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Earth News & Media
1. Juli 2047: Letzte Nacht um 23:44 Uhr ist der Tschikuratschki, der höchste Vulkan auf der Insel Paramuschir in Russland, ausgebrochen. Laut Augenzeugenberichten sollen die Aschewolken eine Höhe von sieben Kilometern erreicht haben. Der Tschikuratschki ist der vierte von sechs Vulkanen in der Tatariono-Gruppe, der in den letzten drei Tagen ausgebrochen ist. Die Aschewolken aus den vier Eruptionen haben sich in Richtung Osten ausgebreitet und bedecken inzwischen ein Gebiet von etwa 230 Kilometern Länge.
Genf
Letztlich geht es nur um zwei Dinge: um das Wie und um das Warum. Das Warum hat mit Gott und Religion zu tun, das Wie ist das eigentliche Arbeitsgebiet der Teilchenphysik.«
Der alternde Physiker und der von der CIA ausgebildete Attentäter sitzen im Fond einer Limousine und fahren durch eine ländliche Gegend Frankreichs. Erst vor einer Stunde sind sie mit Lilith Mabus’ Privatjet in Genf gelandet.
Dr. Mohr ist ganz in seinem Element.
Mitchell Kurtz kann ihm ganz und gar nicht folgen. »Okay, Doc, nachdem Milliarden von Dollar ausgegeben wurden, um diese Teilchenbeschleuniger zu bauen, könnten Sie mir vielleicht mal erzählen, was ihr Superhirne wirklich über den Urknall wisst.«
»Wir wissen, dass unser Universum vor etwa 13,7 Milliarden Jahren aus einer Singularität entstanden ist. Singularitäten sind Gebilde, die wir immer noch nicht eindeutig definieren können, aber wir vermuten, dass sie im Mittelpunkt von Schwarzen Löchern vorkommen. Laut Astrophysikern wie Stephen Hawking erschien die Singularität, aus der sich das physische Universum bildete, nicht im Raum, sondern umgekehrt: Der Raum entstand in der Singularität.«
»Und was war vor der Singularität?«
»Vor der Singularität gab es überhaupt nichts. Weder Raum noch Zeit, weder Materie noch Energie.«
»Nur damit ich das wirklich kapiere: Die Singularität, die das gesamte Universum geschaffen hat, kam aus dem Nichts? Sie ist einfach so aufgetaucht … bumm! Mein Gott, das muss das Dümmste sein, was ein kluger Mensch jemals gesagt hat.«
»Vielleicht hat Gott auf der anderen Seite der Gleichung eine Rolle gespielt, aber das wissen wir nicht. Was wir allerdings wissen, ist, dass sich unser physisches Universum schon immer innerhalb der Singularität befunden hat und sich auch heute noch darin befindet. Bevor es zum Urknall kam, gab es sie nicht – und uns auch nicht. Was immer sie war, sie war jedenfalls unendlich klein, kleiner als ein Atom, und extrem heiß. Und sie ist auch nicht explodiert. Vielmehr hat sie sich mehr oder weniger mit Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen ausgebreitet.
Durch den Urknall entstanden Materie und Antimaterie in gleicher Menge. Nur Sekunden nach der Schöpfung kollidierten diese beiden Materiearten, wobei sie sich gegenseitig vernichteten und reine Energie entstand. Zum Glück für uns zerfiel der größte Teil der Antimaterie oder wurde ausgelöscht, so dass genügend Materie übrig blieb, damit sich das physische Universum, wie wir es kennen, bilden konnte. Während sich das Universum ausbreitete und abkühlte, verbanden sich die Quarks zu Protonen und Neutronen. Heliumkerne entstanden bereits nach einhundert Sekunden, aber es dauerte noch 100 000 Jahre, bis die ersten Atome erschienen. Eine Milliarde Jahre verging, bevor sich aus Helium und Wasserstoff die ersten Sterne bildeten, während das Universum auch weiterhin wuchs und kälter wurde. Edwin Hubble entdeckte dieses Phänomen im Jahr 1929, und es waren unter anderem seine Beobachtungen, wodurch man die Ausdehnung des Universums bis zu jener konzentrierten, superheißen Singularität zurückverfolgen konnte.«
»Wenn Sie ohnehin schon so viel wissen, warum müssen dann noch mehr von diesen Weltuntergangsdingern, diesen Collidern gebaut werden?«
»Weil im Puzzle der Schöpfung noch einige entscheidende Teile fehlen, die nur gefunden werden können, wenn man mehr über die subatomaren Teilchen weiß, die eine Millionstelsekunde nach dem Urknall entstanden sind. Isaac Newton war seiner Zeit weit voraus, als er zum ersten Mal über Teilchenphysik nachdachte und die Welt mit dem bekanntmachte, was einige Physiker seine ›verbotene Weisheit‹ nannten. Zwei Jahrhunderte vergingen, bis Ernest Rutherford herausfand, dass Atome größtenteils aus leerem Raum bestehen, weil sich ihre Masse in einem winzigen dichten Kern konzentriert, der von Elektronen, die im Vergleich zum Kern beinahe nichts wiegen, umkreist wird. Doch das genügte den Physikern noch nicht, und so begannen sie, das Innere dieser Strukturen zu untersuchen, wobei sie schließlich die Quarks entdeckten. Unterdessen schlug Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie ein Modell der Raumzeit vor – wozu auch die Entdeckung gehörte, dass Materie den Raum krümmt –, das dem bestehenden Weltbild eine neue Dimension hinzufügte, oder genauer gesagt dieses Weltbild auf eine Gesamtheit von zehn Dimensionen erweiterte.«
