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»Wir wissen, dass er etwas entdecken wird, weil wir ihn bewusst so gebaut haben, dass er in unbekanntes Terrain vorstoßen wird.«
BRIAN COX, Physiker am CERN
Die nackte Singularität war aus einem von Hunderttausenden mikroskopisch kleinen Urknall-Ereignissen in die Existenz geschleudert worden und dann dem Abschnitt der Raumzeit innerhalb des Large Hadron Collider entkommen wie ein Strangelet-Spermium auf der Suche nach einer Protonen-Eizelle. Sie war in eine Paralleldimension der Existenz gesaugt worden und hatte in den Atomen des Aexo-Dunkle-Energie-Hyperraums die notwendige Nahrung gefunden, um sich zu reproduzieren. So war es zu einer erfolgreichen Empfängnis gekommen, die das leere Vakuum in einen fruchtbaren kosmischen Mutterleib verwandelte.
Die Plazenta dieses Mutterleibs aus Dunkler Energie war der Magnetkern der Erde, eine radioaktive Eisen-und Nickelkugel. Der innere Kern – der Mittelpunkt des Planeten – hat einen Durchmesser von etwa 2500 Kilometern und ist um die 3700 Grad heiß, doch der Druck ist so groß, dass die Masse nicht schmilzt. Er ist von einem äußeren Kern aus flüssigem Metall umgeben, der etwa 2000 Kilometer dick ist. Bei der Umdrehung der Erde bewegt sich der äußere Kern gegen den inneren Kern, wobei das irdische Magnetfeld erzeugt wird.
Durch diese magnetische Wirkung war das Monster wieder und wieder zum Mittelpunkt der Erde gezogen worden, nur um dann jeweils erneut nach außen zu wandern, war gewachsen und hatte bei jedem Durchgang durch den Kern in einer exponentiellen Rate mehr Atome in sich aufgenommen. Der Nord – und der Südpol und der eisige Brutkasten des Weltalls hatten das träge Gebilde in immer wieder neue Richtungen gelenkt. Nach jedem Durchgang schwebte es über dem Planeten, seine wachsende Struktur festigte sich und kühlte ab, wobei jedes dieser dicht gepackten Atome eine extreme Schwerkraft erzeugte und eine eigene Mikro-Singularität darstellte. Das Monster, einem Schwarm von Fischen gleich, bei dem die Bewegung jedes einzelnen Mitglieds genau auf die Bewegungen aller anderen abgestimmt ist, formte sich immer wieder zu einem beschleunigten Partikelstrom um, der durch die Erde drang und dessen Strudel ein Wurmloch entstehen ließ.
Genau wie die aus vielen einzelnen Teilchen zusammengesetzte Singularität war auch das Wurmloch weder durch die Grenzen der Dimensionen noch durch die Raumzeit eingeschränkt; es war nur mit einer Art Nabelschnur an seine Mutter gebunden, von der es genährt wurde. In immer längeren Nährzeiten wuchs das Monster immer weiter; dabei stabilisierte sich das Wurmloch, dessen Maul und dessen Schwanz über die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Membranen des physischen Universums wirbelten.
Wie eine befruchtete Eizelle alle Eindringlinge in den Mutterleib abwehrt, sorgte die Existenz der wachsenden Singularität dafür, dass sich aus den unablässig ausgestoßenen Strangelets des Hadron Collider keine weitere Singularität entwickeln konnte; und genau wie ein ungeborenes Kind trat die immer größer werdende Bestie manchmal um sich, während sie neue Nahrung aufnahm. Bei jeder dieser beschleunigten Wachstumsphasen stieß der Erdmantel Magma aus.
Der Erdmantel ist eine etwa 2900 Kilometer dicke Schicht, die den geschmolzenen äußeren Kern umgibt; sie beginnt etwa zehn Kilometer unter der ozeanischen und etwa dreißig Kilometer unter der kontinentalen Erdkruste. Die Erdkruste besteht aus tektonischen Platten, die langsam auf dem Mantel dahintreiben.
Während die Masse der Singularität weiterwuchs, übte sie mit jedem Durchgang durch den Erdkern größere Gravitationskräfte aus, wobei eine Druckblase entstand, die sich durch den Mantel bewegte wie eine Metallkugel, die um einen Roulettekessel wirbelt. Wenn diese Energiewoge an der Grenze zweier tektonischer Platten auf dem Meeresgrund ins Freie drang, kam es zu Seebeben und manchmal zu Tsunamis; geschah dasselbe auf dem Festland, waren Erdbeben die Folge. Wenn die Druckblase eine Magmakammer unter einem aktiven Vulkan durchquerte, kam es zu einer Eruption.
In den vergangenen sechs Monaten war die Singularität für sieben Tsunamis, elf Vulkanausbrüche und mehr als fünfzig Erdbeben auf der ganzen Welt verantwortlich. Das Aufsteigen über den Polen hat die immer größer werdende Masse mit dem bunten Schleier der geladenen Teilchen beider Auroras umgeben. Jetzt, da sich das Monster dem Augenblick seiner Geburt im physischen Universum nähert, macht es eine letzte Reise durch den Mittelpunkt der Erde und gibt den zum Untergang verdammten Menschen einen Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen sollen.
La Palma, Kanarische
Inseln
15:47 Uhr Ortszeit
Knapp einhundertzwanzig Kilometer westlich von Afrika liegt die Inselgruppe der Kanaren im Atlantik. Sie besteht aus sieben Hauptinseln und sechs kleineren Inselchen, die sich über gut vierhundertfünfzig Kilometer hinweg von Osten nach Westen erstrecken. Der Archipel entstand vor drei Millionen Jahren durch unterseeischen Vulkanismus.
La Palma ist die nordwestlichste Insel. Ihr Sockel liegt fast vier Kilometer unter der Meeresoberfläche; ihr höchster Berg, der Roque de los Muchachos, ragt 2426 Meter aus dem Ozean. Die Insel besitzt zwei Vulkangipfel sowie die Caldera de Taburiente, eine zehn Kilometer breite Caldera, die von einer ringförmigen Bergkette umgeben ist, welche die Landschaft im Norden beherrscht. Ein von Norden nach Süden verlaufender Bergrücken zieht sich durch die Mitte der Insel. Der Vulkan Cumbre Nueva liegt im Norden, der größere Cumbre Vieja im Süden.
Am 24. Juni 1949 brach der Cumbre Vieja zum ersten Mal seit dem Jahr 1712 wieder aus; die Eruptionen hielten siebenunddreißig Tage lang an. Lava wurde aus den drei Kratern des Stratovulkans geschleudert, und gleichzeitig kam es zu zwei Erdbeben. Die Eruptionen verursachten einen gewaltigen, über zweieinhalb Kilometer langen Riss im Westhang des Vulkans. Geologen, die ihn untersuchten, mussten zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sich ein großer Felsblock von mehr als fünfzig Kubikkilometern Größe und einem geschätzten Gewicht von über 100 Milliarden Tonnen vom Cumbre Vieja gelöst hatte. Wie ein geologisches Damokles-Schwert blieb die steil nach vorn geneigte Felsmasse über dem Atlantik hängen, der an dieser Stelle bis zu sechs Kilometer tief ist.
Ein Tsunami ist eine große Welle im Meer, die durch die plötzliche Verdrängung einer großen Wassermenge entsteht, wie sie üblicherweise von einem Seebeben, einem Vulkanausbruch oder einem unterseeischen Erdrutsch verursacht wird. Ein Mega-Tsunami ist eine weitaus größere Welle, die entweder durch den Aufschlag eines gewaltigen Asteroiden im Meer entsteht, wie das bei jenem Objekt der Fall war, das vor 65 Millionen Jahren mit der Erde kollidierte, oder durch einen Erdrutsch, der die Tiefsee in einem Winkel trifft, der das Meer zu einem Wirbel von unfassbarer Vernichtungskraft aufsteigen lässt.
Mehrere Jahrzehnte lang diskutierten Wissenschaftler darüber, ob der Westhang des Cumbre Vieja einen katastrophalen Erdrutsch auslösen könnte. Als eine Eruption im Jahr 1971 die aufgerissene Seite des Vulkans nicht weiter lockerte, stießen die Experten einen Seufzer der Erleichterung aus.

Das Observatorium Roque de los Muchachos befindet sich auf dem gleichnamigen Berg in unmittelbarer Nähe zu den Gipfeln, die die Caldera de Taburiente umgeben. Da das Roque nicht durch Lichtverschmutzung beeinträchtigt wird und somit das ganze Jahr über Beobachtungen unter einem klaren, dunklen Himmel möglich sind, ist diese Einrichtung bei Astronomen besonders begehrt.
