Auf den folgenden Seiten finden Sie eine Leseprobe aus
Steve Altens neuem packendem Roman Das Ende,
der im Januar 2012 im Wilhelm Heyne Verlag erscheinen wird.
TEIL
1
Dunkelheit
Juli
Fort Detrick, Maryland
7:12 Uhr
Irgendwo in der Sackgasse wird
die Trübheit des Morgens durch die Hydraulik eines Müllwagens
entweiht. Ein Hund antwortet von einer rundum verglasten Veranda
aus. Ein Schulbus, der Camper zur örtlichen Jugendherberge
befördert, passiert mit rülpsendem Auspuff die Ringstraße.
In dem Haus ohne Kinder am Ende des Blocks
schnarcht die Frau mit den kandisapfelroten Haaren leise in ein
Daunenkissen. Ihr Unterbewusstsein lehnt es ab, sich von dem
erwachenden Viertel stören zu lassen. Ihre Blase kribbelt, trotzdem
schläft sie noch eine Weile.
Mary Klipot klammert sich an den Traum, wie ein
Nichtschwimmer sich in stürmischer See an ein gekentertes Boot
klammert.
In ihrem Traum ist die Leere verschwunden. In
ihrem Traum ist ihr Vater kein namenloser Kerl, und ihre
drogensüchtige Mutter bereut, dass sie ihr Kind ausgesetzt hat. In
ihrem Traum gibt es ein Zuhause und ein warmes Bett. Kekse mit
Schokoladensplittern und Gutenachtküsse,
die nicht nach Tabak schmecken. Die Luft ist süß wie Flieder, und
die Wände sind von einem heiteren Weiß. Es gibt private Toiletten
und Duschen und Lehrerinnen, die keine Nonnen sind. Es gibt keinen
schallisolierten Raum an Mittwoch – und Samstagvormittagen, keine
Lederriemen und Weihwasserspritzer und ganz bestimmt keinen Pater
Santaromita.
In ihrem Traum ist Mary nicht
außergewöhnlich.
Die außergewöhnliche Mary. Die Waise mit dem
hohen IQ. Intelligent, aber gefährlich. Satan ist die winzige
Stimme in deinem Kopf, die sagt: Zünde die Katze an, es wird Spaß
machen. Spring vom Fenstersims, du kannst überleben. Gott ist
abwesend in diesen Momenten. Der Arzt mit dem kalten Stethoskop
gibt dem Ganzen einen Namen – Schläfenlappenepilepsie – und bietet
ihr ein Medikament an.
Pater Santaromita weiß es besser. Die
wöchentlichen Exorzismen dauern bis zu ihrem achten Geburtstag.
Sie nimmt die Medikamente. Der im Zaum
gehaltene IQ macht sich bezahlt. Konfessionsschulauszeichnungen.
Ein Hochschulstipendium. Abschlüsse in Mikrobiologie von der Emory
und der Johns Hopkins. Die Zukunft sieht golden aus.
Natürlich gibt es »andere« Herausforderungen.
Partys und gemischte Schulen. Bier und Drogen. Die introvertierte
Rothaarige mit den harten, haselnussbraunen Augen mag nuttig süß
aussehen, aber sie macht nicht die Beine breit. Die
außergewöhnliche Mary wird als Jungfrau Maria stigmatisiert. Die
Keuschheit stempelt sie als Ausgestoßene ab. Komm
schon, Mary. Nur die Guten sterben jung. Mary stirbt hundert
Tode. Sie arbeitet in zwei Jobs, damit sie sich ihre eigene Wohnung
leisten kann.
Absonderung ist einfacher.
Glatte Einsen öffnen Türen, die Arbeit im Labor
bietet Rettung. Mary hat Talent. Das Verteidigungsministerium
arrangiert ein Gespräch. Fort Detrick braucht sie. Gute Bezahlung
und staatliche Vergünstigungen. Die Forschungsarbeit ist
anspruchsvoll. Nach ein paar Jahren wird sie einem Sicherheitslabor
der Stufe 4 zugewiesen, wo sie mit einigen der gefährlichsten
biologischen Substanzen auf dem Planeten arbeiten kann.
Die kleine Stimme ist einverstanden. Mary nimmt
die Stelle an.
Mit der Zeit ändern sich die Träume.
Der Fund war in Montpellier
zutage gefördert worden. Das für die Ausgrabung verantwortliche
archäologische Team musste einen Mikrobiologen hinzuziehen, der
Erfahrung in der Arbeit mit exotischen Wirkstoffen hatte.
Montpellier liegt zehn Kilometer vom Mittelmeer
entfernt. Es ist eine von Geschichte und Tradition durchdrungene
Stadt, heimgesucht von einem Alptraum, an dem der gesamte
eurasische Kontinent teilhatte.
Die archäologische Ausgrabung war ein
Massengrab – eine Gemeinschaftsgrube, die auf das Jahr 1348
zurückging. Sechseinhalb Jahrhunderte hatten Organe und Fleisch
verschwinden und ein Durcheinander von Knochen zurückgelassen.
