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»Damit ist wirklich ein neues
Zeitalter in der Physik und
in unserem Verständnis des Universums
angebrochen.
Noch nie waren wir Zeuge dieser
unvergleichlichen
Energie, wie sie bei den Kollisionen im Large
Hadron
Collider zum Einsatz kommt. Mit dieser Energie
sollen
die Teilchen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit
beschleunigt
und dann zur Kollision gebracht werden. Das klingt
nicht
unbedingt besonders interessant, aber wenn wir
uns
Einsteins Gleichung E = mc2 vergegenwärtigen,
dann
wissen wir, dass wir mit dieser ungeheuren
Energiemenge
wirklich schwere Teilchen schaffen können –
Teilchen, die
es möglicherweise seit dem Anfang aller Zeiten
nicht
mehr gegeben hat. Wir können also diese
schweren
Teilchen entstehen lassen, und wir können sie
obendrein
genau untersuchen. Dies gibt uns eine Fülle
von
Informationen über das frühe Universum und
darüber,
wie alles begann, sowie über die Art und Weise, in
der die
Natur auf fundamentaler Ebene
funktioniert.«
CLAIRE TIMLIN,
CMS-Physikerin am Imperial College, London
Weißes Haus
22. November 2012
Im Westflügel des Weißen Hauses befindet sich das sogenannte Lagezentrum. Dabei handelt es sich um einen 500 Quadratmeter großen unterirdischen Komplex, der dazu dient, den Präsidenten und sein Kabinett mit entscheidenden Personen der verschiedensten Ebenen auf der gesamten Welt zu verbinden. Die Einrichtung geht auf Präsident Kennedy zurück, der bei der missglückten Invasion in der Schweinebucht die frustrierende Erfahrung machen musste, dass ihm von Anfang an nicht genügend Geheimdienstinformationen zur Verfügung gestanden hatten. Inzwischen bildet das Lagezentrum den entscheidenden Kommunikationsknotenpunkt von Heimatschutz, den verschiedenen Geheimdiensten und dem Militär. Es gibt drei Konferenzräume, die für Besprechungen des Nationalen Sicherheitsrates vorgesehen sind, private Kabinen aus Acryl, in denen sich abhörsichere Telefongespräche ins Ausland führen lassen, fünf sichere Videoräume und zwei halbmondförmige Tische mit Computerterminals, an denen die aus der ganzen Welt einströmenden Daten bearbeitet werden.
Vizepräsident Ennis Chaney geht durch den Komplex. Er bleibt kurz stehen, als sich in einer Kabine ein Sichtschutz hebt, und sieht, wie ein Arzt eine Blutdruckmanschette von Präsident Mallers Arm löst. Chaney tut so, als hätte er nichts bemerkt, und geht weiter zum zentralen Konferenzraum, an dessen Wänden zahlreiche Flachbildschirme hängen und in dessen Mitte ein großer Mahagonitisch steht.
Der Vizepräsident setzt sich an seinem Platz in einen grauen Ledersessel, direkt gegenüber von Außenminister Pierre Borgia. Präsident Maller kommt eilig herein, setzt sich an den Kopf des Tisches vor eine Computerkonsole und bricht das unbehagliche Schweigen.
