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»Wie von mehreren
CERN-Mitarbeitern bestätigt wird,
hat der Ausfall einiger Magnete im Large
Hadron
Collider (LHC) in Genf letzte Woche zur Folge,
dass
der Teilchenbeschleuniger erst Anfang Frühjahr
2009
wieder in Betrieb gehen wird. Der LHC hat über
eine
Tonne flüssiges Helium verloren, als sich
mehrere
supraleitende Magnete unbeabsichtigterweise
aufgeheizt
hatten. Der Collider soll subatomare Partikel,
sogenannte
Protonen, auf Energien von sieben Billionen
Elektronen-
volt beschleunigen – einen Wert, der den jedes
anderen
Colliders auf der Erde weit übertrifft – und sie
dann
zusammenstoßen lassen. Damit soll nach neuen
Teilchen,
Kräften und Dimensionen gesucht werden. Um
den
Zeitplan einhalten zu können, hat das Team, das
für
den Betrieb des Beschleunigers zuständig ist,
beschlossen,
auf einen geplanten Testlauf bei einer mittleren
Energie-
leistung zu verzichten und den LHC 2009 mit
der
vollen Leistung von 7 TeV neu zu
starten.«
Physicsworld.com 24. September 2008
South Florida Evaluation and
Treatment Center
Miami, Florida
20:23 Uhr
Paul Jones beendet seine Runde und kehrt in das Wachbüro zurück, um seine Lunchbox und seine Wagenschlüssel zu holen. Er sieht Dominique, die auf der Vinylcouch liegt und lernt.
»Entweder sind Sie plötzlich furchtbar fleißig geworden, oder zwischen Lopez und Ihnen läuft was.«
»Ich bitte Sie. Er ist verheiratet, und seine Frau hat eben erst ein Kind bekommen. Ich klemme mich nur wegen meiner schriftlichen Prüfungen so dahinter. Hier ist es einfach ruhiger als zusammen mit meinen Eltern in meiner Wohnung.«
»Wie lange bleiben Ihre Eltern noch bei Ihnen?«
»Mindestens noch einen Monat.«
»Was macht Ihr Gesicht?«
»Noch immer geschwollen. Wahrscheinlich habe ich dadurch gelernt, niemals unaufmerksam zu sein.«
»Sie hätten ihm schon in dem Augenblick einen Elektroschock verpassen sollen, als er einfach in die andere Richtung gegangen ist. Sie dürfen niemals zögern. Bei den wirklich Durchgeknallten bekommt man nur selten eine zweite Chance.«
»Das hab ich verstanden. Gute Nacht.« Sie wartet, bis Jones gegangen ist. Dann macht sie eine neue Kanne Kaffee und gibt ein Dutzend Beruhigungstabletten hinein.
Eine Stunde vergeht, aber Luis ist immer noch nicht da. Besorgt nimmt sie den Fahrstuhl ins Erdgeschoss und öffnet drei Knöpfe an ihrer Bluse.
Wachmann Raymond hat die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt einem College-Footballmatch, das auf einem handtellergroßen Fernseher läuft. »Soll’s nach Hause gehen, Sonnenschein? «
»Noch nicht. Wo bleibt Luis Lopez?«
»Er hat angerufen. Probleme mit dem Wagen. Die Agentur hat einen Vertreter geschickt. Er ist schon unterwegs. Warum? Bist du scharf auf diesen kleinen Mexikaner? «
»Ehrlich gesagt finde ich rothaarige Männer mit einem Brustkorb wie ein Fass viel attraktiver.«
Raymond dreht sich zu ihr um. Grinsend bleckt er seine gelblichen Zähne. »Endlich hast du’s kapiert.« Er steht auf. Er kann seinen Blick nicht von dem Spalt zwischen ihren Brüsten lösen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich über das hier nachgedacht habe.«
Sie macht einen Schritt zurück, als er sich plötzlich gegen sie drückt. Seine dicken, schwieligen Finger streicheln über ihre Hinterbacken. »Ray, immer schön langsam. Können wir uns nicht wenigstens einen Augenblick lang unterhalten? Ray, schau mir ins Gesicht. Ist dir überhaupt aufgefallen, dass meine Wange geschwollen ist? Weißt du, wer mir das angetan hat? Das war mein Patient, der Mann, für den ich meine Praktikumsstelle riskiert habe, weil ich ihm helfen wollte. Er hat mich so fest geschlagen, dass ich Sterne gesehen habe.«
»Mach dir keine Sorgen. Wenn ich mit ihm fertig bin, trägt er einen Ganzkörpergips.«
»Das würdest du für mich tun?«
»Sobald wir hier fertig sind.«
»Ray, stopp! Ray, da kommt jemand!«
Der Mann ist Ende dreißig. Sein rasierter Kopf und seine dunklen Augen verschwinden fast vollständig unter seiner Baseballkappe der New York Mets. Die Uniform des Sicherheitsdienstes spannt sich eng über seinem schlanken, aber muskulösen Körper. »Die Agentur hat mich geschickt. Öffnen Sie.«
Raymond mustert ihn. »Zufällig einen Ausweis dabei?«
Der Mann hält eine Sicherheitskarte hoch. Er bewegt sich anders als die Leute, die normalerweise in diesem Job arbeiten. Dominique schaudert. Ein Auftragskiller?
»Sie arbeiten im siebten Stock.« Mit einem Knopfdruck entriegelt Raymond das Gitter und reicht dem Mann einen Transponder und eine an einer kleinen Kette hängende Magnetkarte zum Öffnen der Zellentüren. »Ich nehme an, Sie wissen, wie man damit umgeht?«
»Kein Problem, großer Junge.«
Raymond zieht eine mürrische Grimasse. Er wartet, bis der Mann den Aufzug betreten hat, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Dominique zuwendet. »Wo waren wir stehengeblieben?«
Samuel Agler hört das Klingeln des Aufzugs. Konzentriert lauscht er auf die Schritte des Wachmannes, doch er hört kein Geräusch.