Dreitausend Männer, Frauen und Kinder. Die Leichen waren von den
Angehörigen hastig entsorgt worden, deren Trauer hinter ihre eigene
entsetzliche Angst zurücktrat.
Die Pest. Der Schwarze Tod.
Das große Sterben.
Dreihundert Menschen pro Tag waren in London
umgekommen. Sechshundert in Venedig. Die Pest hatte Montpellier
verwüstet und neunzig Prozent der Stadtbewohner hinweggerafft. In
nur wenigen Jahren hatte der Schwarze Tod die Bevölkerung des
Kontinents von achtzig Millionen auf dreißig Millionen dezimiert –
und das alles in einer Epoche, in der die Beförderungsmittel sich
auf Pferde und die eigenen Beine beschränkten.
Wie hatte die Seuche so effektiv töten können?
Wie hatte sie sich so schnell ausgebreitet?
Die Grabung wurde geleitet von Didier Raoult,
einem Medizinprofessor an der Universität des Mittelmeers in
Marseille. Raoult fand heraus, dass das Zahnmark, welches im Innern
der Überreste von Zähnen (die in vielen der ausgegrabenen Schädel
erhalten waren) der Pestopfer gefunden worden war,
DNS-Anhaltspunkte liefern konnte, die das Geheimnis entschlüsseln
würden.
Mary machte sich an die Arbeit. Der Übeltäter
hieß Yersinia pestis – Beulenpest. Eine
Seuche direkt aus der Hölle. Extreme Schmerzen. Hohes Fieber,
Schüttelfrost und Beulen. Gefolgt vom Anschwellen der Wülste –
schwarze, golfballgroße Wölbungen, die am Hals und in der
Leistengegend der Opfer auftraten. Zu gegebener Zeit versagten die
infizierten inneren Organe und bluteten aus.
Ein Kinderlied aus dem 13. Jahrhundert lieferte
anschauliche Hinweise darauf, wie rasch der Schwarze Tod sich
ausgebreitet hatte: Ring around the rosie, a pocket
full of posies, at-shoo, at-shoo, we all fall down. Ein
Nieser, und die Seuche infizierte einen Haushalt, schließlich das
ganze Dorf, und löschte ihre ahnungslose Beute binnen Tagen
aus.
Beeindruckt von ihrer Arbeit überreichte Didier
Raoult Mary ein Abschiedsgeschenk – ein Exemplar eines kürzlich
entdeckten unveröffentlichten Berichts, verfasst während der Großen
Pest vom Leibarzt des Papstes, Guy de Chauliac. Aus dem
französischen Original übersetzt, schilderte das Tagebuch
ausführlich, wie das Große Sterben während der Jahre 1346 bis
einschließlich 1348 die menschliche Spezies beinahe vollständig
ausgerottet hätte.
Mit Chauliacs Tagebuch und Proben des 666 Jahre
alten Killers kehrte Mary nach Fort Detrick zurück. Das
Verteidigungsministerium war fasziniert. Die Behörde behauptete,
man wolle Schutzmaßnahmen für amerikanische Soldaten im Falle eines
biologischen Angriffs erforschen. Die einunddreißigjährige Mary
Louise Klipot wurde befördert und zur Leiterin des neuen Projekts
ernannt, das Scythe (»Sense«) getauft wurde.
Noch vor Ablauf eines Jahres übernahm die CIA
die Finanzierung, und Scythe verschwand aus den Büchern.
Mary wird wach, bevor der
Wecker ertönt. Ihr Bauch gluckert. Ihr Blutdruck sinkt. Sie schafft
es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.
Mary ist seit einer Woche krank. Andrew hat ihr
versichert, es sei bloß Grippe. Andrew Bradosky war ihr
Labortechniker. Neununddreißig Jahre alt. Von jungenhaftem Charme
und gutaussehend. Sie hatte ihn aus einem Pool von Mitarbeitern
ausgewählt, nicht weil er besonders qualifiziert war, sondern weil
sie ihn einschätzen konnte. Selbst seine Versuche, eine soziale
Beziehung außerhalb des Labors aufzubauen, zielten auf eine
Beförderung ab. Die Reise nach Cancún im letzten
April war eine willkommene Zerstreuung gewesen, zugestanden erst,
nachdem er ihre Enthaltsamkeitsregeln anerkannt hatte. Mary sparte
sich für die Ehe auf. Andrew hatte kein Interesse an der Ehe, aber
eine Augenweide war er schon.
Mary zieht sich rasch an. Die Arztkittel
vereinfachten die Wahl ihrer Garderobe. In Räumlichkeiten der
Biosicherheitsstufe 4 und in dem Umweltanzug, den sie stundenlang
trug, war locker sitzende Kleidung die bessere Wahl.
Ihr verstimmter Magen vertrug nichts anderes
als Toast und Marmelade. Sie würde heute Vormittag den Amtsarzt
aufsuchen. Nicht dass sie hingehen wollte. Aber sie war krank, und
die übliche Vorgehensweise bei der Arbeit mit exotischen
Wirkstoffen verlangte Routinekontrollen. Als sie zur Arbeit fuhr,
versicherte sie sich selbst, dass es bloß die Grippe war.