»Bevor wir über den Iran sprechen, gibt es beim heutigen Briefing einen anderen wichtigen Punkt, den wir durchgehen müssen. Falls Sie noch nicht mit der Situation im Yellowstone-Park vertraut sind: In Ihrer E-Mail findet sich eine Zusammenfassung, die Sie unbedingt lesen sollten. Für alle, die noch nicht darüber Bescheid wissen: Die Natur hat, kurz gesagt, eine tickende Zeitbombe in Form eines Supervulkans – einer Caldera – unter dem Yellowstone platziert. Es wäre nicht übertrieben, dies als Weltuntergangsszenario zu bezeichnen, denn sollte es zu einer Eruption der Caldera kommen, würden dabei zerstörerische Kräfte freigesetzt, die den Ausbruch des Mount St. Helens um das Zehntausendfache übertreffen. Der USGS überwacht die Situation rund um die Uhr, und obwohl es in den vergangenen Jahren gelegentlich Anlass zur Besorgnis gab, blieb die Lage einigermaßen stabil … bis jetzt.«
Der Präsident drückt auf einen Knopf an seiner Konsole, wodurch auf den sechs Plasma-Flachbildschirmen des Konferenzraums Live-Aufnahmen vom Yellowstone-Park erscheinen. Zu sehen ist ein Mann Mitte vierzig, der ein schwarzes USGS-Hemd und die passende Baseballmütze trägt. »Dr. Mark Beckmeyer ist der stellvertretende Direktor des Programms zur Erdbebenüberwachung des USGS. Er ist der Verantwortliche in Yellowstone. Dr. Beckmeyer und ich haben uns letzte Nacht lange unterhalten. Dr. Beckmeyer, könnten Sie meinen Mitarbeitern eine kurze Zusammenfassung unseres Gesprächs geben?«
»Ja, Sir. Ich werde hier nicht auf Einzelaspekte der Caldera oder des Untergrunds unter dem Yellowstone-Gebiet eingehen, denn das steht bereits alles in Ihrer E-Mail. Deshalb nur das Wichtigste. Unsere größte Sorge besteht darin, dass ein Erdbeben eine Eruption auslöst. Im Yellowstone-Gebiet treten Erdbeben fast nie einzeln auf; es sind in der Regel mehrere, die sich fast gleichzeitig ereignen. Das liegt vor allem an Größe und Form der durch die Ringstruktur der Caldera erzeugten Bruchlinien. So haben wir zum Beispiel im Juli einhundertzweiundfünfzig Erdbeben in der Yellowstone-Region aufgezeichnet, siebzehn mehr als im Jahr 2011. Glücklicherweise richten diese Beben fast nie irgendwelche Schäden an. Ja, unsere Daten über die Verschiebung des Erdbodens zeigen sogar, dass sich die Caldera unter dem Yellowstone Lake nicht weiter angehoben hat. Das ist eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht lautet, dass das seismische Ereignis vom 22. September nicht nur Auswirkungen auf den Golf von Mexiko hatte, sondern auch auf die geologischen Verhältnisse in der Yellowstone-Region. Dabei kam es zum Zusammenbruch der drei vulkanischen Kammern der Caldera, wobei im Wesentlichen eine einzige riesige Magmakammer entstand. Der Druck in dieser Kammer steigt ständig an. Zusammen mit dem Pioniercorps der Army haben unsere Geologen den Versuch unternommen, den Druck aus der Kammer abzuleiten. Sollte es aber zu einem weiteren Erdbeben wie dem zur Herbst-Tagundnachtgleiche kommen, dann würde eine Eruption unmittelbar bevorstehen.«
»Dr. Beckmeyer, bitte schildern Sie uns, was im schlimmsten Fall passieren könnte.«
»Um es ganz einfach zu sagen: Die Eruption einer großen Caldera wie derjenigen unter dem Yellowstone-Park würde den gesamten Planeten verändern. Vor 70 000 Jahren kam es am Tobasee auf Sumatra zum vorerst letzten Mal zu einem vergleichbaren Ereignis. Doch die Caldera unter dem Yellowstone-Park ist viel größer, als es die unter dem Tobasee je war. Sollte unsere Caldera hochgehen, würde die Explosion augenblicklich die in der Umgebung lebende Bevölkerung auslöschen. Die Lava würde sich über Tausende von Quadratkilometern hinweg ausbreiten. Die Staaten des Mittleren Westens würden sich in einen riesigen Ground Zero verwandeln, die Ernte würde vernichtet. Doch so schlimm sich das auch anhören mag, das viel größere Problem stellen die in die Atmosphäre geschleuderten Staubteilchen dar, denn sie würden verhindern, dass die Sonnenstrahlung auch weiterhin die Erdoberfläche erreicht. Wir müssten mit einem vulkanischen Winter rechnen, bei dem die globalen Temperaturen um fast vierzig Grad fallen würden. Die Energieversorgung wird zusammenbrechen, die Bevölkerung wird in kleinen Gruppen isoliert werden, die Wirtschaft wird zum Stillstand kommen. Millionen werden bereits während der ersten paar Wochen an der Kälte zugrunde gehen. Die Straßen werden unpassierbar. Innerhalb von ein, zwei Monaten werden diejenigen, die noch nicht erfroren sind, einfach verhungern.«