Der CIA-Killer huscht in Socken über den Flur. Leise nähert er sich Zelle 714. Er hat den Befehl, die Zielperson kampfunfähig zu machen und ihr etwas mit einer Spritze zu injizieren. Kurz vor der Station hält er inne und sieht nach, wie spät es ist. 21:58 Uhr.
Zu früh. Er atmet langsamer und mustert den Transponder, während er wartet.
Lowell Foletta streift ein Paar Gummihandschuhe über, bevor er im dritten Stock die Tür zur kleinen Kammer mit der Elektrik aufschließt. Schnell findet er den rechteckigen Sicherungskasten mit der Aufschrift »Ebene 7« und öffnet ihn. Mit Hilfe einer Taschenlampe sucht er die Reihen der siebeneinhalb Zentimeter langen Sicherungen ab, bis er diejenige findet, die für die »Vid Cam« zuständig ist. Mit einem flachen Schraubenschlüssel hebelt er die Sicherung heraus. Dann geht er in sein Büro zurück und wartet.
Raymond scheint überall auf ihrem Körper zu sein, als er ihre Kleider zerreißt. Er ist so groß und schwer, dass sie ihn nicht abschütteln kann. Genau wie ihr Cousin vor so vielen Jahren.
Heftig hämmert Dominiques Herz in ihrer Brust; sie ist so verängstigt, dass sie kaum atmen kann. Je energischer sie seine grabschenden Hände wegschiebt, umso mehr stachelt sie ihn an, und ihre Angst verwandelt sich langsam in Panik. Sie versucht zu schreien, aber seine nach Knoblauch stinkende Zunge würgt ihr die Worte ab. Sie beißt zu, und der Geschmack von Blut erfüllt ihren Mund, während ihr Geist schreit:
Sam! Hilfe!
Die Zellentür öffnet sich. Der Killer hebt den Transponder.
Sam lässt sich mit dem Rücken auf den Boden fallen. Aus seinem Mund spritzt eine schaumige Mischung aus Wasser und Zahnpasta, während er sich auf die überraschende Wendung der Ereignisse konzentriert. Neuer Wachmann. Er will mich kampfunfähig machen.
Der Fremde bewegt sich sehr schnell. Die Spritze ist in seiner rechten Hand versteckt.
Rumms! Sams Ferse kracht gegen die Brust des Killers. Der wuchtige Tritt zerschmettert das Brustbein des Angreifers und lässt das Nervengeflecht in seinem Solarplexus zucken. Er stürzt zusammengekrümmt zu Boden und schnappt mit pfeifender Lunge nach Luft.
Sam überlegt, ob er die Uniform des Wachmannes anziehen soll, als ihn ein verzweifelter Schrei aus der Leere erreicht:
Sam! Hilfe!
»Ahh!« Ungläubig blickt er nach unten und sieht, dass die leere Spritze in seinem Wadenmuskel steckt. Der Wachmann hat sich grinsend auf die Seite gerollt.
»Süßes oder Saures.«
Sam wischt ihm mit einem Tritt das Grinsen aus dem Gesicht, bevor er nach hinten stolpert. Die Zelle dreht sich in seinem Kopf, sein Herz hämmert, und sein Geist verfolgt die fremde Substanz, die sich wie ein Stück Eis anfühlt, das in seine Adern eingedrungen ist und in seinem Blutkreislauf zu zirkulieren beginnt, dabei jedoch plötzlich immer langsamer wird, während …
… Sam in den merkwürdig vertrauten Korridor der Existenz gleitet, die Luft zähflüssig zu werden scheint und seine Bewegungen ihn aus der Zelle in den wartenden Aufzug schleudern.
Seine körpereigenen Steroide haben Raymonds Sicherungen geschwächt und Lust für ihn in einen aggressiven Akt verwandelt. Zuerst spuckt er das Blut aus. Dann ballt er die Faust, schlägt Dominique ins Gesicht und bricht ihr die Nase.
Ihr Körper erschlafft unter ihm.
Das Klingeln des Aufzugs ertönt, und Raymond hebt den Kopf. Die Aufzugtüren öffnen sich.
Von einem weißen Nebel umgeben, rasen türkisblaue Augen auf ihn zu. Etwas trifft ihn mit der Wucht eines Panzers. Sein Brustkorb quetscht seine inneren Organe zusammen und drückt so heftig gegen den Herzmuskel, dass seine Aorta platzt – einen Sekundenbruchteil, bevor sein Rückgrat gegen die Wand kracht und zertrümmert wird.
Dominique kommt wieder zu Bewusstsein. Ihr Fleisch ist so heiß, dass es zu kochen scheint. Sie bewegt sich unglaublich schnell auf einer Rolltrage durch den Empfangsbereich der Klinik, doch irgendwie ist das gar keine Rolltrage. Bevor sie begreift, wer sie trägt, ist sie schon im Freien und blickt in den verschwommenen Nachthimmel hinauf.
Dann verschwindet der Himmel, und sie erkennt das Heck eines Lieferwagens. Micks Stimme hallt durch ihr Gehirn. Das Echo der Töne formt sich langsam zu Worten, die von einer Schmerzexplosion in ihrem Gesicht begleitet werden.
»… man hat ihm etwas gespritzt, Dom. Du musst den Lieferwagen fahren. Dominique!«
»Okay.« Sie klettert hinter das Lenkrad und fährt von der Klinik weg, während sie sich mit dem Ärmel ihrer Bluse das Blut und die Tränen aus dem geschwollenen Gesicht wischt.