»Aber das war immer noch nicht genug, was?«
»Das alles, Mitchell, war aus einem ganz besonderen Grund noch nicht genug: Physiker wollen nämlich, dass alles sauber und ordentlich zugeht. Mit dem Urknall entstanden zehn Dimensionen, aber wir wissen nicht, warum. Wir stellen das sogenannte Standardmodell, das die Elemente des physischen Universums beschreibt, vor allem deshalb infrage, weil es so chaotisch ist und einem irgendwie unvollständig vorkommt. Es gibt siebenundfünfzig Elementarteilchen, von denen sechzehn grundlegende Bausteine des Universums darstellen, und dabei sind die Antimaterie und die Neutrinos noch gar nicht mitgezählt, die uns, wie wir hier sitzen, in jedem Augenblick zu Billionen durchdringen. Das alles ist viel zu komplex. Die Physiker suchen nach einer Reihe einfacher, fundamentaler Regeln, die die Interaktion der einzelnen Teilchen beschreiben können.«
»Und deshalb habt ihr Superhirne damit angefangen, Atome ineinanderkrachen zu lassen.«
»Das ist die einzige Möglichkeit, quantenphysikalische Theorien zu überprüfen. Als ich sagte, dass im Puzzle noch einige entscheidende Teile fehlen, meinte ich damit vor allem ein hypothetisches siebzehntes Fundamentalteilchen, das sogenannte Higgs-Boson. Der Physiker Peter Higgs hat theoretisch postuliert, dass die Leere des Weltalls nicht wirklich leer ist, sondern von einem unsichtbaren Feld durchdrungen wird, das eine Art von kosmischem Schlamm darstellt und den Teilchen, die eigentlich keine Masse haben sollten, Masse verleiht. Dieser kosmische Schlamm ist das Higgs-Boson, das zum Heiligen Gral der Teilchenphysik avanciert ist. Einige bezeichnen es als das Gottesteilchen. Man hat Teilchenbeschleuniger gebaut, um es zu finden.«
»Was für eine Ironie, dass die Suche nach dem Gottespartikel möglicherweise zur Zerstörung all dessen führen wird, was Gott geschaffen hat.«
»Wir wollen etwas über das Universum lernen. Was ist daran so falsch?«
»Wissen ist Macht, Doc. Weisheit bedeutet zu wissen, wann man sich zurückhalten muss.« Kurtz wirft einen Blick aus dem Fenster, als sie in die Route Schrödinger einbiegen und sich einem umzäunten Gebäudekomplex nähern. »Wann waren Sie das letzte Mal hier?«
»Im Juli 2010. Ich war ATLAS zugeteilt worden, einem Detektor, der sieben Stockwerke hoch ist. Der LHC verfügt über vier Detektoren. Der mächtigste ist der Compact Muon Solenoid, er wiegt mehr als der Eiffelturm. Die Detektoren zeichnen die Kollisionen auf und helfen uns, gewaltige Datenmengen in einer Größenordnung von mehreren Petabytes zu analysieren – das sind Tausende Billionen Bits. Das Internet wurde ursprünglich von einem Physiker am CERN entwickelt, der nach einer Möglichkeit suchte, seine riesigen Datenmengen an Wissenschaftler auf der ganzen Welt zu schicken.«
»Wie funktioniert dieser Teilchenbeschleuniger eigentlich? «
»Der LHC ist im Wesentlichen ein großer Ring in einem Tunnel mit einem Durchmesser von etwa siebenundzwanzig Kilometern. Zwei Partikelstrahlen rasen zehntausendmal pro Sekunde in entgegengesetzter Richtung durch den Tunnel, wobei sie von über eintausend zylindrischen, supraleitenden Elektromagneten in ihrer Bahn gehalten werden. Der Collider beschleunigt die Protonen, bis sie eine Energie von sieben Billionen Elektronenvolt erreicht haben, und lässt sie dann nahezu mit Lichtgeschwindigkeit an den vier Detektor-Standorten zusammenprallen. Die Kollisionen verwandeln die Materie in Energiebündelungen, wobei ein schier unglaublich intensiver Feuerball entsteht, der kleiner als ein Atom und zugleich etwa eine Million Mal heißer als das Innere der Sonne ist. Die Singularität ist so dicht, als konzentrierte man das Empire State Building auf die Größe eines Stecknadelkopfes. Durch die Kollision dieser Teilchen schafft der LHC Bedingungen, wie sie etwa eine Milliardstelsekunde nach dem Urknall herrschten, und das soll uns helfen, neue Teilchen, Kräfte und Dimensionen zu entdecken.«
»Und dabei entstehen dann Schwarze Löcher?«
»Kleine Schwarze Löcher, ja.«