Der Vizepräsident lockert seinen Kragen, er bekommt kaum noch Luft. »Es muss doch irgendetwas geben, was unsere Wissenschaftler tun können?«
»Wir haben mehrere Teams, die an diesem Problem arbeiten«, erwidert Beckmeyer. »Bisher sieht nichts besonders vielversprechend aus.«
»Danke, Dr. Beckmeyer. Wir sehen uns dann in Washington. « Der Präsident beendet die Verbindung. »Ich weiß, dass viele von Ihnen schockiert sind, und natürlich beten wir alle darum, dass es nicht zu einem weiteren seismischen Ereignis kommt, wie wir es im September erlebt haben, aber die Wahrheit ist, dass unsere Experten bei ihrer Analyse dieser Bedrohung genauso gründlich vorgegangen sind wie das Pentagon bei seinen Kriegsszenarien, und Pläne, die alle Eventualitäten berücksichtigen, werden bereits erstellt. Mr. Secretary? «
Pierre Borgia dreht sich zur Seite, so dass er die Kabinettsmitglieder zu seiner Linken sehen kann. »Die Yellowstone-Caldera bedroht das Überleben der menschlichen Spezies. Und zu überleben verlangt schwierige Entscheidungen. Wir müssen die bittere Realität akzeptieren, dass bei einer Eruption in Yellowstone sechs Milliarden Menschen sterben werden … und das auf schreckliche Art und Weise. Ausgenommen sind nur einige wenige, die vorbereitet und geschützt sind.«
Mit seinem Laptop lädt Borgia mehrere Diagramme hoch, die auf den Plasmabildschirmen an den Wänden erscheinen. »Wir planen, Nahrungsmittel, Wasser, Vieh und Saatgut in den einhundertsechs unterirdischen Sicherheitseinrichtungen einzulagern, die sich außerhalb der Ground-Zero-Staaten befinden. Unseren Schätzungen zufolge können wir bis zu siebenundzwanzigtausend Menschen über die ersten fünf Jahre hinweg versorgen, elftausend Menschen zehn Jahre lang und fünftausend Menschen zwanzig Jahre lang. Diese Zahlen ergeben sich aus einem Verhältnis von fünf zu drei bei Geburten und Todesfällen in jeder Kolonie.«
Chaney schüttelt den Kopf. »Was ist mit den Bewohnern der Todeszone? Werden wir sie früh genug warnen, damit sie das Gebiet noch verlassen können?«
Borgia fixiert den Vizepräsidenten mit seinem noch verbliebenen Auge. »Wenn man die Massen alarmiert, wird man nichts als Panik erzeugen. Anarchie wird ausbrechen. Straßen und Schienen werden völlig nutzlos sein. Vielleicht hört sich das ja grausam an, Mr. Chaney, aber zu verbrennen ist wahrscheinlich humaner als zu verhungern.«
»Warum probieren Sie nicht beides aus und lassen es uns dann wissen?«
Präsident Maller schlägt mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Ennis, hier geht es nicht um Politik. Es geht um das Überleben der menschlichen Spezies.«
»Sie meinen, das Überleben einer Elite. Oder wird etwa irgendjemand, der kein Politiker und kein Milliardär ist, diese unterirdischen Schutzräume jemals von innen sehen? Fünftausend wertlose Häuptlinge und keine Indianer. Wenn das der Genpool ist, der für die Zukunft dieses Planeten steht, dann bin ich froh, dass ich das nicht mehr miterleben werde.«
Der Vizepräsident steht auf und geht in Richtung Tür.
»War das ein offizieller Rücktritt?«, ruft Borgia ihm nach. »Den würden wir nämlich akzeptieren!«
Chaney zeigt ihm den Mittelfinger und geht.
Präsident Maller holt ihn auf dem Gang ein. »In einen Privatraum, Mr. Chaney. Sofort.«
Der Vizepräsident starrt den Oberkommandierenden einen Augenblick lang an und folgt ihm dann in eine der schalldichten Acrylkabinen.