Hector Javier arbeitet seit elf Monaten im Observatorium. Nach einer anstrengenden Nachtschicht an einem der größeren Teleskope hat der mexikanische Astronom darauf verzichtet, die gewundene, fast vierzig Kilometer lange Straße den Berg hinabzufahren, und sich dafür entschieden, auf dem Fußboden seines Büros zu übernachten.
Ein tiefes seismisches Grollen und das plötzliche heftige Pochen seines Herzens wecken ihn. Er stürmt ins Labor, wo er fast mit Dr. Kevin Read, dem stellvertretenden Direktor des Observatoriums, zusammenstößt. Das Gesicht des Kanadiers ist bleich, seine Miene besorgt. »Es ist der Cumbre Vieja. Der Vulkan bricht aus! Hilf mir mit dem 70-Zoll-Truss. Von der südwestlichen Plattform aus müssten wir eigentlich etwas erkennen können.«
Das tragbare Truss-Teleskop befindet sich im Lagerraum. Die beiden Astronomen benötigen fünfzehn Minuten, um es auf die südwestliche Plattform, eine Betonfläche 2400 Meter über dem Atlantik, zu schaffen.
Die Asche ist bereits sechzehn Kilometer hoch in den nachmittäglichen Himmel aufgestiegen, als Dr. Read die Linse auf die Vulkanöffnung richtet; eine dichte, braungraue Wolke schränkt die Sicht durch das Teleskop teilweise ein.
»Können Sie etwas erkennen?«
»Jede Menge Rauch, aber keine Lava. Es wäre möglich, dass das Magma …«
Die katastrophale Eruption ereignet sich blitzschnell, und sie ist ohrenbetäubend. Eine gewaltige Explosion erschüttert die gesamte Insel, wobei Milliarden Tonnen Asche, Geröll und Lava fünfundzwanzig Kilometer hoch in die Luft geschleudert werden.
Hector Javier greift als Erster nach dem umgestürzten Teleskop. Er stellt es wieder auf das Stativ, drückt sein Auge gegen das Okular und sucht im dichten Rauch nach dem Ort der Eruption. Schockiert muss er erkennen, dass der Cumbre Vieja verschwunden ist. Die schwelende Vulkanspitze wurde einfach weggerissen.
Eine verschwommene grünblaue Bewegung zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Hector richtet das Teleskop auf den Atlantik. Es verschlägt ihm die Sprache angesichts dessen, was er da sieht.
Das Meer steigt als dunkle, wirbelnde Wasserkuppel auf in den Himmel. Die Woge ist unfassbar gewaltig. Dreihundert Meter, sechshundert Meter, und noch immer steigt sie weiter an. Nach wenigen Augenblicken ist sie schon höher als der Cumbre Vieja, und gleich darauf hat sie fast die Höhe der Beobachtungsplattform erreicht.
Kevin Read sieht den dunkelblauen Wasserberg mit bloßem Auge, unmittelbar bevor die Woge in sich zusammenbricht. Der Wissenschaftler zittert vor Angst, denn er weiß nur zu gut, was er vor sich hat: einen Wasserkegel mit einer Energie von fünf Billiarden Joule, die durch den Cumbre-Vieja-Erdrutsch freigesetzt wurden.
Das Dröhnen erreicht sie zwanzig Sekunden später – ein hunderttausendfacher Niagarafall, der eine fast einhundertzehn Meter hohe Welle vor sich hertreibt. Der Mega-Tsunami löst sich von der Südwestspitze La Palmas und rast mit mehr als siebenhundertfünfzig Kilometern pro Stunde über den Atlantik auf die Ostküste von Nord – und Südamerika zu.
Yellowstone Park,
Wyoming
9:47 Uhr Ortszeit
Das Monster hatte geschlafen. Sechshundertzweiundvierzigtausend Jahre lang. Sein Herz war das Innere der Erde und sein Blut das Magma, das seinen leeren Bauch wärmte. In seinem ruhelosen Schlaf hatte es gezuckt und sich geschüttelt und den See über seinen Därmen nach oben gewölbt, als es sich streckte. Es zischte und stieß Dampf aus, und manchmal blutete es sogar, und obwohl erbarmungslos an ihm herumgestochert wurde, erwachte es nicht, denn es war alt – so alt wie die Erde.
Doch jetzt lockte die Erde wieder, wenn auch auf eine Art, die die Bestie verwirrte. Die Erschütterungen, die in seinen Därmen grummelten, waren tiefer und heftiger geworden und hatten das Magma, das in seinem Bauch so lange kristallisiert gewesen war, wieder verflüssigt. Sein Leib füllte sich mit frischer Lava, und sein Blutdruck stieg unaufhaltsam, bis eine uralte Schwelle überschritten war.
Wütend erwachte das Monster.
Zum letzten Mal.
Gleich würde es zu einer Explosion kommen. Es konnte sich nur noch um wenige Minuten handeln.
Jon Bogner würgte die Magnesiummilch hinunter und betete, dass sie das brennende Gefühl in seinem Bauch lindern würde. Seine Frau Angie hatte ihn ermahnt, mehr auf seine Ernährung zu achten und seine Dickdarmentzündung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Doch er musste etwas im Magen haben, bevor er seine Antibiotika einnehmen konnte, und die langen Stunden im Büro des amerikanischen Erdbebenüberwachungsdienstes, des United States Geological Survey, kurz USGS, schränkten seine Möglichkeiten, sich im Park teure Snacks oder Fast Food zu besorgen, deutlich ein.
Zugegeben, der Burrito zum Frühstück war ein Fehler gewesen.
Nach dem kalkigen Mittel, das seine Magensäure neutralisieren sollte, nahm der Geophysiker einen Schluck aus seiner Mineralwasserflasche und setzte sich wieder an seinen Computer. Es gab einundvierzig permanente Seismographen, die über das ganze Gebiet des Yellowstone-Parks verteilt waren. Ein Dutzend davon war erst in den letzten sechsundzwanzig Monaten platziert worden, als die Caldera ungewöhnliche Anzeichen eines baldigen Ausbruchs erkennen ließ. Jon und sein Seismologenteam waren zwar der Ansicht, dass die bisherigen Erdbeben tektonischer und nicht vulkanischer Natur waren, doch die Zeichen waren trotzdem beunruhigend. Wie das Sodbrennen, das aus seinem Magen aufstieg, wölbte sich die Caldera etwa elf Kilometer unter der Erdoberfläche nach oben und hob das Felsbett des Yellowstone Lake in einem Radius von etwa einem Kilometer mehr als sechzig Meter hoch. Eine weitere Wölbung südlich des Beckens des Norris-Geysirs hatte sich im letzten Kalenderjahr um sechsundneunzig Zentimeter angehoben und erstreckte sich inzwischen über fünfundvierzig Kilometer.
Woche für Woche traten neue heiße Schlammlöcher auf. Die Bodentemperatur auf den Waldwegen betrug inzwischen fast 112 Grad Celsius. Es wurde über Möglichkeiten diskutiert, wie man der Gefahr begegnen sollte, die von der Caldera ausging. Ein System aus Ventilen und Kanälen, die mit dem Yellowstone Lake verbunden wären, könnte das Monster vielleicht zähmen, aber der Kongress hatte entschieden, dass die Kosten von 25 Milliarden Dollar »viel zu hoch für eine Touristenattraktion« waren; den Abgeordneten hatte die »Panikmache« des USGS überhaupt nicht gefallen.
Panikmache? Eine ungebremste Eruption des Supervulkans hätte dieselben katastrophalen Folgen wie der Einschlag eines größeren Asteroiden. Dabei konnte man die Lava, die sich über Hunderte von Quadratkilometern ausbreiten würde, und die Explosion, bei der Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen zu Tode kämen, sogar vernachlässigen; das größte Problem war die Aschewolke voller Schwefeldioxid. Sie wäre so groß wie die Wolke, die beim Ausbruch von zehntausend Mount-St.-Helens-Vulkanen entstehen würde. Sie würde sich über die gesamte obere Atmosphäre ausbreiten und die lebenspendenden Sonnenstrahlen zurück ins All reflektieren. Auf der ganzen Welt würde die Temperatur sinken, zuerst würden die Pflanzen, dann die Tiere und dann die Menschen sterben. Über viele Jahre hinweg würde der nukleare Winter die Erde im Griff halten.