»Nach allem, was die böse Hexe verkündet hat, war das Schwarze Loch, das durch Mannys Körper gewandert ist, eigentlich nicht so klein.«
Dr. Mohr starrt durch die getönte Scheibe. »Alle haben gewusst, dass es ein gewisses Risiko gab, doch niemand hat geglaubt, dass es wirklich so weit kommen würde. Nein, das stimmt nicht ganz. Präsident Chaney hat das sehr wohl geglaubt. Ich vermute, es war die Mutter der Zwillinge, die auf ein Moratorium gedrängt hat. Und davor gab es bereits eine Gruppe von Physikern, die gegen den Betrieb des Brookhaven Collider geklagt haben, weil sie befürchteten, dass bei einigen der dort geplanten Experimente mikroskopisch kleine Schwarze Löcher oder gar Strangelets entstehen könnten, die beide gleichermaßen das Potenzial besäßen, den gesamten Planeten zu vernichten. Laut ihren Theorien würde ein mikroskopisches Schwarzes Loch wild hin und her springen, dabei andere Atome treffen und diese in sich aufsaugen. Schließlich würde es sich mehrfach durch den magnetischen Kern der Erde bewegen und dabei jedes Mal größer werden. Unsere Wissenschaftler haben diese Bedenken beiseitegewischt und behauptet, dass diese mikroskopischen Schwarzen Löcher viel zu instabil wären, um über längere Zeit hinweg bestehen zu können. Alle machten sich jedoch größere Sorgen über das Entstehen von Strangelets, denn diese Art von Singularität ist stabiler. Wenn ein Strangelet das Magnetfeld eines Colliders verlassen würde, könnte es theoretisch jede Art von Materie, mit der es in Berührung kommt, in einen Teil seiner selbst umwandeln. Offensichtlich ist genau das geschehen, wenn auch in einer anderen Dimension – eine unerwartete Variable, die wir nicht berechnen können.«
»Und was passiert, wenn sich diese unerwartete Variable in unserem physischen Universum materialisiert, wie Lilith befürchtet?«
Der Physiker atmet langsam aus. »Wenn dieses Strangelet tatsächlich zu einem dreidimensionalen Schwarzen Loch wird und die entsprechende Größe und die notwendigen Gravitationskräfte erreicht, dann würde es zweifellos eine ernsthafte Bedrohung für unseren gesamten Planeten darstellen.«
»Na wunderbar.«
»Schuldzuweisungen sind leicht, Mitchell; es gibt hier ja auch wirklich jede Menge Schuld. Im Augenblick ist es jedoch wichtiger, dass wir herausfinden, wann das Strangelet erzeugt wurde.«
»Das kann noch nicht lange her sein. Denn das Schwarze Loch, das Evelyns Kreuzfahrtschiff zum Sinken gebracht hat …«
»Das war kein Schwarzes Loch, das war ein Wurmloch, eine Anomalie, die zurückblieb, nachdem die Singularität sich durch den Erdkern bewegt hatte.«
»Manny hat gesagt, dass man ein Wurmloch benutzen könnte, um in die Zeit vor der Apokalypse des Jahres 2012 zurückzureisen.«
»Mir ist nicht klar, wie das funktionieren sollte. Ein Wurmloch lässt sich nicht steuern.«
»Vielleicht schafft er das ja.« Kurtz sieht aus seinem Fenster, als sie das Tor zum CERN-Gelände in Genf erreichen. »Wie heißt denn das Superhirn, das wir hier treffen?«
»Sein Name ist Jack Harbach O’Sullivan. Ich nenne ihn den Jackson Pollock der Physik. Wenn Lilith und Manny wirklich ein Strangelet gesehen haben, das sich durch eine andere Dimension bewegt, dann findet Jack auf jeden Fall eine Möglichkeit, wie wir das verifizieren können.«
Die Limousine rollt auf das Besuchertor zu. Ein Wachmann prüft anhand der Gästeliste ihren Biochip, und dann fahren sie weiter zu einem der weißen Backsteingebäude vor ihnen.
2. Juli 2047
Golf von Mexiko
4:37 Uhr
Unter einem sternenübersäten Himmel schwebt der Jet-Copter in einhundertfünfzig Metern Höhe über das dunkle Wasser des Golfs von Mexiko. Der Pilot hat einen südwestlichen Kurs eingeschlagen, der sie zur Halbinsel Yukatan bringen wird. Ryan Beck sitzt auf dem Platz des Copiloten und gibt ein leichtes Schnarchen von sich. Lilith sitzt auf der Rückbank, Mannys Kopf liegt in ihrem Schoß. Der Hunahpu-Zwilling hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen. Seine Augenlider flattern, und auch zwei Stunden nach dem Start in Florida atmet er noch immer schwer und unruhig.
Was immer es auch sein mag, was Immanuel Gabriels Geist heimsucht, es hat all seine rationalen Gedanken ausgelöscht. Von tiefer Angst erfüllt, war er aus Liliths Schlafzimmer geflohen, indem er sich durch eine sturmsichere Glastüre stürzte und vom Balkon im zweiten Stock auf den Strand darunter sprang. Er war fast einen Kilometer weit gerannt, ehe Lilith ihn einholen konnte, indem sie den Nexus benutzte. In diesem Raumzeit-Korridor gelang es ihr, ihn zu überwältigen, so dass sie ihm eine Dosis Thorazin spritzen konnte.