Andrew könnte Recht haben. Selbst eine kaputte Uhr
geht zweimal am Tag richtig.
Sie hasste Warten. Warum wurden Patienten immer in sterile Untersuchungszimmer mit
papierüberzogenen Polstertischen und alten Golf
Digest-Ausgaben verbannt? Und diese
Untersuchungskittel… hatte sie jemals einen getragen, der
tatsächlich passte? Musste sie daran erinnert werden, dass sie
abnehmen musste? Sie gelobte, nach Feierabend ins
Fitnessstudio zu gehen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder.
Sie hatte viel zu viel zu tun, und Andrew war bei seinen Arbeiten
wie immer im Rückstand. Sie überlegte, einen neuen Techniker
hinzuzuziehen, hatte aber Angst, dass dann Gerüchte entstehen
würden.
Die Tür ging auf und Roy Katzin trat ein. Die
Miene des Arztes war zu fröhlich, um eine schlechte Nachricht zu
verbergen. »Also. Wir haben mit den raffiniertesten Apparaten, die
man mit Steuergeldern kaufen kann, die ganze Skala der Tests
durchgeführt, und wir meinen die Ursache für Ihre Symptome
konkretisiert zu haben.«
»Ich weiß schon, es ist die Grippe. Dr. Gagnon
hatte sie vor ein paar Wochen und …«
»Mary, es ist nicht die Grippe. Sie sind
schwanger.«
August
Manhattan, New York
Die Uhr im Armaturenbrett war
in dem Augenblick, den die dunkle Brünette in ihrem Dodge Minivan
gebraucht hatte, um sich auf den nach Süden führenden Spuren des
Major Deegan Expressway einen Weg durch das gefährliche Terrain des
fließenden Verkehrs zu bahnen, irgendwie von 7:56 auf 8:03 Uhr
vorgesprungen.
Nun offiziell verspätet, gelang es ihr, sich
hinter das Kohlenmonoxyd speiende Hinterteil eines Greyhound-Busses
auf die rechte Spur zu zwängen. Die Götter der Rushhour
verspotteten sie, indem sie ein Fahrzeug nach dem anderen links
überholte. Sie besann sich auf das einzige in ihrem Arsenal
verfügbare Mittel und schlug mit beiden Handflächen aufs Lenkrad;
der lange Hupton sollte die vor ihr grasende stählerne Kuh aus der
Fassung bringen.
Stattdessen verwandelte sich die
Warteschleifenmusik im Freisprechhandy in eine zen-artige männliche
Stimme mit einem rhythmisch sanften Hindu-Akzent, die sie
mit »Guten Morgen. Danke, dass Sie drangeblieben sind. Darf ich
fragen, mit wem ich spreche?« begrüßte.
»Leigh Nelson.«
»Danke, Mrs. Nelson. Dürfte ich aus
Sicherheitsgründen den Mädchennamen Ihrer Mutter erfahren?«
»Deem.«
8:06 Uhr.
»Danke für diese Information. Und wie kann ich
Ihnen heute helfen?«
»Wie Sie mir helfen können? Ihre verdammte Bank
hat die letzte Einzahlung meines verdammten Ehemanns gesperrt,
wodurch acht von meinen Schecks geplatzt sind, für die Sie mir dann
35 Dollar pro Scheck in Rechnung gestellt haben, so dass mein Konto
gewaltig überzogen wurde, und ich flippe gleich aus!«
»Tut mir leid, dass das passiert ist.«
»Nein, tut es Ihnen nicht.«
8:11 Uhr.
»Ich sehe, dass der Scheck Ihres Mannes am 4.
eingereicht wurde.«
Sie schiebt sich langsam auf den rechten
Seitenstreifen und über den rußfleckigen, die Sicht
beeinträchtigenden Greyhound-Bus hinaus. Die FDR-South-Ausfahrt war
immer noch gut hundert Meter voraus, und das Einzige, was ihr
eingekeiltes Fahrzeug von der erlösenden Freiheit trennte, war
diese schmale Kriechspur.
Sie beschleunigte durch die Lücke, nur um von
einem schwarzen Lexus geschnitten zu werden, dessen Fahrer die
gleiche Idee hatte. Bremsen! Hupe! Mittelfinger!
»Der Scheck wird am Dienstag freigegeben.«
»Dienstag ist zu spät. Seit wann wird eine
Einzahlung von General Motors eine Woche gesperrt?«
»Tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten.
Leider ist das eine neue Bankrichtlinie bei allen Schecks aus einem
anderen Bundesstaat.«
»Hören Sie zu. Mein Mann hat zwar gerade seinen
Job verloren, aber er wird sein Gehalt noch weitere vier Wochen
erhalten. Erstatten Sie wenigstens die Gebühren für die geplatzten
Schecks zurück.«
»Noch einmal, tut mir leid, aber ich kann die
Bankrichtlinie nicht ändern.«
»Mir tut’s auch leid. Mir tut leid, dass die
Regierung euch mit 800 Milliarden Dollar unserer Steuergelder aus
der Patsche geholfen hat!«
»Möchten Sie mit meinem Vorgesetzten
sprechen?«
»Klar! In welchem verdammten Teil von Indien
lebt er?«
9:17 Uhr
Der Dodge-Minivan kroch auf der
East 25th Street am Baustellenverkehr vorbei und bog auf den
Mitarbeiterparkplatz des Krankenhauses der Veteranenverwaltung ein.