Aber es gäbe auch gute Nachrichten: Wenigstens würden die Öl-Kriege in Venezuela und Nigeria enden, so dass die überlebenden amerikanischen Steuerzahler eine Billion Dollar pro Jahr einsparen konnten.
Das Grummeln regt sich wieder. Jon Bogner steht auf, um sofort auf die Toilette stürmen zu können, als ihm klarwird, dass es nicht sein Magen ist, der verrückt spielt.
Caitlyn Roemholdt wird langsam ungeduldig. Die vierundzwanzigjährige Japanischübersetzerin hat Blasen an den Füßen, nachdem sie in Sandalen über die heißen Holzplanken der Promenade gegangen ist, und ihr Vater Ron weigert sich, Yellowstone zu verlassen, solange er den Old Faithful noch nicht aufgenommen hat.
»Dad, du hast doch schon genug.«
»Noch eine Minute. Höchstens fünf. Glaub mir, das Warten lohnt sich. Hör dir das an.« Er liest ihr aus einer Broschüre vor: »Geysire sind heiße Quellen mit schmalen Öffnungen in der Nähe der Erdoberfläche, die so eng sind, dass das Wasser nicht frei zirkulieren und dabei seine Wärme abgeben kann. Weil während des letzten Jahres mehr Erdbeben als je zuvor den Park erschüttert haben, sind die Eruptionen des Old Faithful länger geworden und haben eine größere Höhe erreicht. Es gibt mehr als zehntausend Geysire im Yellowstone …«
»Wen interessiert das?«
»Mich interessiert es. Hast du gewusst, dass mein Vater mir den Old Faithful gezeigt hat, als ich sieben war?«
»Baka ka, ich bin vierundzwanzig und ein bisschen zu alt, um mich für ein fubishitting Drecksloch zu interessieren, das Dampf furzt.«
»Pass auf, was du sagst.«
»Entschuldige. Aber das ist einfach nur der aktuelle Slang.«
»Ich habe die japanischen Wörter gemeint. Du hast mich ein dummes Arschloch genannt.«
Caitlyn lächelt. »Arschloch, Drecksloch … wo ist da der Unterschied?«
Die Detonation aus dem kegelförmigen Geysir übertönt die Erwiderung des Vaters – dreißigtausend Liter Dampf und Wasser schießen fast sechzig Meter hoch in den Himmel. Mehrere Hundert Touristen applaudieren.
»Okay, ich muss zugeben, dass das ziemlich cool ist. Die Farben gefallen mir.«
Rons Kopf taucht hinter der Kamera auf. »Welche Farben?«
»Der rote Schlamm. Er erinnert mich an das Blut, das aus Moby Dicks Blasloch kommt.«
»Das ist kein Schlamm, das ist Lava! Komm!« Ron packt seine Tochter bei der Hand und schiebt sich durch die Masse der Zuschauer. Sein Herz rast, obwohl er sich fragt, ob seine Reaktion richtig ist. Vielleicht ist das ja gar keine Lava. Vielleicht bedeutet es überhaupt nichts. Niemand sonst rennt weg.
»Dad, stopp! Ich kann in diesen Sandalen nicht laufen. «
Atemlos bleibt er auf der kreisförmigen Promenade stehen, die den Yellowstone Lake umgibt. »Tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Die Lava … ich dachte, die Caldera bricht aus.«
»Dad, das war Schlamm.«
Ein Donnerschlag hallt über den See. Gefolgt von Schreien.
Rasch wirft Ron einen Blick über die Schulter und sieht, wie eine panische Menge vom Old Faithful wegrennt. Jetzt spuckt der Geysir einen über dreihundert Meter hohen Lavastrom aus.
»Los!« Er packt ihre Hand und rennt nach Süden in Richtung Grant Village. Caitlyn ist völlig benommen. Sie kann den Blick nicht vom See lösen, auf dem eine achtzehn Meter hohe Wasserwand Boote und Jet-Ski-Fahrer beiseitewischt und auf sie zurollt.
»Dad …«
»Wir können es schaffen!«
»Nein, können wir nicht!«
»Wir müssen, wenn wir das Auto erreichen wollen. Los!«
Sie stürmen über die Promenade, die die Südspitze des Sees umgibt, und haben bereits die halbe Strecke geschafft, als die Welle mit einem gewaltigen Donnern über dem Bootsverleih niedergeht und die Docks zerschmettert, deren Bruchstücke sofort in einer tobenden Flut aus umherwirbelnden Booten, Schlamm und Geröll verschwinden.
Caitlyn spürt, wie die Erde unter ihren Sandalen erzittert. Ein tiefes Grollen erfüllt ihre Ohren, während die Welle ihre Ankunft mit einem brennenden Schauer aus horizontalem Regen und Schlamm ankündigt, bevor die gewaltige Wasserwand in ihrem rasenden Toben die junge Frau von der Seite packt und verschlingt.
Halbinsel Yukatan
Der Pilot des Jet-Copters blickt nervös vom Radarschirm auf und sieht zu dem weißhaarigen jungen Mann, der auf dem Sitz des Copiloten neben ihm meditiert.
Devlin Mabus’ Hände formen eine Pyramide in seinem Schoß. Seine schwarzen Pupillen haben sich nach oben gedreht, so dass nur noch die karmesinroten Blutgefäße seiner Augen zu sehen sind. Er atmet schnell, und jeder Atemzug ist ein tiefes Knurren.
»Entschuldigen Sie, Dev. Ich konnte das Signal von JC-1 auffangen. Die Maschine bewegt sich nach Südosten, Richtung Atlantikküste. Soll ich sie verfolgen?« Der Pilot denkt kurz darüber nach, ob er Devlin am Arm tippen soll, aber er hat Angst, dass der Teenager ihn beißen könnte.
Der Dämon, der Devlins Geist in Besitz genommen hat, ist tief in den Nexus eingetaucht und hat den Jet-Copter schon längst verlassen. Er streift siebzig Kilometer weiter südlich durch den Dschungel von Yukatan und nimmt das schwere Aroma des Waldes um Palenque in sich auf. Sein besonders ausgebildeter Geruchssinn entdeckt den Aufenthaltsort des Körpers, der seine gegenwärtige physische Hülle geboren hat.
Ein zweiter Geruch schwebt in der Nähe des ersten … er stammt von einem männlichen Hunahpu.
Devlins Pupillen gleiten zurück in ihre übliche Position, der Dämon löst sich aus dem Nexus.
»… etwa einhundertzehn Kilometer entfernt, Dev. Soll ich Ihrer Mutter folgen oder weiter Kurs auf Palenque halten?«
»Sie ist nicht in der Maschine. Sie ist bei ihm. Gehen Sie in Palenque runter.«
Devlin schleicht durch den inzwischen vertrauten Dschungel, indem er einer an den Blättern haftenden Duftspur folgt, bis er die Lichtung erreicht.
Die alte Aztekin sitzt auf einem Felsblock. Blut tropft von dem Obsidianmesser, das sie in ihren knotigen Händen hält, und aus ihrem von winzigen Härchen umgebenen Mund.
Der Teenager mustert das halb verspeiste Herz. »Mein Pilot?«
»Er war jung, ganz von Geist erfüllt.« Chicahua lächelt. An ihrem Zahnfleisch und den wenigen Zähnen in ihrem Mund kleben die roten Fasern von Antonio Amorellis Herz. »Wenigstens sein Tod hatte einen Sinn.«
»Wird das auch für deinen Tod gelten?« Er umkreist seine Urgroßtante. »Du hast dich in der Geruchsspur meiner Mutter vor mir versteckt. Warum?«
»Weil ich weiß, wer du bist, Dämon, und weil ich weiß, was du willst. Du und ich, wir haben uns schon einmal getroffen … vor langer Zeit, als ich noch eine Schönheit war wie deine Mutter und verliebt in einen Mann, dessen Bestimmung es war, mein Seelengefährte zu werden. Sein Name war Don Rafelo, ein Hexer, ein Nagual – ein Zauberer, den du auf die dunkle Seite gelockt hast.«
»Du bringst alles durcheinander, Chicahua. Es war Don Rafelo, der mich gerufen hat. Wie Devlin und seine Mutter vor ihm suchte auch Don Rafelo die grenzenlose Macht der elften Dimension. Ich gab ihm, was er wollte, und er berauschte sich daran.«
»Du vergisst, dass ich eine Seherin bin und deine schlangenhaften Lügen durchschaue. Schon seit ewigen Zeiten hast du jede einzelne Tat vorbedacht und viele Tausend Menschen in deinem Versuch manipuliert, in die leibliche Hülle eines Hunahpu einzudringen. Du hast Quetzalcoatls Geschlecht gewählt und dir meinen Seelengefährten und den Aurelia-Clan als Opfer ausgesucht. Du hast Don Rafelo benutzt, um Madelina Aurelia zu verfluchen, und ihren Tod unmittelbar nach Liliths Geburt herbeigeführt. Du hast die Dunkelheit gebracht, die ihre befleckte Seele noch immer heimsucht, und jetzt hast du ihr Kind in Besitz genommen. Doch zu welchem Zweck? Einst haben deine Handlungen den fünften Zyklus erweitert. Doch jetzt haben die Gabriel-Zwillinge dieser Scharade ein Ende bereitet.«
»Nichts ist zu Ende! Die dunkle Straße wird sich wieder öffnen, doch diesmal werde ich bereit sein. Devlins leibliche Hülle ist reine Energie. Sie kann sich gleichzeitig in mehreren Dimensionen bewegen. Seine Gene lassen die Unsterblichkeit für mich möglich werden. Doch deine …« Er nimmt ihr das Obsidianmesser aus der Hand und streift die Klinge an ihrem Kleid sauber.