Mannys Angst war besorgniserregend, doch Devlins Veränderung war geradezu entsetzlich. Mit dem Tageslicht war auch das kalte, berechnende Auftreten des Teenagers verschwunden, und um Mitternacht hatte sich sein schizophrenes Verhalten voll entwickelt. In uralten Sprachen faselnd schlich der junge Mann über das Mabus-Grundstück, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Sein Geist bemühte sich, tief in eine andere Dimension einzutauchen, doch deren Portale blieben ihm verschlossen. Rasend vor Wut streckte er sich im Mondlicht auf dem Pooldeck aus und schlug seinen Kopf gegen den Backsteinboden. Um ihn ruhigzustellen, waren so viele Tranquilizer nötig gewesen, dass man damit ein Pferd hätte betäuben können.
Der Horizont im Osten wird grau, und man kann Ciudad del Carmen erkennen, eine Küstenstadt, die im mexikanischen Staat Campeche liegt. Sie fliegen weiter in südwestlicher Richtung über ein grünes Tal voll kleiner Seen und Sickergruben. Zwanzig Minuten später erhebt sich das Hochland von Chiapas aus dem dichten tropischen Dschungel.
Der Pilot reduziert Geschwindigkeit und Flughöhe. Dann aktiviert er den dreiblättrigen Rotor des Jet-Copters, während er gleichzeitig die Tragflächen einfährt, wodurch sich das Flugzeug wieder in einen Hubschrauber verwandelt. Die Maschine kreist über dem dichten Laubwerk, bis eine Reihe grauweißer Steintempel aus dem grünen Baldachin ragt. Der Pilot entdeckt ein offenes Feld etwa vierhundert Meter westlich der Ruinen und landet.
Palenque: Das alte Zentrum des Maya-Stadtstaates B’aakal, das die Indianer selbst Lakam Ha nennen. Quellen und kleine Flüsse strömen durch die Dschungelfestung, die bis auf das Jahr 300 nach Christus zurückgeht. Im Jahr 431 wurde K’uk B’alam der erste König seines Volkes. Zehn Könige und einhundertvierundachtzig Jahre später begann ein junger Mann namens K’inich Janaab’ Pakal I. (Pakal der Große) seine achtundsechzig Jahre währende Regierung als Herrscher über die wichtigste Stadt während der klassischen Ära der Maya.
Ryan Beck wirft Immanuel Gabriel über seine breite Schulter und folgt Lilith auf dem schmalen Weg, der in den gepflegten Park führt. Weiße Nebelschwaden kühlen die sanft wogenden Blätter und filtern das Licht des anbrechenden Tages. Langsam erwacht der Dschungel um sie herum in einem Konzert aus Zwitschern, Pfeifen und Tausenden flatternder Flügel.
Der Weg führt sie durch eine Tempelanlage, die als »Kreuzgruppe« bezeichnet wird. Der Park wirkt verlassen. Die Tore für die Touristen werden sich erst in drei Stunden öffnen.
Die alte Frau wartet auf sie vor dem Tempel der Inschriften. Die nur einen Meter fünfzig große Aztekin wirkt geradezu zwergenhaft angesichts des sechzig Meter hohen Kalksteinmonoliths. Eine dünne Schicht ledrigen Fleisches hängt von ihren zerbrechlichen Knochen, und der Blick aus ihren vom grauen Star gezeichneten blauen Augen ist so trüb wie der Nebel. Ihr Gesicht ist hager und wettergegerbt, ihr Körper ist drahtig und wirkt – für eine Hundertjährige – auf eine trügerische Weise kräftig.
Lilith beugt sich nach vorn und küsst die knotige Wange ihrer Großtante mütterlicherseits. »Danke, Chicahua, dass du so kurzfristig kommen konntest.«
»Wir haben nicht viel Zeit. Weck den Hunahpu auf.«
Beck wirft Lilith einen unsicheren Blick zu.
»Chicahua ist eine Seherin. Ihre Vorfahren haben Könige beraten. Tu, was sie sagt.«
Der Leibwächter lässt Manny auf die Tempelstufen gleiten und injiziert ihm eine Dosis Adrenalin.
Gehetzt und voller Furcht reißt Manny die Augen auf. Er sieht in alle Richtungen und krümmt sich zusammen, als stiegen die Geister der Toten um ihn herum aus der Erde auf.
Beck legt ihm den rechten Bizeps um den Hals, als er fliehen will, und hält ihn fest, als ginge es um Leben und Tod. Manny windet sich aus dem Griff und schleudert den großen Mann über seine Schulter wie ein Schulkind.
Blaugraue Rauchwolken aus der mit verschiedenen Kräutern gefüllten Zigarette der alten Frau steigen dem Gabriel-Zwilling in die Nase. Manny schwankt hin und her, und das nackte Entsetzen wischt ihm jeden Ausdruck aus dem Gesicht.
Die alte Frau legt ihre knotigen Hände über seine Augen und drückt ihr rechtes Ohr an seine Brust. »Chilam Balam, ich erkenne dich. Du lauerst in den Schatten wie eine verwundete Katze. Voller Furcht, Balam. Deine Gedanken sind befleckt, voller Gift.«
»Was ist mit ihm?«, fragt Lilith. »Warum nennst du ihn Chilam Balam?«
»Die Seele des Hunahpu war besessen, und dadurch wurde sein Leben in der Vergangenheit ebenso beeinflusst wie sein Leben in der Gegenwart. Ein dunkler und mächtiger Geist ist dafür verantwortlich.«
Lilith beugt sich zu der alten Frau und flüstert in Chicahuas Muttersprache: »Kannst du ihn retten?«
»Ich kann die Verbindung durchtrennen, die diesen Geist und seine Seele aneinanderfesselt, das ist alles.«
»Dann tu es.«
»Das hat seinen Preis.« Die alte Frau wirft einen Blick auf Beck.
