenleben zu vernichten. Er spritzte dem Mann nicht alles. Gerade so viel, dass er für Stunden bewusstlos sein und sich danach wie nach einem schweren Alkoholrausch fühlen würde. Das Dumme an der Situation war nur, dass sie nun seinen bewusstlosen Körper verstecken mussten, und der übliche Kontrollruf seines Postens ausfiel. Dieser halbstündliche Anruf war in genau 22 Minuten fällig und ab dann würde sein Verschwinden erste Sicherheitsmaßnahmen zur Folge haben. Egal, wie sehr Martins Mann im Kontrollraum die Kameras blockierte und sabotierte. In spätestens 23 Minuten würde sich Merenpaths ausgeklügeltes Sicherheitssystem aktivieren und in zehn weiteren Minuten alle Fenster und Ausgänge automatisch verriegeln. Teile der Privaträume würden dann zu wahren Saftyrooms umfunktioniert werden und jede mobile Wache aktiviert sein.

„Ich kann ihn verschwinden lassen“, bot Blue an, aber Martin schüttelte den Kopf.

„Nicht notwendig. In einer halben Stunde ist so oder so die Hölle los. Wir müssen also Gas geben. Am besten wir schmeißen ihn dort hinter den Vorhang und dann nichts wie weg. Los! Wir müssen zur Feuertreppe.“

Im zweiten Stock stießen sie auf das nächste Problem. Zu den Nottreppen waren sie problemlos vorgedrungen ohne Alarm auszulösen, doch die Tür im zweiten Stock ließ sich von der Außenseite nicht öffnen. Durchdachte Sicherheitsmaßnahme eben. Dazu stand hinter der Tür vermutlich gleich der nächste Wachmann, der bis zu den Zähnen bewaffnet war. Längeres Herumfingern am Sicherheitsschloss würde also nicht nur den Alarm auslösen, sondern auch den Wachmann aktivieren. Blue wartete erst gar nicht auf die Aufforderung von Martin und legte seine Hand auf den fixen Türknopf. Gezielt ließ er seine Magie strömen und versuchte alles, um den Alarm zu umgehen. Die zwei Jahre Sklavendienst bei Maslov hatten ihm die Möglichkeit gegeben, seine Magie etwas besser unter Kontrolle und gezielter zum Einsatz zu bringen.

Blaues Licht strahlte von ihm ab, sammelte sich an seinem Rücken, wanderte über seine muskulösen Arme direkt in seine Hände und zum Türknopf. So schaffte er es tatsächlich die Elektronik um das mechanische Schloss zum Erliegen zu bringen. Kabel verschmorten, Leitungen wurden lahm gelegt. Allerdings stand der Wachmann auf der anderen Seite der Tür zu nahe und ging in nullkommanichts in magischen Flammen auf. Blue spürte die Fehlleitung wie einen kleinen Rückstoß. Normalerweise hätte der Mann sich ein paar Minuten in magischen Flammen wälzen müssen, doch durch den gezielten Fokus war Blues Magie so stark gebündelt worden, dass der Mann nur mit einem leisen Zusch zu einem Häufchen Asche wurde. Der Verlust eines Lebens hinterließ bei Blue immer eine Art Echo und ein dumpfes Gefühl mit schlechtem Gewissen. Doch in dem Fall ging ihm der Verlust nicht so nahe und er gab Martin gleich nonverbal zu verstehen, was passiert war. Martin verstand seinen versteckten Hinweis sofort. Er hatte sich zwar vorgenommen, möglichst wenige Menschen bei dieser Mission zu opfern, doch wenn es nicht anders ging, war er wohl der Letzte, der zögerte. Kurz nickte er Blue zu, dann widmete er sich mit seinem Spezialdietrich dem mechanischen Schloss.

Es dauerte vielleicht zwei Minuten, dann war das Ding offen. Martin drückte die Tür vorsichtig einen Spalt auf und schob eine kleine, bewegliche Minikamera hindurch, um die Lage im zweiten Stock möglichst unauffällig zu checken. Annika und Blue verhielten sich inzwischen vollkommen ruhig. Als Martin dann die Kamera wegpackte und sich zu ihnen umdrehte, hatte er den Zeigefinger vor die Lippen gelegt. Dann deutete er ihnen, ihm zu folgen.

Vor der Tür lag ein kleiner Haufen schwarzer Asche. Aufs Erste sah es so aus, als hätte jemand dort Mist sternförmig verstreut und dazu ein paar Waffen, wie eine Glock, eine SIG Pro und drei unterschiedliche Jagdmesser liegen gelassen. Martin und Blue stiegen einfach über darüber hinweg und schoben die Handfeuerwaffen zur Seite. Lediglich die Messer hoben sie auf. Schusswaffen wurden durch magische Flammen nämlich unbrauchbar. Die Messer hingegen waren noch zu verwenden. Annika folgte ihnen und hatte schlicht keine Ahnung, dass sie über die Überreste eines Menschen stieg. Sie wunderte sich noch nicht einmal über die Waffen, die hier einfach so rumlagen.