»Töte mich, wenn du willst. Mein Geist wird auch weiterhin deine Sicht im Nexus verhüllen.«
»Jetzt bist du es, die etwas vergessen hat, Chicahua. Als dein ehemaliger Geliebter weiß ich, dass es nicht deine Seele ist, mit deren Hilfe du mich blendest.«
Er gleitet in den Nexus und stürzt sich auf sie, packt ihren Nacken mit der einen Hand und treibt mit der anderen die Klinge tief in ihre rechte Augenhöhle. Indem er den bogenförmigen Knochen als Hebel benutzt, drückt er das Organ nach außen und schnippt es sich in den Mund, bevor er seine Aufmerksamkeit dem zweiten Auge zuwendet, das ihn durch den Nebel hindurch anstarrt.
Atlantik
167 Seemeilen südwestlich von
Großbritannien
Die Tiefseeboje, die zur Feststellung und Meldung von Tsunamis dient – besser bekannt unter der Bezeichnung DART-Boje –, ist ein schwimmender Ring von drei Metern Durchmesser, dessen Oberseite mit GPS-Antennen und Sensoren ausgestattet wurde und an dessen Unterseite sich zwei akustische Signalgeber befinden. Sie ist über eine Kette und mehrere fünfhundert Kilo schwere Anker mit dem Meeresgrund verbunden und dient dazu, die Stärke eines Tsunami auf dem offenen Ozean zu messen und die Daten als akustisches Signal an ein Tsunameter auf dem Meeresboden zu senden. Bei Empfang der Daten schickt das Tsunameter eine Vorrichtung aus schwimmenden Glaskugeln an die Meeresoberfläche, welche die Informationen über einen Iridium-Satelliten an die NOAA, die Überwachungsbehörde, die für die Ozeane und die Atmosphäre zuständig ist, senden.
Der Arm des Mega-Tsunamis, der auf diese DART-Boje zurast, ist der nördliche Ausläufer der Welle, die durch den Erdrutsch am Cumbre Vieja entstanden ist. Weil dieser Teil durch das nordwestlichste Ende von La Palma vom offenen Meer weggelenkt wurde, ist er der schwächste Arm der sich ausbreitenden Monsterwelle.
Die achtzehn Meter hohe Wasserwand saugt die DART-Boje in ihren Strudel mit der Wucht eines Passagierflugzeugs, das direkt neben einem Kinderwagen landet. Das Monster schleudert die Boje hoch in die Luft, bevor sie sie zu einem unförmigen Klumpen aus Aluminium und Plastik zusammendrückt.
NOAA-Tsunami-Frühwarnzentrum
Honolulu, Hawaii
Alexis Szeifert ist die Direktorin des ICG/NEAMTWS. Das aberwitzige Akronym ist eine Abkürzung für das von mehreren Nationen gemeinsam betriebene Tsunami-Frühwarnsystem, das den Nordatlantik, das Mittelmeer und die angrenzenden Meere überwacht. Während die Abteilungen des TWS, die für den Pazifik und den Indischen Ozean verantwortlich sind, über zahlreiche Mitarbeiter verfügen, an deren Spitze ein Direktor und drei stellvertretende Direktoren stehen, stellt Alexis bereits die halbe Belegschaft der Nordatlantikgruppe dar, denn die beiden anderen Seismologen, die hier angestellt sind, arbeiten nur halbtags. Zwar ist Alexis einerseits froh darüber, dass es in ihrer Arbeit nicht allzu hektisch zugeht, aber andererseits hat sie schon zweimal einen Versetzungsantrag gestellt, weil sie ihre Talente gerne sinnvoller einsetzen würde.
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und liest zum dritten Mal den wirren seismologischen Bericht, der von den Kanarischen Inseln eingetroffen ist, wobei sie die Daten über das vulkanische Epizentrum genau unter die Lupe nimmt.
Cumbre Vieja. Es ist schon eine ganze Weile her, seit dieser Vulkan zuletzt ausgebrochen ist. Eigentlich keine seismischen Folgen, über die man sich Gedanken machen müsste. Und doch …
Sie betrachtet den Zeitpunkt der Eruption und berechnet den Weg und die Geschwindigkeit eines möglichen Tsunami. Auf ihrem interaktiven Bildschirm klickt sie die Westküste Afrikas an und zoomt sich an die Kanarischen Inseln heran. Sie lokalisiert La Palma und sieht, dass sich eine DART-Boje auf der Route befindet, die die Geisterwelle nehmen würde.
DART A-114………… STATUS: OFFLINE.
Offline? In den letzten sieben Jahren war es noch kein einziges Mal vorgekommen, dass eine DART-Boje nicht auf einen Befehl reagiert hätte. Auf dem offenen Meer waren Tsunamis einen halben bis höchstens einen Meter hoch und gewiss nicht mächtig genug, um eine Boje oder ihr akustisches System zu beschädigen. Selbst in den schlimmsten Stürmen war die Messvorrichtung noch nie zusammengebrochen. Es musste etwas ganz Außergewöhnliches passiert sein.
Sie überlegt, ob sie die technische Abteilung verständigen soll, als ihr ein beängstigender Gedanke kommt.
Cumbre Vieja war nicht einfach nur ein gewöhnlicher Vulkan.
Das Herz hämmert ihr in der Brust, als sie sich den seismischen Bericht noch einmal vornimmt und nach Informationen über einen möglichen Erdrutsch durchsieht.
Nirgendwo ist etwas erwähnt. Andererseits, wenn die Eruptionen noch nicht zu Ende sind, könnte es Tage, wenn nicht Wochen dauern, um den wirklichen Schaden festzustellen. Ihr fällt der Lieblingsausspruch ihres Vorgesetzten wieder ein: »Bete um das Beste, bereite dich vor auf das Schlimmste.« Nur dass das Schlimmste, was von La Palma ausgehen könnte, ein globaler Alptraum ist.
Ihre Finger tanzen über die Tastatur. Eilends gibt sie ihren Benutzernamen und ihr Passwort ein, während sie zu einem der NOAA-Satelliten Kontakt aufzunehmen versucht, die den Planeten umkreisen.
ZUGANG VERWEIGERT: SYSTEM IN VERWENDUNG.
Sie springt von ihrem Stuhl auf und schreit über die Stellwände, die ihren kleinen Arbeitsbereich umgeben, hinweg: »Wer zum Teufel zapft da gerade GOES an?« Das ganze gut besetzte Büro kann sie hören.
Ein paar Köpfe drehen sich zu ihr um. Niemand antwortet.
»Verdammt nochmal, wer es auch immer ist, der sich mit diesem Ding irgendeinen Nacktbadestrand ansieht, der sollte sich besser ausloggen, bevor ich mit Schreibtischen um mich werfe!«
»Alexis, wo ist das Problem?«
Sie dreht sich um, und ihr Vorgesetzter steht neben ihr. Jeramie Wright ist ein hundertdreißig Kilo schwerer ehemaliger Kampfsport-Champion, der auf einer bis zehn reichenden Einschüchterungsskala einen Wert von 9,7 erreichen würde.