Maller aktiviert den Sichtschutz. »Was ist los mit Ihnen? Seit wann lassen Sie zu, dass Borgia Sie mit einer hypothetischen Katastrophe so sehr vorführt? Da stehen Sie doch drüber.«
»Vielleicht habe ich es einfach satt, mich mit dummen Leuten herumzuschlagen, Mark. Sehen Sie, das Problem mit der Dummheit besteht darin, dass sie bis in alle Ewigkeit fortdauert. Man kann Dummheit nicht ändern. Ich habe es versucht, glauben Sie mir.«
»Ich will, dass Sie es noch energischer versuchen.« Der Präsident sieht Chaney in die Augen. »Ich habe meine eigene Zeitbombe, um die ich mich kümmern muss. Der erste Dezember wird mein letzter Tag im Amt sein.«
Tränen steigen Chaney in die Augen. »Wie lange wissen Sie es schon?«
»Seit etwa sieben Monaten.«
»Und trotzdem haben Sie noch einmal kandidiert?«
»Ich habe kandidiert, damit wir beide gewählt werden. So kann ich die Stafette an Sie weitergeben.«
»Warum an mich?«
»Aus all den Gründen, die Sie in der Besprechung gerade eben unter Beweis gestellt haben. Weil für Sie die Bevölkerung dieses Landes zuerst kommt. Weil Sie sich um das kümmern, was wirklich wichtig ist. Jetzt liegt alles bei Ihnen. Wenn Sie die Dummheit ändern wollen, dann haben Sie hiermit die Gelegenheit dazu bekommen. Sie haben freie Hand. Tun Sie, was nötig ist.«
»Und was ist mit der Caldera?«
»Beten Sie, dass es nie so weit kommt. Warnen Sie die Menschen, wenn Sie den Eindruck haben, dass es das Beste für sie ist. Die meisten werden sowieso nicht weggehen, aber machen Sie’s, wenn Sie es für richtig halten. Gleichzeitig sollten Sie unsere unterirdischen Anlagen vorbereiten, ohne das an die große Glocke zu hängen, nur für alle Fälle. Vergessen Sie nicht, es ist wesentlich leichter, Anstoß daran zu nehmen, wer rein darf und wer nicht, als selbst zu entscheiden, wer gerettet werden soll.«
South Florida Evaluation and
Treatment Center
Miami, Florida
»Kommt nicht infrage.« Dr. Foletta geht weiter den Korridor hinab, während Dominique ihm hinterhereilt. »The Mule war so lange isoliert, dass er wahrscheinlich eine Gefahr für die anderen Patienten darstellt, selbst wenn er seine Zelle nur eine Stunde am Tag verlassen darf.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, Sir. Der Hof ist jeden Tag frei von Viertel nach zwei bis Viertel nach drei.«
»Wir müssen mehr Wachpersonal einteilen und von den üblichen Abläufen für die anderen Patienten abweichen. Heute ist mein erster Tag nach den Ferien. Geben Sie mir eine Woche, bis ich mich wieder in alles hineingefunden habe.«
»Bei allem gebotenen Respekt, Sir. Samuel Agler wurde elf Jahre lang isoliert. Vielleicht läuft das ja in Massachusetts so, aber in dieser Einrichtung ganz sicher nicht. Entweder erlauben Sie mir, dass ich meinen Patienten für einen einstündigen Hofgang einteile, oder Sie werden dem Klinikvorstand erklären müssen, warum gerade bei ihm eine Ausnahme gemacht wird.«
Foletta dreht sich zu ihr um. Sein Engelsgesicht ist dunkelrot. »Für wen halten Sie sich eigentlich, Praktikantin Vazquez? Ich habe schon psychiatrische Kliniken geleitet, da waren Sie noch nicht mal auf der Welt.«
»Dann wissen Sie ja, dass ich Recht habe. Nur eine Stunde pro Tag. Um mehr bitte ich Sie ja gar nicht.«
»Und wenn ich einverstanden bin?«
»Dann werde ich seine Begutachtung unterschreiben – genau so, wie Sie es verlangt haben.«
Folettas graue Augen mustern sie. Schweißtropfen rinnen ihm über das Gesicht. »Eine Stunde, mehr nicht. Und Sie werden seine Begutachtung noch vor der Mittagspause unterschreiben.«
Der Hof des South Florida Evaluation and Treatment Center ist eine rechteckige, von allen Seiten geschlossene Rasenfläche. Im Osten und Süden bildet das L-förmige Hauptgebäude die Begrenzung, im Norden und Westen eine sechs Meter hohe, dicke Betonmauer, deren obere Kante von mehreren Rollen Stacheldraht gekrönt wird.
Es gibt keine Türen, die direkt auf den Hof führen. Man erreicht ihn über drei Betontreppen, die aus einem offenen Zwischengeschoss an der Südseite des Hauptgebäudes nach unten führen.
Samuel Agler geht barfuß über den Rasen, genießt die Grashalme zwischen seinen Zehen und atmet begeistert die frische, ungefilterte Luft. Er legt den Kopf in den Nacken, so dass ihm die Sonne direkt ins Gesicht scheinen kann. Seine Haut kribbelt, und seine Adern weiten sich.
Dominique beobachtet ihn. Sie spürt, dass die Wachen sie beide fest im Blick haben. »Wie fühlst du dich?«
»Wie neu geboren.«
Mick und ich haben endlich alles vorbereitet. Wir schaffen dich noch heute Nacht raus.