Stellte sich so schräg in eine Parklücke, dass der Besitzer des
Wagens zur Rechten sich mit Sicherheit ärgern würde.
Die Brünette verdrehte den Innenspiegel
seitlich. Zog hastig Mascara durch die Wimpern ihrer graublauen
Augen. Tupfte Make-up auf ihre Stupsnase. Schmierte sich eine
frische Lage neutralen Lippenstift auf ihre vollen Lippen. Blickte
verstohlen auf die Uhr, schnappte sich dann ihre lederne
Aktentasche vom Kindersitz und hastete aus dem Minivan zum Eingang
der Notaufnahme. Sie hoffte inständig, nicht dem Verwaltungsleiter
des Krankenhauses über den Weg zu laufen.
Die Doppeltüren glitten auf und empfingen sie
mit gekühlter Luft, die mit dem Geruch der Kranken verpestet war.
Im Wartebereich gab es nur Stehplätze. Husten und Krücken und
weinende Kinder, abgelenkt von der Today
Show, die auf an der Wand angebrachten Flachbildschirmen
lief.
Auf halbem Weg den Hauptflur hinunter blieb sie
stehen, um ihren weißen Laborkittel überzustreifen, was die
Aufmerksamkeit eines groß gewachsenen Inders Anfang vierzig
erregte. Er rang nach Luft. »Bitte … wie komme ich zur
Intensivstation?«
Sein gequälter Gesichtsausdruck zügelte ihr
Verlangen, Dampf abzulassen, zumal seine äußere Erscheinung ihr
versicherte, dass dies nicht der Bankangestellte war, mit dem sie
vorhin gesprochen hatte. Anzughemd mit
Schwitzflecken. Fliege. Rechtes Hosenbein mit einem Gummiband
fixiert. Ein Akademiker, der einen kranken Kollegen besucht. Ist
wahrscheinlich auf seinem Fahrrad vom Campus hergeradelt.
»Folgen Sie dem Flur linker Hand. Dann nehmen Sie den Aufzug in den
siebten Stock.«
»Danke.«
»Dr. Nelson!«
Die Stimme von Jonathan Clark schreckte sie
auf.
»Wieder zu spät? Lassen Sie mich raten …
Verkehrsstau in New Jersey? Nein, Moment, heute ist Montag. Montags
sind Schwierigkeiten bei der Kindererziehung angesagt.«
»Ich habe keine Schwierigkeiten bei der
Kindererziehung, Sir. Ich habe zwei reizende Kinder, das jüngere
ist autistisch. Heute Morgen beschloss die Kleine, die Katze mit
Hafermehl zu schminken. Doug hat ein Vorstellungsgespräch,
mein Babysitter rief krank aus Wildwood an und …«
»Dr. Nelson, Sie kennen
meine Philosophie, was Ausreden betrifft. Es hat noch nie einen
erfolgreichen Menschen gegeben, der eine brauchte, und …?«
Ihr Blutdruck stieg. »Es hat noch nie einen
Versager gegeben, der um eine verlegen war.«
»Ich ziehe Ihnen einen halben Tageslohn ab.
Machen Sie sich jetzt an die Arbeit, und vergessen Sie nicht, wir
haben um sechs eine Mitarbeiterbesprechung.«
»Ja, Boss.«
Leigh Nelson flüchtete den Flur hinunter in ihr
Büro. Warf ihre Aktentasche oben auf einen Aktenschrank und ließ
sich auf den knarrenden Holzstuhl fallen, der ständig auf seinem
seitlich versetzten Fuß schwankte; ihr Blutdruck spottete jeder
Beschreibung.
Die Montage im Krankenhaus waren mentale
Bärenfallen. An Montagen sehnte sie sich jedes Mal zurück nach
ihrer Zeit als Wildfang, damals auf der Schweinefarm ihres
Großvaters in Parkersburg, West Virginia.
Es war ein schwieriger Sommer gewesen. Das New
York Harbor Health Care System der Veteranenverwaltung bestand aus
drei Klinikkomplexen – einem in Brooklyn, einem in Queens und ihrem
eigenen hier in Manhattans East Side. In einem Versuch, einen
geradezu lächerlichen Betrag einzusparen, war der Kongress zu der
Überzeugung gelangt, dass man sich nur zwei prothetische
Behandlungszentren leisten könne. Und das trotz zweier andauernder
Kriege. Eine Million Dollar pro kämpfendem Soldaten und nur Pennys
für die Behandlung der Verwundeten. War Washington verrückt
geworden? Lebten diese Leute in der realen Welt?
In ihrer Welt bestimmt nicht.