»Sir, ich brauche Zugang zu …«
»Zu GOES. Ja, wir alle haben Sie gehört. Doch falls Sie es noch nicht gehört haben: Jeder Sektor außer Ihrem ist seit heute Morgen um sechs Uhr in höchster Alarmbereitschaft. Wir untersuchen alleine im Pazifischen Feuerring über einhundert Vulkanausbrüche, und ich habe bereits sieben Tsunami-Warnungen für den westlichen Pazifik herausgegeben. Ich brauche Sie in der Arbeitsgruppe, die die mögliche Entstehung einer Welle vor Sumatra überwacht …«
»Sir, ich untersuche bereits ein möglicherweise gefährliches Ereignis – Cumbre Vieja.« Sie zeigt ihm den Bericht. »Ich habe die nächstgelegene DART-Boje überprüft, die in der Richtung liegt, die das Ereignis wahrscheinlich nehmen würde. Die Boje funktioniert nicht.«
»Das System ist völlig überlastet. Warten Sie eine halbe Stunde und versuchen Sie es dann nochmal. Melden Sie sich unterdessen bei Bonnie Fleanor. Sie braucht Ihre Hilfe.«
»Eine halbe Stunde ist zu spät, Sir, bitte … Ich weiß, dass die Sache umstritten ist, aber Cumbre Vieja gilt immer noch als potenzieller Auslöser für einen Mega-Tsunami. «
»Es würde zu lange dauern, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen.« Ihr eindringlicher Blick lässt seinen Widerstand schwinden. »Wo ist die nächste DART-Boje auf der Route, die das Ereignis nehmen würde?«
»Weit draußen, mitten im Atlantik. Deshalb brauche ich Zugang zu GOES. Wenn die Eruption zu einem Erdrutsch geführt hat, dann müsste die Satellitenüberwachung das aufgezeichnet haben.«
Jeramie beugt sich über ihre Schulter und gibt mit Hilfe ihrer Tastatur seinen eigenen Benutzernamen und sein Passwort in ihren Computer ein. »Sie sind drin. Beeilen Sie sich.«
Auf dem Bildschirm baut sich der Zugang zum Geostationary-Operational-Environmental-Satellite-Netz- werk auf, abgekürzt GOES. Sie gibt den Längen – und den Breitengrad von La Palma ein, und das System verbindet sie mit GOES-15.
Ihr Vorgesetzter bleibt in der Nähe, als eine Echtzeitaufnahme von Westafrika auf ihrem Bildschirm erscheint. Mit ihrer Maus bewegt sie die Bordkamera des Satelliten, der sich auf einer festgelegten Umlaufbahn befindet, so weit nach Westen in Richtung Atlantik wie möglich. Dann holt sie mit dem Zoom drei der größten Inseln im Osten der Kanaren heran, denn La Palma selbst liegt zu weit im Westen. »Sir, La Palma liegt in einem blinden Fleck. Was soll ich tun?«
»Vergessen Sie das Überwachungsband. Geben Sie die Koordinaten der ausgefallenen DART-Boje ein.«
Sie tut es, und das System verbindet sie mit GOES-12. Das neue Satellitenbild zeigt im Osten Teile Spaniens und des Mittelmeeres. Wieder lenkt sie die Kamera nach Westen und sucht mit Hilfe einer Linse, die auf eine Beobachtungshöhe von sechshundert Metern eingestellt ist, den scheinbar endlosen blauen Ozean ab, der auf ihrem Bildschirm erscheint. Dann bewegt sie sich entsprechend der Koordinaten der DART-Boje nach Nordosten.
Eine dünne, weiße, bogenförmige Linie erscheint, die inmitten des gewaltigen blauen Ozeans kaum zu erkennen ist.
Sie zoomt sich heran, bis die Linie zu einer sich bewegenden Wassermasse wird, die keine erkennbare Rückseite hat und auf die Küste Großbritanniens zurast.
»Oh Gott.« Jeramie Wright starrt das Ding auf dem Bildschirm an, während seine Hände das Kommunikationsgerät in seinem Ohr aktivieren. »Hier Wright. Wir verfolgen einen Mega-Tsunami im Nordatlantik, und zwar … Szeifert?«
»Siebenundvierzig Komma fünf Grad Nord, vierzehn Grad West, einhundertzweiunddreißig Seemeilen südwestlich von Großbritannien. Die Geschwindigkeit beträgt 835 Kilometer pro Stunde, geschätzte Höhe etwa neunzehn Meter. Sofern es bei dieser Geschwindigkeit bleibt, wird die Welle in dreiundzwanzig Minuten Cornwall erreichen.«
»Haben Sie alles mitbekommen, Davis? Geben Sie eine Tsunamiwarnung für Cornwall raus. Versuchen Sie, Direktor Turzman vom Heimatschutzministerium zu erreichen, und stellen Sie ihn so schnell wie möglich zu mir durch.«
Der Leiter des NOAA-Tsunami-Frühwarnzentrums mustert seine Abteilungsleiterin. »Gute Arbeit, Alexis. Unglücklicherweise wissen wir beide, dass dieser Teil der Welle im Vergleich zu ihrem großen Bruder, der auf die Vereinigten Staaten zurast, fast bedeutungslos ist. Ich will, dass die Hauptwelle innerhalb der nächsten fünf Minuten lokalisiert ist und auf dem Hauptbildschirm erscheint.«
»Ja, Sir.«
Yellowstone Park, Wyoming
Nachdem das Monster einmal entfesselt war, konnte es niemand mehr stoppen.
Geschmolzenes Magma, das reich an Kieselerde war, hatte sich über Jahre hinweg im Bauch des schlafenden Giganten entwickelt und sich mit Wasser und flüchtigen Gasen in der oberen Region der achttausend Quadratkilometer großen unterirdischen Kammer vermischt. Diese Gas-Magma-Mischung ließ den Lavasee aufquellen, bis er die gesamte unterirdische Höhle ausfüllte und der Druck der aufsteigenden Gase und die Hitze von fast eintausend Grad stärker waren als das Gewicht des zwölf Kilometer dicken Felsgesteins, das über 600 000 Jahre lang wie ein Korken auf der Caldera gesessen hatte.
Mit dem Dröhnen von eintausend Hiroshima-Bomben war das Monster ausgebrochen.
Flüssiges Feuer schoss in den Himmel und verbrannte Luft, Erde und jedes Lebewesen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern. Dicke, graubraune Aschewolken stiegen in die Atmosphäre auf, als kämen sie direkt aus dem Hades. Aufgrund der vorherrschenden Südostwinde bedeckte der Vulkanstaub rasch die Staaten Wyoming, Colorado, Nebraska und Kansas mit seinem giftigen grauen Schnee.
Während der ersten Stunde floss die pyroklastische Lava schneller als die lokale Bevölkerung fliehen konnte. Geschmolzener Asphalt ließ Reifen schmelzen. Feuer verwandelte Autos in riesige Molotow-Cocktails. Bäume, Häuser und andere Gebäude brannten, als stünden sie mitten in einem riesigen Hochofen.
Die in Panik versetzten Bewohner der Staaten des Mittleren Westens packten eilends ihre Habseligkeiten zusammen, luden sie in Geländewagen und andere Fahrzeuge und beteten, dass die Behörden ihnen sagen würden, in welche Richtung sie fliehen sollten. Nach Westen jedenfalls nicht, denn dort zerstörten Erdbeben Los Angeles und San Francisco und verwandelten den San-Andreas-Graben in die immer größere Lücke zwischen zwei gewaltigen Puzzleteilen.
Vier Stunden, nachdem sich das Becken des Yellowstone Lake angehoben hatte, als sei Poseidon selbst am Werk, war jeder Highway, der westlich des Mississippi in Richtung Osten führte, von Fahrzeugen verstopft, die sich mühsam Stoßstange an Stoßstange vorwärtsschoben. Alle Inlandsflüge waren wegen der Asche annulliert worden. Es war zu gefährlich zu fliegen.
Die Amerikaner, die an der Ostküste lebten, schauderten angesichts der Aufnahmen, die über ihre Kommunikationsbildschirme flackerten. Aus Angst vor den Dingen, die vielleicht noch kommen mochten, stürmten viele die Lebensmittelgeschäfte, um Nahrungsmittel zu horten. Andere warteten in langen Schlangen darauf, Munition kaufen zu können. Alle dankten ihrem Schöpfer, dass sie nicht im Westen lebten; sie weigerten sich auch dann noch zu akzeptieren, dass alle im selben Boot saßen, als das Riesenschiff Erde längst leck geschlagen war und immer mehr Wasser eindrang.