Wie?
Ich bleibe länger hier. Ich behaupte, dass ich für meinen Abschluss lernen muss. Viertel nach acht macht Paul Jones seine letzte Runde. Danach übernimmt Luis Lopez die Nachtwache. Das ist Lopez’ Zweitjob. Er und seine Frau haben gerade ein Baby bekommen, weswegen er regelmäßig gegen elf irgendwo einschläft. Um ganz sicher zu sein, werde ich auch noch etwas in seinen Kaffee geben.
Das Sicherheitszentrum im Erdgeschoss ist mit allen Kameras verbunden. Wie können wir das System umgehen?
Raymond hat diese Woche Nachtschicht. Ich werde ihn dazu bringen, dass er dir einen nächtlichen Besuch abstattet. Er wird dir einen Elektroschock versetzen, bevor er dich angreift. Mick hat mir etwas gegeben, das den Empfänger in deiner Fußfessel stört. Schieb das Ding in deinen Schuh, bevor du den Hof verlässt. Wenn du wieder allein in deiner Zelle bist, musst du es so an die Fessel kleben, dass die Antenne abgedeckt wird. Mick wartet draußen in einem weißen Lieferwagen auf dich.
Sie schlendern die Betonmauer entlang. Sam betrachtet aufmerksam jede Unebenheit und jeden kleinen Riss. Was ist mit dir? Du wirst immer auf der Flucht sein.
Wenn Raymond aufwacht, werde ich bewusstlos neben ihm liegen. Du wirst die Bänder löschen, bevor du gehst, damit es nichts gibt, was meiner Version der Ereignisse widersprechen kann. Wir werden uns wiedersehen, sobald das möglich ist.
Du meinst in Nazca?
Woher weißt du das?
Du bist mit Mick vor ein paar Wochen dort gewesen. Was immer du auch gesehen hast, es hat dir Angst gemacht.
Konzentrieren wir uns auf heute Nacht. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. Bleib stehen und zieh deine Schuhe an. Ich muss dir dieses Gerät geben.
Er hält inne, kniet auf den Rasen und streift die Schuhe über.
Sie zieht ein Metallplättchen von der Größe einer Briefmarke aus der Tasche und lässt es unauffällig zu Boden fallen.
Sam schiebt es in seinen Schuh.
Eine Sache noch – wir müssen uns streiten. Ich werde dich auffordern, wieder hineinzugehen. Geh in die andere Richtung. Das wird die Wachen alarmieren. Ich werde sie daran hindern, dir mit ihren Elektroschockern zuzusetzen, und behaupten, dass ich die Lage unter Kontrolle habe. Wenn ich dann auf dich zukomme, musst du mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen. Und zwar kräftig.
Das kann ich nicht tun.
Doch, das kannst du. Denk an Laura und Sophia. Das ist die einzige Möglichkeit für dich, sie zu retten.
Dominique wirft wieder einen Blick auf die Uhr. »Schluss mit dem Rumstehen, Sam. Es ist Zeit, dass du wieder in deine Zelle gehst.«
Sam zögert. Dann geht er in die andere Richtung.
Von seinem Büro im dritten Stock aus beobachtet Lowell Foletta den Hof. Sein Blick folgt Samuel Agler, doch genauso sehr konzentriert er sich auf die Stimme, die aus seinem Handy kommt. »… er wird deinen Mitarbeiter ersetzen, der heute eigentlich die Nachtschicht übernehmen müsste, aber überraschenderweise eine Autopanne hat. Viertel nach zehn musst du die zentrale Sicherung für die Kameras im siebten Stock rausdrehen. Sie darf zwanzig Minuten lang nicht wieder eingesetzt werden. Mehr Zeit braucht er nicht, um sich um unseren Freund zu kümmern.«
»Was ist mit der Autopsie?«
»Die Autopsie wird ergeben, dass Samuel Agler an Herzversagen gestorben ist.«
»Alles klar. Oh mein Gott!« Foletta springt aus seinem Schreibtischsessel auf, als er sieht, wie seine Praktikantin ins Gesicht geschlagen wird.
»Was ist los?«
»Dein Junge ist im Hof ausgeflippt. Ich kümmere mich besser selbst darum, bevor er noch in der Krankenstation landet!« Foletta beendet die Verbindung und stürmt aus dem Büro.
Fünfzehnhundert Kilometer weiter im Norden legt Borgia im Lagezentrum in einer der abhörsicheren Kabinen aus Acryl den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Der Außenminister lächelt still vor sich hin.