»Nicht ihn. Ich habe einen anderen mitgebracht.«
Antonio Amorelli sitzt alleine im Jet-Copter und konzentriert sich auf das kleine GPS-Gerät in seiner linken Hand. Der winzige Sender, den er in Immanuel Gabriels Hosentasche geschoben hat, funktioniert noch immer perfekt; der rote Punkt bewegt sich langsam den Tempel der Inschriften hinauf.
Mit der rechten Hand tippt der Pilot eine Nummer in sein Handy.
»Sprechen Sie.«
»Dev, hier Antonio. Ich habe Ihre Mutter und den Gabriel-Zwilling heute Nacht aus der Villa weggeflogen. Ich dachte, das sollten Sie wissen, auch wenn Ihre Mutter mich umbringen würde, sollte sie erfahren, dass wir beide uns unterhalten.«
»Vielleicht sollte ich es ihr sagen.«
Antonios Herz schlägt schneller, und Schweiß strömt ihm über das Gesicht. »Ich habe aus Loyalität angerufen. «
»Ich bin kein Idiot, Mr. Amorelli. Sie sind in Palenque. «
Der Pilot flucht still in sich hinein. »Mir war klar, dass Sie das wussten, ich meine … ich habe nur angerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihrem Onkel einen Sender angehängt habe, Sie wissen schon, nur für alle Fälle.«
»Dann gibt es noch Hoffnung für Sie. Durchtrennen Sie die Benzinleitung des Copters und sorgen Sie dafür, dass es wie eine Panne aussieht. Ich werde schon bald vor Ort sein. Oh, Sie dürfen übrigens mit einer größeren Überweisung auf Ihr Offshore-Konto rechnen.«
»Das ist … überaus großzügig.«
Die Verbindung wird beendet.
Sie steigen die Pyramidenstufen hinauf, die in neun Abschnitte unterteilt sind, die die neun Herren der Nacht darstellen. Lilith hilft der alten Frau, während Manny, der von den Medikamenten noch immer benommen ist, den beiden folgt. Der in die Jahre kommende Leibwächter bildet die Nachhut; sein T-Shirt ist vollkommen durchgeschwitzt. Sie erreichen den Tempel an der Spitze der Pyramide. Die aztekische Seherin geht zum Haupteingang, eine von drei Türen, die ins Innere führen.
»Der Afrikaner bleibt hier.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, drückt sie die Tür auf und betritt einen langen, gewölbten Raum, der mit drei hieroglyphischen Inschriften geschmückt ist. Zwei der Inschriften sind rechts und links der Tür zu erkennen, die dritte an der gegenüberliegenden Wand. Hinter der Mittelsäule befindet sich ein Loch im Boden. Dort befand sich einst eine massive Steinplatte, die eine vierte Inschrift trug. Jemand hat diesen Stein fortgeschafft, so dass jetzt der Weg zu einem Geheimgang offen liegt. Geführt vom Strahl einer fingergroßen Halogen-Taschenlampe, hilft Lilith der alten Frau eine schmale Treppe von sechsundsechzig Stufen aus Kalkstein hinab, die rutschig von Kondenswasser sind. Manny hält sich dicht hinter den beiden.
Am unteren Ende der Treppe beginnt ein Tunnel, dessen schräge Wände zusammen mit dem Boden ein Dreieck bilden. Sie folgen ihm. Er wird breiter und macht eine Biegung nach Osten, und das Licht der Taschenlampe enthüllt eine weitere Treppe, die zweiundzwanzig Stufen hinab in eine kleine Kammer führt.
Eine weitere Biegung, und dann stehen sie vor dem Grab Pakals des Großen.
Der gewaltige Sarkophag enthielt einst die mit einer Jademaske geschmückten Überreste des Herrschers von Palenque. Er ist über dreieinhalb Meter lang und mehr als zwei Meter breit. Der fünf Tonnen schwere Deckel ist mit den Schriftzeichen für Sonne und Mond, die Venus und verschiedene Sternenkonstellationen geschmückt. Der mittlere Teil des Reliefs zeigt, wie Pakal auf dem Griff eines Dolches sitzt, der ein Raumschiff darstellt. Ein Kreuz, das an der Klinge befestigt ist, steht für den Baum des Lebens. Das mit der Maske des Sonnengottes geschmückte Fluggerät symbolisiert den Übergang vom Leben in den Tod. Pakal flieht vor dem Rachen einer Schlange und steigt hinab in die Unterwelt Xibalba.
Die alte Frau weist die beiden Hunahpu an: »Öffnet den Deckel.«
Manny und Lilith stemmen die Beine fest gegen den Boden und schieben mit ihren Händen die fünf Tonnen schwere Steinplatte gerade so weit auf, dass ein Mensch in das leere, klaustrophobische Innere klettern kann.
Chicahua wendet sich an Manny. »Steig hinein.«
Mit einer einzigen flüssigen Bewegung gleitet Manny in das Kalksteingebilde.