Weißes Haus
Andrew Morgan Hiles ist nach Präsidentin Heather Stuarts tödlichem Schlaganfall noch nicht einmal fünfundvierzig Tage im Amt. Der ehemalige Vizepräsident hat das Gefühl, als balanciere er auf einem Baumstamm in einem Fluss, wobei er auf jede globale Warnung mit einem prekären Schritt reagieren muss, der die gesamte Zivilisation in den Abgrund stürzen kann. Er hat die Frage: »Ist dies das Ende der Welt« schon so oft so vielen verschiedenen aschfahlen Mitarbeitern gestellt, dass er die Kursänderung der Menschheit schließlich akzeptiert hat und sich ganz auf den Versuch zu überleben konzentriert.
Kursänderung der Menschheit? Sein Pressesprecher hatte diese Wendung geprägt, unter Tränen. Als hätten die Caldera, die Erdbeben und die normalen Vulkane nicht schon genügend Menschenleben gefordert, war ihm jetzt mitgeteilt worden, dass ein fast einhundert Meter hoher Mega-Tsunami auf die Ostküste zuraste und in weniger als einer Stunde New York erreichen würde. Den ganzen Tag ging das schon so; jedes Szenario … war einfach Wahnsinn. Hatte er diesen Alptraum nicht schon Dutzende Male im Kino gesehen?
Er hatte seine Rolle als Präsident ausgefüllt und zugehört, wie seine Berater über das Schicksal von fünfzig Millionen Amerikanern diskutierten, die an der Atlantikküste lebten; er war dabei, als sie sich darüber stritten, ob sie riskieren sollten, eine bereits panische Menge noch mehr in Panik zu versetzen, indem man sie über den erwarteten Mega-Tsunami informierte. Die meisten seiner Berater waren dagegen, doch er hatte sie überstimmt.
Aber so grauenvoll die Welle auch war, die Caldera machte ihm mehr Sorgen, denn die Wissenschaftler hatten einen nuklearen Winter von sieben bis zehn Jahren Dauer vorhergesagt. Mehrere Lastwagen mit Dosennahrung und anderen Vorräten waren unterwegs zum Mount Weather, einer unterirdischen Einrichtung, in der er und seine Familie sowie die übrigen einflussreichsten Politiker die Vernichtung überleben würden. Im Augenblick jedoch musste er ganz als Präsident und als Teamspieler auftreten, der der Menschheit versichert, dass das Leben weitergeht und dass Gott auf ihrer Seite steht – was er selbst dann noch tut, als er zu seinem Hubschrauber eskortiert wird, der ihn in einem zwanzigminütigen Flug nach Virginia bringen soll.
Sein Verteidigungsminister begrüßt ihn knapp. »Die Vorbereitungen laufen, Mr. President. Wir werden die Rede heute Abend aus der Einrichtung im Mount Weather senden.«
»Was ist mit meiner Familie?«
»Schon vor Ort. Jeder auf der Liste befindet sich in der Einrichtung, das wurde inzwischen überprüft. Mit Ausnahme von Ken Mulder.«
»Ken ist nicht dort?«
»Nein, Sir. Der Stabschef musste zurück nach Florida. Anscheinend geht es seiner Frau nicht gut.«
»Seiner Frau? Ich dachte, die wohnt in Illinois?«
Cape Canaveral, Florida
Route 528, auch bekannt als die pittoreske A1A, führt von Cocoa Beach über den Indian River, Merritt Island und den Banana River bis zu dem am Ozean gelegenen Gebäudekomplex von Cape Canaveral. Auch hier schiebt sich der Verkehr nur mühsam Stoßstange an Stoßstange in beide Richtungen. Pendler versuchen verzweifelt, mit ihren Fahrzeugen nach Westen zu gelangen, um die Insel zu verlassen, bevor diese von einer Welle, die weit über ihre Vorstellungskraft hinausgeht, verschlungen wird. Gleichzeitig rollen andere langsam nach Osten, um den HOPE-Raumfahrtkomplex zu erreichen, wo sie eines der Raumschiffe besteigen wollen, um von diesem Planeten zu fliehen, bevor dieselbe Monsterwelle sämtliche Shuttles der Marskolonie vernichtet.
Kyle Hall war seit seinem siebzehnten Lebensjahr in der Army. Der Hauptmann der Reserve wurde dazu ausgebildet, mit dem Chaos zurechtzukommen, doch was er jetzt als Sicherheitschef von HOPE vor sich sieht, geht weit über das hinaus, was er bei militärischen Aktionen miterlebt hat. In weniger als neunzig Minuten muss er dafür sorgen, dass achthundert Passagiere an Bord der zwölf Mars-Shuttles gelangen und die Maschinen starten. Dabei stehen ihm nur Mitglieder des Bodenpersonals und der Sicherheitskräfte zur Verfügung, die genau wissen, dass sie in der Todeszone eines Mega-Tsunamis arbeiten. Seine Probleme werden noch dadurch vergrößert, dass Lilith Mabus, die Vorstandsvorsitzende, die Kapazitäten der Raumschiffe um mehr als tausend Prozent überbucht hat. Bequemerweise sind weder Lilith noch ihr Sohn vor Ort, um sich den Konsequenzen dieses Verhaltens zu stellen, so dass Kyle gezwungen ist, alleine mit neuntausend der mächtigsten, korruptesten, egozentrischsten und gefährlichsten Menschen des Planeten fertigzuwerden, die allesamt gewaltige Summen für sich und ihre Lieben bezahlt haben, um den Rest ihrer Tage auf dem Mars zu verbringen.
Das Zahlenverhältnis zwischen Opfern und vielleicht zu Rettenden ähnelt dem, das an Bord der sinkenden Titanic geherrscht haben musste, als es zu wenig Rettungsboote gab, nur dass jetzt keine Rede von männlicher Ritterlichkeit sein kann, die es dem Kapitän damals noch erlaubt hatte, Frauen und Kinder zuerst in Sicherheit zu bringen. Deshalb hat sich Kyle für eine Kombination aus Bestechung und radikalen Einschnitten entschieden, um mit der Situation fertigzuwerden. Den zwölf unverzichtbaren Mitgliedern der Flugkontrolle hat er die Wahl zwischen einem Platz im letzten Shuttle oder 5 Millionen Dollar überlassen, wenn sie – angesichts des voraussichtlichen Eintreffens des Tsunami um 17:19 Uhr – bis Punkt fünf Uhr arbeiten. Seinen zweihundert schwer bewaffneten Sicherheitsbeamten hat er pro Mann einhunderttausend Dollar plus einen sicheren Abflug aus dem Raumfahrtkomplex in Liliths Boeing 787 um 17:05 Uhr angeboten.
Mit Ausnahme dreier Soldaten waren alle Sicherheitskräfte bereit zu bleiben.
Was die Shuttle-Passagiere betraf, so hatte Lilith bereits eine Liste zusammengestellt, auf der sich vor allem die Namen von Wissenschaftlern, medizinischem Personal, landwirtschaftlichen Fachkräften und Ingenieuren befanden. Alle diese Personen lebten schon seit Wochen in Wohnheimen innerhalb des Raumfahrtkomplexes. Darüber hinaus waren diese achthundertzwölf Männer und Frauen, das lebensnotwendige Blut der Marskolonie, bereits mit Bussen zu ihrem jeweiligen Shuttle-Hangar gebracht worden. Die Politiker und Bankiers, die Wall-Street-Heroen und Ostküsten-Aristokraten sollten zu mehreren der neun kleineren Wartungshangars gebracht werden, wo man sich in angemessener Weise um sie kümmern würde.
Ken Mulder sitzt wie ein Gefangener auf der Rückbank der Limousine. Seine Tochter schreit ihn an, sein Sohn schreit seine Geliebte an, sein Fahrer drückt auf die Hupe und droht, das Fahrzeug zu wenden, falls sich der Verkehr in Richtung Osten innerhalb der nächsten fünf Minuten nicht bewegt.
Der Stabschef des Präsidenten schiebt sich eine weitere Valium in den Mund und starrt auf seine Uhr. Zwölf Minuten nach vier. Noch siebenundsechzig Minuten, bis diese gottverdammte Welle zuschlägt. Wie, zum Teufel, will Lilith innerhalb von siebenundsechzig Minuten dafür sorgen, dass alle Passagiere an Bord gelangen und die Shuttles starten?