„Zweite Tür links“, flüsterte Martin, packte wieder demonstrativ die Kette, die Blue in den Händen hielt, um gefesselt auszusehen, und deutete Annika, dass sie jetzt besonders Acht geben musste. Sie wussten, dass sie jeden Moment auf weitere Wachmänner treffen würden und der Gefangenentransport musste echt wirken.

Schon beim Aufzug trafen sie auf drei Männer. Zuerst waren die ziemlich überrascht über das Erscheinen der drei Leute, dann zogen sie wie auf Kommando ihre Waffen.

„Martin“, sagte der Vorderste so emotionslos, dass Annika eine Gänsehaut bekam. Es war eine Feststellung, eine Aufforderung und zugleich eine Frage. Wie der riesige Kerl das hinbekam, wusste sie nicht, aber sie fürchtete sich so sehr, dass sie kaum gerade gehen konnte. Martin aber blieb vollkommen cool und ging lässig weiter.

„Malik! Der scheiß Aufzug ist hinüber“, sagte er. „Vom Erdgeschoss aus kann man ihn nicht holen. Was habt ihr drei denn angestellt? Hineingepisst?“ Martin lächelte provokant und Annika bewunderte ihn für sein Schauspieltalent. Selbst stand sie wie unter Strom und spürte Schweiß zwischen ihren Brüsten, als hätte jemand den Wasserhahn aufgedreht. Ihren Atem konnte sie nur mit Mühe ruhig halten.

„Bleib stehen! Was tust du hier? Und was soll das mit den beiden da? Wir haben keine Meldung bekommen.“ Sehr gut, dachte Martin, weil der Typ seinen Job verstand. Obwohl er Martin kannte und wusste, dass Merenpath ihm vertraute, ging er korrekt vor. Zuerst hatte er die Aufforderung stehen zu bleiben ausgesprochen, dann die Frage nach dem Warum gestellt und gleich darauf den Hinweis gegeben, dass es ein unplanmäßiges Vorgehen war. Sehr gut. Sehr korrekt und sehr dumm für die drei.

„Schon gut, Malik. Ich bleibe stehen. Ich weiß, dass du erst in deinem Tagesprotokoll nachsehen musst.“ Doch das schien Malik gar nicht zu gefallen. Er wurde sogar noch lauter.

„Das brauche ich nicht! Ich weiß was drinnen steht und da steht nichts von dir.“ Er und die beiden Männer hinter ihm machten einen Schritt vorwärts und hoben ihre Waffen eine Spur höher. So wie sie jetzt auf Martin, Blue und Annika zielten, sah es aus, als würden sie jeden Moment abdrücken. Annika konnte sich kaum gerade halten. Martin jedoch blieb gelassen. Auch Blue schien kein bisschen aufgeregt zu sein.

„He, Alter, ganz ruhig“, forderte Martin in vertraulichem Ton. „Vielleicht stehe ich nicht persönlich drauf, aber das Abendessen mit der blonden Gefangenen ist ja wohl angeführt.“ Malik überlegte und nickte schließlich. Das schien die beiden Schlägertypen hinter ihm ein wenig zu beruhigen, denn sie entschärften ganz leicht ihre aggressive Haltung. Martin setzte verbal nach.

„Hast du vielleicht vergessen zu prüfen, ob noch mehr Gefangene bei dem Essen geplant sind? Diese Vanessa Leiner ist klar, aber der blaue Scheißdreck hier und die Nutte mit den Riesentitten sollen danach ebenfalls dazu. Schätze es wird eine ganz besonders wilde Party heute Nacht.“ Er lachte anzüglich, dann wurde er wieder ernst. „Der Blaue ist übrigens verdammt gefährlich. Daher die Ketten. Die Kleine hat nur ihre Titten als Waffen.“ Er lachte wieder grob und Annika wurde prompt rot, was Martins Glaubwürdigkeit auf ganz unkomplizierte Weise unterstrich.

Malik überlegte und schien fürs Erste ein wenig beruhigt zu sein. Nur gut, dass er nichts von Blues Magie ahnte, sonst hätte er sofort gewusst, dass es ohne Sicherheitsstange sowieso kein normaler Gefangenentransport sein konnte.

„Okay. Warte! Ich sehe auf der Liste nach“, meinte Malik und die beiden Typen hinter ihm wurden noch eine Spur lockerer.

„Na, bitte! Geht doch“, grinste Martin und deutete Blue bereits mit seinen Fingern hinter dem Rücken einen Countdown, damit er wusste, wann er vorwärtsstürmen sollte. Um die drei Männer war es natürlich schade, doch Martin wusste ja, dass keine weiteren Namen auf der Liste standen. Er brauchte nur ein Quäntchen weniger Aufmerksamkeit, um einen besseren Überraschungseffekt zu erzielen. Als Malik gerade in seiner linken Brusttasche nach der Liste kramte, gab Martin das Zeichen.

Blue sprintete los.