Längere Arbeitszeiten, dieselbe Bezahlung.
Bleib bei der Stange, Nelson. Steck’s weg und wiederhol deinen
Standardspruch: Sei froh, dass du noch einen Job
hast.
Leigh Nelson hasste Montage.
Zwanzig Minuten, ein Dutzend
E-Mails und einen halb gegessenen Donut später war sie bereit, die
Krankenakten durchzusehen, die sich auf ihrem Schreibtisch
stapelten. Sie hatte kaum die zweite Akte durch, als Geoff Payne
ihr Büro betrat.
»Morgen, Schmollmund. Hab gehört, du bist im
letzten Zug nach Clarksville erwischt worden.«
»Ich hab zu tun, Geoff. Komm zur Sache.«
Der Leiter der Aufnahme reichte ihr eine
Personalakte. »Ein Neuzugang aus Deutschland. Patrick Shepherd,
Sergeant, United States Marines, Alter vierunddreißig. Noch ein
IED-Amputierter, nur dass dieser arme Schwachkopf den Apparat auch
noch in die Hand nahm, als er losging. Vollständige Abnahme des
linken Arms direkt unterhalb der Bizepsinsertion. Dazu kommen
Prellungen und eine Schwellung an der Gehirnbasis, ein kollabierter
linker Lungenflügel, drei gebrochene Rippen und ein ausgerenktes
Schlüsselbein. Er leidet noch immer unter Schwindelanfällen,
Kopfschmerzen und schweren Gedächtnislücken.«
»Posttraumatischer Stress?«
»Schlimmer geht’s nicht. Seine psychosoziale
Diagnose ist in der Akte. Auf Antidepressiva spricht er nicht an,
und psychologische Betreuung hat er abgelehnt. Seine Ärzte in
Deutschland hatten ihn rund um die Uhr unter
Selbstmord-Beobachtung.«
Leigh schlug die Akte auf. Sie warf einen Blick
auf die Bewertung der posttraumatischen Belastungsstörung und las
dann laut die militärische Vorgeschichte des Patienten. »Vier
Einsätze: Al-Qaim, Haditha, Falludscha und Ramadi plus eine Zeit in
Abu-Ghraib. Herrgott, der hat eine Tour durch die Hölle hinter
sich. Wurde ihm eine Prothese angepasst?«
»Noch nicht. Lesen Sie seine persönliche
Vorgeschichte, Sie werden sie besonders interessant finden.«
Sie überflog den Paragraphen. »Echt? Er hat
Profi-Baseball gespielt?«
»Hat für die Red Sox geworfen.«
»Na gut, dann lassen Sie sich Zeit mit der
Bestellung der Prothese.«
Geoff lächelte. »Wir haben nochmal Glück
gehabt. Dieser Bursche hätte die Yankees glatt gekillt. Im ersten
Jahr an der Spitze ist er ’ne Anfängersensation, acht Monate später
ist er im Irak.«
»War er so gut?«
»Er war der kommende Star. Ich erinnere mich,
in Sports Illustrated was über ihn gelesen
zu haben. Boston wählte ihn ’98 als Erstrunden-Nachwuchsspieler,
hat ihn aber nie übernommen. Drei Jahre später beherrscht er die
Single-A-Liga. Die Sox verloren einen ihrer Stammspieler, und
plötzlich ist der Bursche Werfer in der Profiliga.«
»Er schaffte den Sprung von der Single A zu den
Profis in einer Saison? Donnerwetter.«
»Der Frischling hatte Eiswasser in den Adern.
Die Fans gaben ihm den Spitznamen ›Würger von Boston‹. Im ersten
Spiel an der Spitze lässt er als Werfer nur zwei Hits der Yanks zu,
was ihn zum Kulthelden bei
den Red Sox-Fans machte. Im zweiten Spiel geht er über neun
Innings und verzichtet auf einen einzelnen Run, bevor die Sox das
Spiel im Zehnten verloren haben. Seine Neuauflage mit den Yankees
war für Mitte September vorgemerkt, nur dass 9/11 dazwischenkam.
Als die Saison wieder anfing, war er weg.«
»Was meinst du, weg?«
»Er verzog sich. Verließ die Sox und trat ins
Marine Corps ein … verrückter Schwachkopf.«
»Im Lebenslauf steht, er ist verheiratet und
hat eine Tochter. Wo ist seine Familie jetzt?«
»Sie hat ihn verlassen. Er will nicht darüber
reden, aber ein paar von den anderen Veteranen erinnern sich,
Gerüchte gehört zu haben. Sie sagen, seine Frau hätte die Kleine
genommen und sei abgehauen, als er sich gemeldet hat.
Wahrscheinlich war sie stinksauer, wer könnte es ihr verdenken.
Statt mit einem zukünftigen Multimillionär und einer
Sportberühmtheit verheiratet zu sein, steht sie auf dem Schlauch,
weil sie ihre kleine Tochter alleine großziehen und mit der
Besoldungsgruppe eines gemeinen Soldaten auskommen muss. Traurig,
echt, aber wir erleben das die ganze Zeit. Kampfeinsätze waren
einer guten Ehe noch nie zuträglich. «
»Moment … er hat seine Familie seit
Kriegsanfang nicht mehr gesehen?«
»Nochmal: Er will nicht darüber reden.