Seine siebzehnjährige Tochter packt ihn am Arm; Tränen stehen in ihren Augen. »Wie konntest du das Mom nur antun?«
»Was antun? Bin ich etwa schuld daran, dass die Caldera explodiert ist? Bin ich etwa schuld daran, dass ihr Flug gestrichen wurde?«
»Und so hast du einfach deine Hure mitgebracht?«
»Pass auf, was du sagst, Schätzchen.« Die neunundzwanzig Jahre alte, wasserstoffblonde Fiona Chatwin deutet mit dem Finger auf das Mädchen, wobei eine chinesische Tätowierung über ihrer rechten Brust sichtbar wird. »Es war dein Vater, der diesen Trip organisiert hat, nicht ich.«
»Red nicht so mit meiner Schwester.«
»Haltet die Klappe! Alle!« Mulder reibt sich das linke Auge, um seine hämmernde Migräne zu vertreiben. »Seht euch doch um. Überall sterben Menschen, und schon bald werden noch sehr viel mehr tot sein. Für mich ist es ein unfassbarer Segen, dass ich uns eine sichere Passage zur Marskolonie besorgen konnte. Unsere vier Tickets und die Plätze in der Kolonie selbst sind mindestens zehn Milliarden Dollar wert. Ja, ich weiß, ihr hättet gewollt, dass eure Mutter hier ist, aber sie ist nun mal nicht hier. So sieht’s aus. Seien wir einfach dankbar dafür, dass …«
»Ich gehe.« Amanda Mulder öffnet die Tür und steigt mitten auf dem Highway aus.
»Verdammt.« Ken schiebt sich gerade noch rechtzeitig ins Freie, um zu sehen, wie der Teenager irgendwo in der endlosen Autoschlange verschwindet. Er will ihr nachlaufen, als sich der Verkehr vor ihnen plötzlich in Bewegung setzt. Leise vor sich hin fluchend steigt er wieder ein. Ihr Wagen fährt immer schneller über die erhöhte Fahrbahn.
Sein Sohn starrt ihn schockiert an. »Das war’s? Du lässt sie einfach so gehen?«
»Ruf sie auf ihrem Handy an. Sag ihr, dass sie bitte zurückkommen soll, bevor die Welle zuschlägt. Ich werde am Haupttor auf sie warten.«
Die Limousine folgt den anderen Wagen in einen abgezäunten Bereich, wo mehrere Teams bewaffneter Sicherheitskräfte die Passagiere rasch auf eine Reihe wartender Transportbusse verteilen.
Ein Soldat tippt an Mulders Fenster. »Ich brauche Ihre Namen und Ihre Identifikation.«
»Ken Mulder, Stabschef im Weißen Haus. Ich habe vier bestätigte Tickets, aber meine Tochter …«
Der Soldat spricht in sein Mikrofon. »Bestätigung Mulder, vier Tickets. Sie fliegen mit Shuttle zwei. Verlassen Sie das Fahrzeug und begeben Sie sich in den Transportbus. Er wird Sie zum Hangar bringen. Kein Gepäck. Sie erhalten Ihre Flugkleidung an Bord. Beeilen Sie sich!«
»Warten Sie! Meine Tochter ist noch auf dem Weg hierher. Wir wurden getrennt.«
»Sie steht auf der Liste. Man wird sie zu Ihrem Shuttle führen, wenn sie eintrifft. Und jetzt beeilen Sie sich. Sie fliegen in dreißig Minuten ab.«
Energisch werden sie zum nächsten Bus in der Reihe gedrängt. Als Mulder einsteigt, sieht er, dass jeder Platz von einem arabischen Scheich belegt ist. Er greift nach einer Haltestange, als der Bus über die asphaltierte Zufahrt zu rollen beginnt. Sein Sohn zu seiner Linken starrt ihn kalt an, während ihn zu seiner Rechten …
… ein Chihuahua wütend anknurrt, der in der Schultertasche einer Frau steckt. »Wir haben für jedes unserer Tickets 275 Millionen Dollar bezahlt. Ich habe dem Sicherheitsbeamten gesagt, wenn ich meinen Hund nicht mitnehmen darf, dann muss mir seine Chefin unverzüglich mein Geld zurücküberweisen. Das hat ihn überzeugt.«
Mit quietschenden Reifen bringt der Fahrer seinen Bus vor einem drei Stockwerke hohen Aluminiumgebäude aus Fertigteilen zum Stehen.
»Shuttle eins. Beeilen Sie sich und achten Sie auf die Stufe.«
Die arabischen Scheichs schieben sich nach draußen.
Die Frau mit dem Hund – sie trägt einen Zehn-Karat-Diamantring und eine dazu passende Halskette – sagt murmelnd zu ihrem Begleiter: »Jemand muss den Saudis mal sagen, dass es auf dem Mars kein Öl gibt.«
Der Bus fährt weiter und hält nach einer halben Meile erneut. »Shuttle zwei. Achten Sie auf die Stufe.«
Mulder nimmt Fiona am Arm und führt sie rasch aus dem Bus, während Floridas Nachmittagssonne heiß auf sie niederbrennt. Bewaffnete Sicherheitskräfte winken sie einen Fußweg entlang, der in das Gebäude führt.
In der Baracke ist es dunkel – es handelt sich um eine Sporthalle mit acht Maschinen zum Gewichtheben und einem Basketballfeld in Turniergröße. Weit über einhundert Personen gehen ziellos auf und ab, während über ihnen auf einem großen Bildschirm die Endlosschleife eines kurzen Lehrfilms abläuft, der darstellt, wie man die Sicherheitsgurte der Shuttlesitze korrekt anlegt.
Mulder sieht nach, wie spät es ist. 16:27 Uhr. Voller Schuldgefühle wendet er sich an seinen Sohn. »Ich gehe zurück und hole deine Schwester. Bleib bei Fiona.« Noch bevor seine Geliebte protestieren kann, geht er zur Tür – doch die ist von außen verriegelt.
Mérida Airport, Halbinsel Yukatan
Der Aerion Supersonic Business Jet steigt in den bedeckten Himmel über dem Golf von Mexiko auf und erreicht innerhalb kürzester Zeit eine Geschwindigkeit von Mach 1,8. Das wie ein weißes Stilett mit kleinen Flügeln und einem Heck geformte Passagierflugzeug kostet 89 Millionen Dollar. Es bietet Platz für zwölf Reisende und kann den Atlantik innerhalb von zwei Stunden überqueren. Es verfügt über eine Reichweite von 9000 Kilometern und ist in der Lage, auf den meisten Flughäfen zu landen.
Lilith hatte den Jet aus HOPEs Weltraumzentrum in Houston zum Manuel Crescencio Rejón International Airport in Mérida geordert, während sie und Manny im Taxi saßen, das sie innerhalb von vier Stunden von Palenque zum Flughafen brachte. Erst bei ihrer Ankunft dort hatten sie von der Explosion der Caldera und dem Mega-Tsunami erfahren, der auf die Ostküste Nord-und Südamerikas zuraste.
Manny liest die neuesten Berichte auf dem Monitor, der in seinen Smart-Ledersessel eingebaut ist, und dreht sich dann zu der Schönheit mit dem ebenholzfarbenen Haar, die neben ihm in der schmalen Kabine sitzt. Nach der langen Reise sind beide Hunahpu verschwitzt, und dieser Schweiß, der voller Pheromone ist, stellt ein mächtiges Aphrodisiakum dar.
»Laut den neuesten Berichten wird die Welle in siebenundzwanzig Minuten Florida erreichen. Das schaffen wir nie.«
»Doch, das schaffen wir.« Lilith löst die Sicherheitsgurte und setzt sich in seinen Schoß. »Ich habe mit meinem Sicherheitschef gesprochen. Sie halten das letzte Shuttle für uns zurück.« Sie küsst ihn. Ihre Zunge schiebt sich tief in seinen Mund, und ihre Finger öffnen seinen Gürtel.
Blind vor animalischer Lust hebt er ihren Rock, seine Hände streicheln ihren Hintern. Plötzlich reißt er ihren String herunter und dringt in sie ein. Sie drückt ihr Becken gegen ihn und stöhnt in seinen Ohren. Die sinnlichen Freuden rauben den beiden fast den Verstand, als Lilith abrupt innehält. Ihre Augen sind voller Furcht.
»Was ist los?«
»Er beobachtet uns.«
»Devlin?« Manny sieht sich in der Kabine um. »Wie?«
»Er sieht mit meinen Augen.«
Atlantik
Die Welle hatte England mit der Wucht eines vierstöckigen Güterzugs getroffen, hatte Docks und Wohnhäuser, Ladenfronten und alle möglichen Gebäude zerschmettert und dabei Siedlungen und ganze Dörfer in Cornwall unter einer erbarmungslosen Wasserwand begraben, die erst anderthalb Kilometer hinter der zerstörten Küstenlinie abflaute.
