29. Kapitel

„Du!!!!“

„Ja. Aber ich bin nicht der Feind.“

„Verarsch wen anderen! Du hast in Berlin schließlich versucht genau den – meinen Arsch nämlich – zu torpedieren. Die Nachwirkung der Explosion hab‘ ich jetzt noch im Ohr.“ Das stimmte zwar nicht, weil der Zauber ihn wirklich gut geschützt hatte, doch er konnte sich noch sehr wohl daran wie laut es gewesen war und wie stark die Druckwelle ihn erfasst hatte.

„Nein, das habe ich nicht. Die Elektronik hat wegen dir verrückt gespielt. Ich hatte den Auftrag dich lebend zu Merenpath zu bringen, aber du warst einfach zu nahe an unserem Vogel dran.“

„Verräter!“

„Du irrst, Andreas.“

„Ich heiße Blue. Nur noch Blue“, brummte er und ließ enttäuscht den Kopf hängen. Für ihn war die Lage sowieso aussichtslos. Maslov hatte schon viel zu viel Macht über ihn besessen, obwohl er nur ein Mensch gewesen war. Merenpath aber war ein ganz anderes Kalber und ein Halbgott. Dummerweise war er auch noch an derselben Frau interessiert. Scheißkarten, wie man so schön sagte, denn er war es, der schon wieder in Ketten hing und angreifbar geworden war. In mehr als nur einer Bedeutung. Blues tödliche Magie war wirkungslos bei Merenpath und wenn es nach dem Halbgott ging, sollte er sogar in der Hochzeitsnacht von Merenpath und Vanessa dabei sein und wie ein lebendiges Aufladegerät für Magie fungieren. Qual und Zorn würden ihn von innen heraus verschlingen und seine Eingeweide verbrennen. Sein Herz würde brechen und seine Magie für immer schwinden. Es war mit Sicherheit ein furchtbares Ende, das ihm hier bevorstand, aber es war zumindest die Aussicht auf ein Ende.

„Lass den Kopf nicht hängen, Blue!“ Es war Annika, die plötzlich wie aus dem Nichts hinter Brandt hervorschaute und das Wort an Blue richtete. Der hatte nicht einmal bemerkt, dass sie zu zweit gekommen waren. Überrascht sah er auf.

„Du bist doch diese ... Anni-ka, oder?“, fragte er verwundert und Annika nickte, obwohl sie auch ein wenig enttäuscht war, weil der magische Mann sich nur mit Mühe an ihren Namen erinnern konnte. Selbst wusste sie mittlerweile alles von ihm. Zum Teil von Isidora, zum Teil von Martin. Die Erinnerung zu der verhängnisvollen Entführung vor zwei Jahren war nur schleppend in Gang gekommen, doch mittlerweile wusste sie von dem Urlaub, dem grässlichen Maslov, von Blue und dem mögliche Martyrium, das er ihnen allen erspart hatte.

Blue bemerkte ihren gekränkten Stolz, weil er sie beinahe Anni statt Annika genannt hatte. In den letzten zwei Jahren hatte er wahrlich gelernt Emotionen von Gesichtern anderer abzulesen.

„Sorry, ich merke mir Namen nicht so gut. Gesichter vergesse ich dafür nie.“ Er lächelte ihr versöhnlich zu und Annika bekam große Augen. Lachend hatte sie den blauen Mann noch nie gesehen. Auch Martin Brandt schien verblüfft zu sein. Doch das Lächeln hielt nicht lange. Blues Ernsthaftigkeit und sein Leidensdruck wischten es wieder viel zu schnell von seinen Lippen. Die Verblüffung aber blieb an Annika haften wie klumpiger Sand, der nicht gleich mit einem Handstreich abzuklopfen war. Blue war für sie immer ein furchteinflößendes Wesen mit überirdischer Schönheit gewesen. Allerdings mit einer Schönheit, wie sie auch fleischfressenden Pflanzen innewohnte. Seine Magie war tödlich, sein Aussehen die pure Anziehung und wie geschaffen, um Beute anzulocken. Offenbar war sie bis jetzt davon ausgegangen, dass seine Magie eine gewisse Menge lebendiger Nahrung brauchte, um zu funktionieren. Das aufrichtige Lächeln von vorhin passte da irgendwie nicht ganz in dieses Bild. Verlegen senkte Annika den Kopf. Sie hatte ihrem Lebensretter gerade unterstellt ein Monster zu sein und das sollte er nicht unbedingt sehen.

„Für Höflichkeiten haben wir keine Zeit!“, zischte Martin, der allmählich die Geduld verlor. „Wir holen dich hier raus, dann suchen wir Vanessa und du kümmerst dich um Merenpath.“ Martin nestelte die ganze Zeit schon am Schloss der Zelle herum und schaffte es endlich die Tür zu öffnen.

„Da gibt es nur ein Problem, Martin. Meine Magie wirkt nicht bei Merenpath.“ Martin Brandt zuckte nur kurz mit seinem rechten Auge, doch bei Annika kam diese Gefühlsregung an, als wäre er gerade von einer unsichtbaren Wand zurückgeprallt. Innerlich schien der Söldner schockiert zu sein. Äußerlich war davon kaum etwas zu bemerken.