Vielleicht ist es das Beste. Nach allem, was dieser Bursche
durchgemacht hat. Ich würd nicht neben ihm schlafen wollen, wenn er
anfängt, vom Krieg zu träumen. Weißt du noch, was Stansbury mit
seiner Alten gemacht hat?«
»Gott, erinner mich nicht daran. Wo ist der
Sergeant jetzt?«
»Wird gerade mit seiner ärztlichen Untersuchung
fertig. Willst du ihn kennenlernen?«
Ȇberweis ihn auf Station 27, ich werd ihn
später ausfindig machen.«
Intensivstation
Siebter Stock
Das Zimmer roch. Bettpfannen
und Ammoniak. Krankheit und Tod. Eine Zwischenstation zum Grab.
Pankaj Patel stand am Fußende des Bettes und
starrte in das Gesicht des älteren Mannes. Krebs und Chemotherapie
hatten sich verbündet, um das physische Dasein seines Mentors
jeglicher Lebenskraft zu berauben. Sein Gesicht war blass und
ausgemergelt. Die Haut hing ihm von den Knochen. Die Augenhöhlen
waren dunkel und eingesunken.
»Jerrod, es tut mir so leid. Ich war in Indien
bei meiner Familie. Ich bin hergekommen, sobald ich es erfuhr.
«
Jerrod Mahurin öffnete die Augen, der Anblick
seines Schützlings riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. »Nein … nicht
dorthin! Stell dich neben mich, Pankaj … schnell.«
Patel ging zur linken Seite des Bettes, in dem
der Professor lag. »Was gibt’s? Haben Sie etwas gesehen?«
Der ältere Mann schloss die Augen und
mobilisierte seine letzten Kraftreserven. »Der Todesengel wartet am
Fußende des Bettes auf meine Seele. Du warst zu nahe dran. Sehr
gefährlich.«
Entnervt wendete Patel sich um und blickte
zurück auf den leeren Platz. »Sie haben ihn gesehen? Den
Todesengel? «
»Dafür ist keine Zeit.« Jerrod streckte die
linke Hand nach seinem Schützling aus. Das blasse Fleisch war
babyweich und gezeichnet von einem Minenfeld verräterischer
Blutergüsse von einem Dutzend Tropfinfusionen. »Du warst ein
außergewöhnlicher Schüler, mein Sohn, aber dieses Stückchen
Körperlichkeit, das wir Leben nennen, ist bei weitem noch nicht
alles. Alles, was du siehst, ist nur eine Illusion, unsere Reise
ist eine Prüfung, und wir versagen jämmerlich. Die Welt ist im
Ungleichgewicht, das Böse überwiegt. Politik, Gier, der
Kapitalismus der Kriegführung. Und doch sind all die Dinge, denen
wir uns entgegengestemmt haben, lediglich Symptome. Was treibt
einen Mann an, unmoralisch zu handeln? Eine Frau oder ein Kind zu
vergewaltigen? Wie kann ein menschliches Wesen vollkommen
gewissenlos einen Mord begehen oder den Tod von Zehntausenden …
oder sogar Millionen unschuldiger Menschen befehlen? Um die wahren
Antworten zu finden, muss man sich auf die eigentliche Ursache, die
Wurzel der Krankheit konzentrieren.«
Der ältere Mann schloss die Augen und hielt
inne, um einen Klumpen Schleim zu schlucken. »Hier ist eine direkte
Ursache-Wirkung-Beziehung im Spiel, eine Wechselwirkung zwischen
der negativen Kraft und dem Ausmaß an Gewalttätigkeit und Gier, die
abermals zugenommen haben, um die Menschheit zu quälen. Der Mensch
wird weiter durch die unmittelbare Befriedigung seines Egos in
Versuchung geführt, was uns weiter vom LICHT Gottes entfernt. Das
kollektive Handeln
der Menschheit hat den Todesengel heraufbeschworen, und mit ihm
das Ende der Tage.«
Die Blutgefäße unter Patels Haut erweiterten
sich und hinterließen eine Gänsehaut. »Das Ende der Tage? Der
Konflikt im Nahen Osten … wird er zum Dritten Weltkrieg führen? Zu
einem nuklearen Holocaust? Jerrod? «
Der Sterbende schlug die Augen wieder auf.
»Symptome«, stieß er hustend hervor. Der schlechte Geruch
blieb.