Lilith packt Chicahuas Arm. »Erklär mir, was du tust, bevor du es tust!«
»Liegt dir etwas an ihm, Lilith?«
»Er ist der mir vorherbestimmte Seelengefährte. Ich weiß tief in meinem Herzen, dass wir zusammengehören. «
»Mag sein. Aber nicht in diesem Leben.«
»Tut mir leid, aber das glaube ich nicht.«
»Hör mir genau zu, mein Kind. Für dich und Immanuel Gabriel und jede Seele, die im physischen Universum existiert, ist das Leben zu Ende. Ich bin eine Seherin, und heute gibt es keine Zukunft mehr, die ich sehen könnte, sondern nur noch Leere. Wenn sich das ändern soll, dann kann das nur in der Vergangenheit erreicht werden. Falls es euch beiden vorherbestimmt ist, zusammen zu sein, dann werdet ihr euch vielleicht wiederfinden, aber Lilith Aurelia Mabus und Immanuel Gabriel sind zwei miteinander verbundene Sandkörner in einem sich rasch leerenden Stundenglas, und wenn ihr zu existieren aufhört, dann wartet Gehenna auf euch.«
»Du irrst dich, alte Frau. Meine Seele wurde gereinigt. Jacob hat sie auf Xibalba wieder rein werden lassen. «
»Deine Seele wurde nicht gereinigt. Jacob hat auf Xibalba nichts weiter getan, als die Schleier der Dunkelheit zu beseitigen, die das Licht des Schöpfers verhüllt haben. Mag sein, dass du zu einem Wesen geworden bist, das fähig ist zu lieben, doch ebenso hast du zu deinen Lebzeiten grauenhafte Taten des Bösen begangen. Jede Seele muss sich ihre Erfüllung verdienen, bevor sie in die höheren Dimensionen zurückkehren kann; weder ein Engel noch ein toter Hunahpu-Zwilling hat die Macht, dir diese Erfüllung zu schenken.«
»Wie kann ich mir die Erfüllung verdienen, wenn meiner Seele der Weg in die Hölle vorgezeichnet ist?«
»Gar nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn die Menschheit zu existieren aufhört. Komm her, sieh dir die Inschrift auf Pakals Grab an, denn sie wurde in den Stein gemeißelt, um das Ende aller Zeiten darzustellen, das wir jetzt erleben. Pakal, der mit dem Lebensbaum reist, hat mit seinem Gefährt Xibalba schon fast erreicht. Ihn jagt dieselbe Dämonenschlange, die jetzt deinen Hunahpu-Seelengefährten heimsucht. Siehst du den Knochen, der Pakals Nase durchdringt? Der Knochen ist das Zeichen von Pakals Wiederauferstehung. Das bedeutet, dass selbst der Tod den Samen der Wiedergeburt in sich trägt. Wenn es Immanuel gelingt, seinem Geist die Schlange auszutreiben, die ihn jetzt gefangen hält, dann wird auch er die dunkle Straße bereisen müssen, um das Samenkorn einer neuen Menschheit zu pflanzen – und um deine Seele zu retten.«
Die alte Frau leuchtet in Pakals Sarkophag auf Immanuel Gabriel, der darin auf dem Rücken liegt. »Schließ den Deckel. Bleib darin, bis die Herren von Xibalba deinen Geist verlassen haben.«
Mit seinen kräftigen Beinen drückt Manny den Deckel nach oben und lässt ihn wieder in seine ursprüngliche Position zurückgleiten.
Lilith streicht mit den Händen über die Inschrift. Ihre Arme zittern. »Und was ist, wenn ihm das nicht gelingt? «
»Dann wird er ersticken, und deine Seele wird auf ewig in Gehenna bleiben.«
NACHGELASSENE PAPIERE VON DR. JULIUS GABRIEL
ARCHIV DER CAMBRIDGE UNIVERSITY
»Man kann die Zeit nicht ausradieren.«
ANDRÉS XILOJ PERUCH, Astronom der Quiché-Maya
Die Entschlüsselung des
Popol Vuh der Maya
»… die Herrscher, die im Hochland von Guatemala von einem Ort namens Quiché aus ein Königreich regierten, besaßen ein ›Seh-Instrument‹, das es ihnen ermöglichte, ferne und zukünftige Ereignisse zu erkennen oder zu sehen. Dieses Instrument war kein Teleskop und auch keine Kristallkugel, sondern ein Buch. Die Herren von Quiché holten sich Hilfe aus diesem Buch, wenn sie im Rat zusammensaßen, und sie nannten dieses Buch Popol Vuh oder Buch des Rates. Weil dieses Buch unter anderem beschrieb, wie die Vorfahren ihrer adligen Geschlechter einst eine weit entfernte Stadt namens Tulan verlassen hatten, nannten sie dieses Buch manchmal Die Schriften über Tulan. Weil eine spätere Generation von Herrschern das Buch dadurch erlangte, dass sie auf eine Pilgerreise ging, die sie auf einem Dammweg über das Wasser führte, nannten sie es auch Das Licht, das über das Meer kam. Und weil das Buch von Ereignissen erzählt, die vor dem ersten Sonnenaufgang stattfanden, als die Vorfahren noch sich und die Steine, in denen die Hausgeister ihrer Götter wohnten, im Wald versteckten, trug dieses Buch auch den Titel Unser Ort in den Schatten. Und schließlich wurde das Werk, das den ersten Aufgang des Morgensterns, der Sonne und des Mondes ebenso beschrieb wie den strahlenden Aufstieg der Herren von Quiché, auch Die Morgendämmerung des Lebens genannt.«
Popol Vuh. Das Buch der Maya
über die Morgendämmerung des Lebens (1550)
Genau wie in vielen biblischen Geschichten aus dem Alten Testament verbirgt sich auch im Popol Vuh der Maya ein Wissen, das für Laien vieldeutig bleiben soll. Wird es jedoch von einem »Hüter der Tage«, einem Seher der Quiché-Maya, gedeutet, dann gewinnt das Buch der Schöpfung eine völlig neue Bedeutung; dann nämlich beschreibt es in allen Einzelheiten Dinge, die sich in den frühesten Tagen der Existenz ereignet haben. Und doch liegt hierin ein Paradoxon, denn das, was Das Licht, das über das Meer kam darstellt, ist nicht die Morgendämmerung der Menschheit, sondern die Reise einer anderen Gruppe von Maya, einer »Nebenlinie«, die in einer Wirklichkeit existiert, die sich dramatisch von der Wirklichkeit des Indianervolks unterscheidet, das von Cortés und seinen Männern unterworfen wurde.