„Scheiße, ist das wahr?“

„Leider ja. Der Typ hat mich vorhin berührt und ist nicht in Flammen aufgegangen.“ Blue schien von dieser Tatsache ebenso schockiert zu sein wie Martin Brandt. Annika hingegen fand das nicht weiter schlimm.

„Dann knallen wir ihn eben ab“, meinte sie mit vorgerecktem Kinn und kam sich dabei vor wie ein Kind, das hinter zwei riesigen Männern hin und her hüpfte, um auf sich aufmerksam zu machen. Wo war das Problem, wenn man Waffen hatte? Und Martin Brandt hatte ein ganzes Arsenal an seinem Körper und auch Annika mit ein paar Waffen ausgestattet.

Beide Männer blickten daraufhin zu ihr. Martin drehte sich dafür sogar um.

„So einfach wird das bei einem Halbgott wohl kaum werden“, meinte er nur und wandte sich dann den Ketten von Blue zu. Die Schlösser seiner Fesseln waren bei weitem nicht so kompliziert wie die an der Zellentür. Er musste nur aufpassen, nicht an seiner Haut anzukommen.

„Vorsicht, mein Freund!“ Auch Blue achtete darauf, dass kein Unfall passierte und hielt ganz ruhig. Martin entging die Anrede kein bisschen. Endlich hatte der blaue Mann geschnallt, dass er nicht der Feind war. „Was ist eigentlich mit den beiden Schlägertypen vorm Zellentrakt?“, fragte Blue und überging das zufriedene Grinsen seines ehemaligen Evok-Kollegen.

„Betäubt. Mit Acid, flüssig in der Cola. Dachte, dann haben sie wenigstens auch was davon. Die Burschen sind nämlich ganz okay und vielleicht haben sie ja mit dem Zeug einen Esoterik-Trip ... zu Gott oder so.“ Martin grinste noch breiter und Blue fiel es schwer, es ihm nicht gleichzutun.

„Acid?“, frage Annika, die sich mit Drogen nicht auskannte.

„Auch LSD genannt“, erklärte Blue und grinste doch noch. Das erste Schloss war geknackt, aber vor allem freute er sich darüber, dass er sich in Martin Brandt getäuscht hatte. Der Ehrenkodex der alten Einheit war ja förmlich greifbar. Die Frage war nur, wie er einen Halbgott mit scheinbarer Willigkeit täuschen hatte können. Aber das würde er ihn später fragen.

„Gut gemacht, Martin! Und was ist mit dem Überwachungssystem? Du weißt schon. Merenpath hat überall Kameras.“ Seine Augen waren vollkommen ernst, aber sein Mund lächelte immer noch schief. Annika war ganz fasziniert von der neuen Seite des blauen Mannes.

„Das dürfte kein Problem sein. Wer glaubst du sitzt wohl im Kontrollraum, wo alle Bilder aufscheinen?“, fragte Martin und lachte leise, während er auch das zweite Schloss knackte. „Einer von meinen Männern, natürlich. Und der ist top.“ Blues letzte Fessel sprang auf und Martin machte einen Schritt zurück. Wer wusste schon, ob der blaue Riese nicht schwankte, wenn er in die Höhe kam.

Doch von Unsicherheit oder Schwindel konnte keine Rede sein. Blue stand von seiner Steinbank auf und streckte seine müden Glieder. Annikas Mund klappte so weit herunter, dass es schon peinlich war und Martin ein tiefes Knurren entlockte. Blue knackte noch mit ein paar Knochen, ließ seine Schultern kreisen und tänzelte kurz herum, um seine Beine zu durchbluten.

„Mach endlich den Mund zu“, blaffte Martin und schielte verärgert zu Annika. Die deckte sicherheitshalber gleich einmal ihre Brüste mit ihren Handflächen ab, weil sich sogar ihre Brustwarzen aufgestellt hatten.

„Sorry. Was kann ich dafür, wenn der Mann sich hier so provoziert?“ Sie lachte, wenn auch ein wenig gekünstelt. Diese blaue Magie war ja die Hölle! Kein Wunder, dass Vanessa einen Blau-Knaller davon getragen hatte. Blue tat so, als würde er von ihrer Faszination nichts merken.

„Wo müssen wir hin, Martin?“, fragte er sachlich und versuchte der knisternden Stimmung zwischen Martin und dieser Annika entgegenzuwirken. Der kam auch sofort in die Gänge.

„Da lang! Ich gehe voran. Am besten du hältst diese Ketten fest, als wärst du noch gebunden! Nur für den Fall, dass Leute von Merenpath nachfragen. Annika, du gehst als Letzte! Wenn Du jemanden siehst, dann schieße bevor du auch nur überlegst. In deiner Waffe sind nur Betäubungsgeschosse. Du wirst also niemanden töten. Keine Gewissensbisse, kein Zögern! Unser Leben hängt davon ab. Und vergiss nicht: Blue ist ein wandelnder Schutzschild, aber ...“ Und damit drehte er sich so energisch zu ihr um, dass ihr die Luft für einen Moment wegblieb und sie ihn mit großen Augen ansah. „... komm ihm, verdammt noch einmal, nicht zu nahe! Ist das klar?“ Und das meinte er wohl in erster Linie zu ihrem Schutz, aber er schien auch eindeutig eifersüchtig zu sein.