Patel ging zum unberührten Frühstückstablett,
nahm mit einem Löffel ein Eisstückchen auf und legte es seinem
Lehrer in den Mund. »Vielleicht sollten Sie sich ausruhen.«
»Gleich.« Jerrod Mahurin schluckte die Gabe,
während er seinen Schützling durch die geöffneten Schlitze seiner
fiebrigen Augen beobachtete. »Das Ende der Tage ist ein
überirdisches Ereignis, Pankaj, ins Werk gesetzt vom Schöpfer
persönlich. Die Menschheit … entfernt sich vom Licht Gottes. Der
Schöpfer wird nicht zulassen, dass die dingliche Welt von jenen
ausgerottet wird, die Kraft aus der Dunkelheit schöpfen. Wie bei
Sodom und Gomorrha, wie bei der großen Sintflut, wird Er die
Menschheit auslöschen, bevor das Böse Seine Schöpfung zerstört, und
das abschließende Ereignis, was auch immer es sein mag, wird bald
eintreten.«
»Mein Gott.« Patels Gedanken wanderten zu
seiner Frau, Manisha, und ihrer gemeinsamen Tochter, Dawn.
»Das Folgende ist wichtig. Nach meinem Tod wird
ein Mann von großer Weisheit dich ausfindig machen. Ich habe dich
auserwählt.«
»Mich auserwählt? Wozu?«
»Als meine Vertretung. Eine Geheimgesellschaft
… neun Männer, die hoffen, Gleichgewicht zu bringen.«
»Neun Männer? Was muss ich tun?«
Ein kranker Atem kam aus Jerrod Mahurins Mund,
leise pfeifend wie ein sich entleerender Blasebalg; der Geruch war
schal und streng.
Pankaj Patel wich zurück. »Jerrod, diese Männer
… können sie das Ende der Tage abwenden? Jerrod?« Der Schüler
langte nach einem weiteren Eisstückchen, das er seinem Lehrer
behutsam auf die Zunge legte.
Wasser tröpfelte aus der offenen Mundspalte des
älteren Mannes.
Ein Moment verstrich, bis die Stille von dem
ununterbrochenen Piepton des Herzmonitors unterbrochen wurde, der
eine Nulllinie zeigte.
Dr. Jerrod Mahurin, Europas führende Kapazität
auf dem Gebiet psychopathischen Verhaltens, war tot.
Station 27
Leigh Nelson betrat Station 27,
einer von einem Dutzend Bereichen, die ihre Kollegen als »Aquarium
des Leidens« bezeichneten. Hier wurde alles zur Schau gestellt, das
Gemetzel, das seelische Strandgut, die hässliche Seite des Krieges,
an die niemand außerhalb des Krankenhauses erinnert werden
wollte.
Auch wenn während des gesamten Ersten
Golfkrieges nur vierzehn Amputierte behandelt wurden, war die
Invasion der zweiten Regierung Bush eine ganz andere Geschichte.
Zehntausende amerikanischer Soldaten hatten seit der Besetzung im
Jahr 2003 Gliedmaßen
verloren, ihre langfristige Pflege erdrückte ein ohnehin schon
überlastetes Gesundheitswesen, während ihre Qualen dem Licht der
Öffentlichkeit bewusst vorenthalten wurden. Und noch wütete der
Krieg weiter.
Die tagtägliche Arbeit auf einer Station für
Kriegsamputierte erfordert einen ganz besonderen Schlag von
Therapeuten. Nach Bombenexplosionen ist der menschliche Körper
schwer gezeichnet von Brandmalen und Granatsplitter-Verletzungen.
Die Schmerzen können fürchterlich sein, die Operationen scheinbar
endlos. Depression grassiert. Viele verwundete Veteranen sind
zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, einige noch im
Teenageralter. Mit dem lebensverändernden Verlust eines Körperteils
fertigzuwerden kann verheerend für das Opfer, seine Familie und die
Pflegekraft sein.
So schlimm es tagsüber war, nachts war es viel
schlimmer.
Leigh blieb am ersten Bett zur ihrer Rechten
stehen, das von Justin Freitas belegt war. Der Sanitäter, gerade
mal neunzehn, hatte vor zehn Wochen beim Versuch, eine Bombe zu
entschärfen, beide Augen und Hände verloren.
»He, Dr. Nelson. Woher wusste ich, dass Sie es
sind?«
»Sie haben mein Parfüm gerochen.«
»Genau! Ich hab Ihr Parfüm gerochen. He, Doc,
ich hab die Fernbedienung für den Fernseher fallen gelassen, können
Sie sie mir geben?«
»Justin, wir haben gestern darüber
gesprochen.«
»Doc, ich glaube fast, Sie sind diejenige, die
blind ist. Ich habe Hände, ich kann sie spüren.«
»Nein, Herzchen. Es sind die Nervenenden, die
verwirren Ihr Gehirn.«
»Doc, ich kann sie spüren!«
»Ich weiß.« Nelson kämpfte mit den Tränen. »Wir
werden Ihnen neue Hände besorgen, Justin. Noch ein paar Operationen
und …«
»Nein … keine Operation mehr. Ich will keine
Operation mehr! Ich will keine Zangen! Ich will meine Hände! Wie
kann ich mein kleines Mädchen ohne Hände halten? Wie kann ich meine
Frau berühren?«
Die Wut entzündete sich wie ein Pulverfass. Dr.