Betrachten wir einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel der Schöpfungsgeschichte, der das Leben in dieser alternativen Wirklichkeit darstellt:
»Sie wurden bis auf Knochen und Sehnen zermalmt, zerschmettert und bis auf die Knochen pulverisiert. Ihre Gesichter wurden zerschmettert, denn sie waren unzureichend vor ihrer Mutter und ihrem Vater, dem Herzen des Himmels, genannt Hurrikan. Deswegen war die Erde schwarz. Ein schwarzer Regen kam, es regnete den ganzen Tag und die ganze Nacht. In die Häuser kamen Tiere, große und kleine. Ihre Gesichter wurden zerschmettert von Dingen aus Holz und Stein. Alles sprach: ihre Wasserkrüge, ihre Tortillaplatten, ihre Teller, ihre Kochtöpfe, ihre Hunde, ihre Mahlsteine, und alle Dinge zerschmetterten ihre Gesichter. Ihre Hunde und ihre Truthähne sagten zu ihnen: Ihr habt uns Schmerzen zugefügt, ihr habt uns gegessen, aber jetzt seid ihr es, die wir essen werden … So wurden das Werk der Menschen und die Gestalt des Menschen zerstreut. Die Menschen wurden zermalmt, überwunden. Alle ihre Münder und Gesichter wurden zerstört und zerschmettert.«
Dieser Abschnitt beschreibt eine Katastrophe, ein Ereignis, bei dem die Erde schwarz und die Menschen »bis auf Knochen und Sehnen zermalmt« wurden. Ein Fremder könnte annehmen, dass diese Dinge durch jenen »Hurrikan« verursacht wurden, der mit dem Götternamen »Herz des Himmels« belegt wird. Doch diese simplifizierende Interpretation entspringt ausschließlich unserer Perspektive des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Um die wahre Bedeutung herauszufinden, die der Autor im Sinn hatte, müssen wir tiefer graben.
Nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt bei den »Hütern der Tage« der Quiché-Maya verbracht habe, bin ich davon überzeugt, dass es sich bei dem »schwarze Regen« um einen vulkanischen Ascheregen handelt, der vom Himmel fiel. Einen Hinweis auf das Ausmaß des Schadens gibt uns der Satz: »So wurden das Werk des Menschen und die Gestalt des Menschen zerstreut.«
Der Ausdruck »die Gestalt des Menschen« bezieht sich auf die DNA. Der Autor sagt: »Die Menschen wurden zermalmt, überwunden.« Damit kommentiert er die Auslöschung einer bereits etablierten Zivilisation. Die Wendung, dass »alles sprach«, bezieht sich auf die Probleme, die die Überlebenden des Vulkanausbruchs hatten, und darauf, wie sie zugrunde gingen. Ein Wasserkrug »spricht« nur, wenn er leer ist, weswegen wir annehmen müssen, dass der schwarze Regen die Wasservorräte verdorben hatte. Die Erwähnung von Tortillaplatten, Tellern, Kochtöpfen und Mahlsteinen deutet auf eine Hungersnot. Mit dem Hund in diesem Satz ist das Familienschoßtier gemeint, das »sprach«, weil es nichts zu fressen hatte. Der nächste Satz lautet: »Ihre Hunde und ihre Truthähne sagten zu ihnen: Ihr habt uns Schmerzen zugefügt, ihr habt uns gegessen, aber jetzt seid ihr es, die wir essen werden.« Er ist leichter zu deuten: Tiere, die den Menschen einst als Nahrung dienten, ernähren sich nun von menschlichen Ü berresten.
Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels beschreibt das Ende der Dunkelheit, die die Erde bedeckte, und den Aufstieg einer bösartigen Bedrohung, die Sieben Ara genannt wird.
»…als eine erste Spur der Morgendämmerung auf dem Antlitz der Erde zu erkennen war und es noch keine Sonne gab, da gab es einen, der sich selbst erhob; Sieben Ara war sein Name. Himmels-Erde gab es bereits, doch das Gesicht von Sonnen-Mond war von Wolken bedeckt. Doch selbst damals, so heißt es, gab sein Licht den Menschen in der Flut ein Zeichen. In seinem Wesen war er wie ein Mensch von Genie.