Nelson hatte kaum Zeit, ein Zeichen zu geben, dass sie Hilfe
brauchte, bevor sie gezwungen war, mit ihrem Patienten zu ringen,
ihn unter vollem Körpereinsatz daran zu hindern, mit den Stümpfen
seiner bandagierten Unterarme gegen das Bettgeländer aus Aluminium
zu schlagen.
Ein Pfleger stürzte herbei und half ihr, Justin
Freitas’ Arme lange genug mit Klettbändern zu fixieren, damit sie
ein Beruhigungsmittel in seine Tropfinfusion injizieren konnte, das
ihn in ein Narkosedelirium versetzte.
Dr. Nelson hielt kurz inne, um zu verschnaufen,
während sie sich Notizen auf seinem Krankenblatt machte. Sechzehn
weitere Amputierte lagen in Lauerstellung auf dieser Station. Der
ersten von acht.
Jede Station hatte ihren
Pförtner, einen Kriegsveteranen, der wusste, wie seine Kameraden
tickten. Auf Station 27 war es Master Sergeant Rocky Allen Trett.
Acht Monate zuvor durch eine Panzerabwehrwaffe verwundet, saß der
doppelt Beinamputierte aufrecht im Bett und wartete darauf, sie zu
begrüßen.
»Morgen, Schmollmund, Sie sind spät dran. Hat
die Kleine Ihnen zu Hause das Leben schwergemacht?«
»Wie war nochmal der Ausdruck, den Sie gern
benutzen? Genau … fordernd. Es ist fordernd. Sie scheinen heute
gute Laune zu haben.«
»Mona kam mit den Kindern vorbei.«
»Okay, verraten Sie’s mir nicht … die Jungs
sind Dustin und Logan, Ihre Tochter ist Molly.«
»Megan. Blaue Augen, genau wie Ihre. Großartige
Kinder. Kann’s nicht abwarten, nach Hause zu kommen. Hören Sie, ich
hab versprochen, nicht zu fragen …«
»Ich hab unseren Prothetiker heute Vormittag
noch mal angerufen. Er hat mir versprochen, nicht später als Mitte
September.«
»Mitte September.« Rocky bemühte sich, seine
Enttäuschung zu verbergen. Nach ein paar Augenblicken gewann er
seine Fassung zurück und zeigte über den Mittelgang. »Passen Sie
auf Swickle auf. Er hat sich vorhin die Augen ausgeheult. Die Alte
hat ihm zum Frühstück die Scheidungspapiere überreicht. Meint, sie
kann nicht damit umgehen, einen Krüppel zum Mann zu haben.«
»Allerliebst. Rocky, was ist mit dem neuen
Burschen … Shepherd?«
Rocky schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie den
Prothetiker; der Junge braucht einen Seelenklempner.«
»Herzchen, wir alle brauchen einen
Seelenklempner. « Mit einem Kuss auf die Stirn brachte sie sein
Lächeln zurück, dann ging sie weiter zu Station 17, einer von
mehreren Bereichen, die aus Gründen der Privatsphäre durch einen
Vorhang abgeteilt worden waren.
»Sergeant Shepherd, mein Name ist Dr. Nelson, und ich bin Ihre
…«
Sie zog den Vorhang zurück.
Das Bett war leer.
Der Himmel über Manhattan
schwamm in Blau. Eine stete Brise, die vom East River kam,
reduzierte den Geruch nach Ruß auf ein Minimum. Reihen
industrieller Klimaanlagen brummten in der Nähe, und das
mechanische Ächzen ihrer rotierenden Ventilatoren ließ die
Asphaltdecke des Daches vibrieren. Sieben Stockwerke darunter
mischte sich der Verkehrslärm in die Serenade, und mit dem
schnellen Näherrücken der Mittagsause verstärkte sich die
Hupfrequenz allmählich.
Der Hubschrauberlandeplatz des VA-Krankenhauses
war leer, der Rettungshubschrauber auf einem Einsatz.
Der schlaksige Mann in der grauen Trainingshose
und dem weißen T-Shirt lief barfuß die zwanzig Zentimeter breite
Betonkante entlang, die den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach
umgab. Lange braune Haare flatterten in der Brise, und seine
Gesichtszüge und der verträumte Blick erinnerten an Jim Morrison,
den verstorbenen Leadsänger der Doors. Der Soldat teilte die
ruhelose Seele des Künstlers, die eingeschlossen war in einer Gruft
aus Fleisch.
Er hatte ein Gefühl in der linken Hand, als
hätte er den Ellenbogen tief in Lava getaucht. Die Schmerzen waren
fürchterlich und trieben ihn an den Rand des Wahnsinns.
Da ist kein Arm, du Arschloch. Die Schmerzen sind
ein Phantom … genau wie deine Existenz.
Patrick Ryan Shepherd schloss die Augen, und
der einarmige Mann lockte die Geräusche und Gerüche des
Großstadtdschungels, durch das Loch in seiner Erinnerung zu
strömen …
… und Bilder einer längst verloren geglaubten
Vergangenheit aufzuspüren …
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DAS ENDE
Von Steve Alten
ISBN 978-3-453-43610-7
Erscheint als Taschenbuch
im
Wilhelm Heyne Verlag