So sprach Sieben Ara: ›Ich bin groß. Mein Ort ist höher als Menschenwerk, als Menschengestalt. Ich bin ihre Sonne, und ich bin ihr Licht, und ich bin auch ihre Monate. So sei es: Mein Licht ist groß. Ich bin Fußweg und Trittstufe für die Menschen, denn meine Augen sind aus Metall. Meine Zähne funkeln von Juwelen und Türkisen; mit ihren blauen Steinen ragen sie nach vorn wie das Gesicht des Himmels. Und meine Nase schimmert weiß in der Ferne wie der Mond. Weil mein Nest aus Metall ist, erleuchtet es das Antlitz der Erde. Wenn ich vor meinem Nest fliege, bin ich wie die Sonne und der Mond für alle im Licht Geborenen, im Licht Empfangenen. So muss es sein, denn mein Gesicht reicht weit in die Ferne.‹
Es stimmt nicht, dass er die Sonne ist, dieser Sieben Ara, und doch erhebt er sich, seine Flügel, sein Metall. Aber sein Gesicht erreicht nur die Umgebung seines Nests; sein Gesicht erreicht nicht jeden Ort unter dem Himmel. Die Gesichter der Sonne, des Mondes und der Sterne sind noch nicht zu sehen, die Morgendämmerung ist noch nicht angebrochen. Und so plustert sich Sieben Ara auf, als sei er Tage und Monate, obwohl das Licht von Sonne und Mond noch nicht unverhüllt erschienen ist.«
Einige Hinweise in diesem Abschnitt verraten uns mehr über die zuvor erwähnte Katastrophe. So heißt es: »… als eine erste Spur der Morgendämmerung auf dem Antlitz der Erde zu erkennen war und es noch keine Sonne gab«; und später: »Die Gesichter der Sonne, des Mondes und der Sterne sind noch nicht zu sehen, die Morgendämmerung ist noch nicht angebrochen.« Soweit wir wissen, gibt es nur zwei Ereignisse, durch die eine globale Aschewolke entstehen kann, die in der Lage ist, sich über den ganzen Planeten hinweg auszubreiten und die Sonneneinstrahlung abzuschirmen. Das erste ist der Einschlag eines Asteroiden, vergleichbar mit demjenigen, der vor 65 Millionen Jahren mit unserem Planeten kollidierte; das zweite ist die Eruption eines Supervulkans, besser bekannt unter der Bezeichnung Caldera. Beide Ereignisse hätten dieselben Folgen: ein Aussetzen der Photosynthese, gefolgt von massenhaftem Hungertod und einer Eiszeit.
Wer immer auch die Maya waren, die diese Ereignisse aufgezeichnet haben, sie müssen diese verheerte Gegend am Ende einer Eiszeit erreicht haben, »als eine erste Spur der Morgendämmerung auf dem Antlitz der Erde zu erkennen war« und als »sein Licht (das Licht von Sieben Ara) den Menschen in der Flut ein Zeichen« gab. Die Flut entstand natürlich durch das Abschmelzen der Gletscher.
Sieben Ara wird als bösartige Macht eingeführt: »Da gab es einen, der sich selbst erhob.« Das Sich-Erheben bezieht sich auf das Ego des Menschen – jenes Ego, das die dunklere Seite der menschlichen Existenz darstellt. Das Wort »Licht« (»doch selbst damals, so heißt es, gab sein Licht den Menschen in der Flut ein Zeichen«) bedeutet Macht, in diesem Zusammenhang die Macht des Intellekts. (»In seinem Wesen war er wie ein Mensch von Genie.«) Mit Hilfe seines Intellekts war Sieben Ara in der Lage, die Mitglieder seines Stammes zu manipulieren, die die Sintf lut überlebt hatten.
Sieben Aras Ego wird im nächsten Abschnitt besonders deutlich, als er sagt: »Ich bin groß. Mein Ort ist höher als Menschenwerk, als Menschengestalt. Ich bin ihre Sonne, und ich bin ihr Licht, und ich bin auch ihre Monate.« Doch trotz der Macht, mit der er die anderen unterwirft, wissen die Menschen, dass dieses bösartige Wesen kein Gott ist: »Es stimmt nicht, dass er die Sonne ist, dieser Sieben Ara, und doch erhebt er sich, seine Flügel, sein Metall.« Der Autor verrät uns auch, dass Sieben Ara eine Achillesferse besitzt: »Aber sein Gesicht erreicht nur die Umgebung seines Nests; sein Gesicht erreicht nicht jeden Ort unter dem Himmel.« Diese Enthüllung wird in den nächsten Kapiteln noch wichtig werden.
Alles in allem beschreibt das Popol Vuh eine Welt, die von einer Naturkatastrophe verheert wurde und in der es kein menschliches Leben mehr gibt. Irgendwie hat ein Stamm der Quiché-Maya diese Welt am Ende einer Eiszeit erreicht, nur um dort auf einen bösartigen Halbgott zu stoßen. Doch so mächtig dieser Sieben Ara auch zu sein scheint, er kann nicht alles vorhersehen – besonders nicht, dass sich ein mächtiger Krieger erheben wird, der dieses dämonische Wesen herausfordern und sein Volk in die Freiheit führen wird.