Trotz all dieser Verheerungen war das nur ein Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen sollten.
Der Mega-Tsunami, der vor der westafrikanischen Küste entstanden war, bildete eine sich ausbreitende, zweihundertsiebzig Grad umspannende Wand tobenden Wassers, die sich mit der Geschwindigkeit eines Passagierflugzeugs fortbewegte. Sie war drei Stockwerke hoch, und ihre Energie entsprach 10 000 Atombomben zu je fünfundzwanzig Megatonnen.
Bogenförmig von den Kanarischen Inseln ausgehend, krachte sie über Westafrika nieder und verwandelte den Sand der westlichen Sahara in Schlamm.
Sie strömte ins Mittelmeer, wobei sie wie ein riesiger Hammer auf Gibraltar einschlug und jeden Ausflugsdampfer zum Sinken brachte, der auf ihrer Route lag.
Als sie den Atlantik überquerte, verschluckte sie Tanker und Kreuzfahrtschiffe mit der brutalen Effizienz eines Trucks, der einen Radfahrer überrollt. Sie trieb eine ganze Trägergruppe der amerikanischen Marine vor sich her in den Hafen von Havanna, wo sie die einhundertfünfzig Jahre alten Überreste des Schlachtschiffs Maine vom Meeresboden hob und den halb verrotteten Stahlrumpf wie einen Rammbock benutzte, um einen amerikanischen Zerstörer, die USS George W. Bush, zu versenken.
Dreihundertfünfzig Kilometer vor der Nordostküste der Vereinigten Staaten fiel die Geschwindigkeit des Monsters abrupt um die Hälfte, als der untere Teil der Wassermassen gegen den amerikanischen Kontinentalsockel prallte. Während das Wasser dem ansteigenden Meeresboden folgte, bildete sich eine mehr als 140 Meter hohe Welle, deren bloßes Gewicht die nordamerikanische Kontinentalplatte erschütterte, während das Wasser donnernd auf die Küste zuraste.
Die Ferienorte an der Küste waren Geisterstädte. Die Ampeln an den Hauptverkehrsstraßen wechselten ihre Lichter zwar noch immer mit der Regelmäßigkeit fallender Dominosteine, und die Möwen erhoben sich noch immer in die nachmittägliche Luft, doch kurz vor fünf Uhr, als die Sonne golden erstrahlte, schien ein riesiges Sargtuch in der Luft zu hängen.
Stephen Stocker fällt auf, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, als er aus seinem einstöckigen Mietshaus in Margate, New Jersey, tritt. Der zweiundzwanzigjährige Student der Quantenphysik an der Atlantic City University finanziert sich das College, indem er während der Nachtschichten als Kartengeber beim Blackjack im Goldman-Sachs Riverboat Casino arbeitet. Erschöpft von der zurückliegenden Prüfungswoche hatte er so tief geschlafen, dass er das ständige Heulen der Sirenen und die Sondersendungen, die auf die Inselbewohner von Atlantic City, Ventnor, Margate und Long Port niedergeprasselt waren, nicht mitbekommen hat. Außerdem hatte ihn die Musik aus seinem sensorischen Kopfhörer vor dem Chaos abgeschirmt.
Stephen überquert die Atlantic Avenue und geht Richtung Strand. Er freut sich, dass ihm dabei nicht der übliche Verkehr in die Quere kommt. Er eilt den Aufstieg zur Strandpromenade hinauf, wobei er ein paar Tauben aufschreckt, die sich aus einem umgekippten Mülleimer bedienen, und steigt kurz darauf die fünf Stufen zum Strand hinab, während er sich fragt, ob er wie üblich drei Meilen joggen oder versuchen soll, seinen Schwimmstil zu verbessern. Er hat noch fünf Stunden frei, bevor er die Schicht von zwölf bis acht antreten muss. Weil er sein Handy verloren hat, weiß er nicht, dass alle Geschäfte geschlossen sind und das Hotelcasino, in dem er arbeitet, um Mitternacht schon lange nicht mehr existieren wird.
Heftige Windböen rasen über den Strand, und brennend bohrt sich der Sand in seine Haut. Stephen macht die ungünstige Witterung dafür verantwortlich, dass niemand badet, und entscheidet sich dafür, zu schwimmen anstatt zu joggen. An der Grenze zwischen trockenem und nassem Sand wirft er sein Handtuch über seinen Rucksack und stürzt sich dann in die Brandung.
Stephen duckt sich unter einer anderthalb Meter hohen Welle weg und beginnt, parallel zur Küste zu schwimmen. Er schafft zwanzig Schwimmzüge, bevor ihn die Unterströmung fast senkrecht nach oben drückt.
Das Wasser wird zu einem rasenden Fluss, der ihn hinaus ins Meer zieht. Als erfahrener Strandbesucher gerät der Collegestudent nicht in Panik, als ihm klarwird, dass er in einer Brandungsrückströmung feststeckt und er am besten dadurch entkommen kann, dass er nicht gegen den heftigen Sog ankämpft, sondern weiter parallel zur Küste schwimmt. Er senkt den Kopf und beginnt, mit kräftigen Zügen zu kraulen, doch das Wasser des Ozeans treibt ihn weiter nach Osten, so dass es nicht lange dauert, bis seine Knie auf dem Boden aufschlagen und er in einer Schlammpfütze liegt.
»Was ist das denn?«
Der Atlantik hat sich fast einen halben Kilometer weit zurückgezogen, und Stephens Handtuch und sein Rucksack befinden sich ein Footballfeld weit entfernt. Verdutzt steht er auf und dreht sich um, als der Schlamm zwischen seinen Zehen zu vibrieren beginnt und ein tiefes Grollen die Luft erfüllt. Als er sieht, was auf ihn zurollt, sträuben sich seine Nackenhaare, und seine Blase krampft sich zusammen.
Die Welle ist unfassbar massiv – eine majestätisch gewölbte Monstrosität, höher als das höchste Strandhotel – , und sie wächst immer weiter, bis sie zu einem Wasserberg wird, der innerhalb kürzester Zeit den blauen Himmel verhüllt. Der Meeresboden zittert unter dem sich nähernden Gewicht, und ein Gestank nach Meerestieren, Algen und Öl schlägt Stephen ins Gesicht. Das Dröhnen ist so gewaltig, dass es den jungen Mann mit absolutem Entsetzen erfüllt.
Stephens Geist ist vollkommen gelähmt; jeder rationale Gedanke an eine Flucht wäre allerdings ohnehin sinnlos. In einem letzten verzweifelten Versuch zu überleben, lässt sich der Physikstudent auf die Brust fallen und drückt die Arme bis zu den Ellbogen in den Schlamm. Dann dreht er den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Tränen strömen über seine Wangen, als der Atheist ein Gebet an seinen Schöpfer richtet, von dessen Inexistenz er seit langem überzeugt ist.
Der Mega-Tsunami hebt Stephen Stocker vom Meeresboden hoch und schleudert ihn in ihren rasenden Bauch, wobei die schiere Kraft des dunklen Wassers ihm die Arme aus dem Oberleib reißt. Eine Sekunde später kracht der Ozean gegen Beton und Stahl, reißt jedes Haus aus der Erde und macht Atlantic City dem Erdboden gleich. Die Wellenkrone stürzt hinab in die Bucht, wodurch eine zweite Welle entsteht, die jedoch gleich darauf von der ersten verschlungen wird.
Der Atlantik macht nirgendwo halt. Er strömt immer weiter ins Landesinnere, zerschmettert Mauthäuschen und Autogeschäfte, Malls und ganze Stadtviertel, bevor er sich in eine sechs Meter hohe Flutwelle verwandelt, die schließlich mehr als fünfundvierzig Kilometer westlich der ehemals berühmten Promenade von Atlantic City in der Erde versickert.
Cape Canaveral,
Florida
17:07 Uhr
Kyle Hall steht auf dem Grasstreifen, der zwei gewaltige Startbahnen aus verstärktem Beton trennt, während abwechselnd rechts und links von ihm die Mars-Shuttles in einem flachen Winkel in den Himmel aufsteigen wie in einem Ballett fliegender Elefanten aus Metall. Jedes Mitglied der schrumpfenden Herde schwebt langsam auf eine Höhe von dreitausend Metern, bevor seine Raketentriebwerke – begleitet vom Überschallknall – für einen viel steileren Flugwinkel sorgen.
In seinem Ohrhörer verkündet der Kontrollturm mit einem Knacken: »Shuttle sieben, Sie nehmen Startbahn Alpha. Shuttle acht, halten Sie sich bereit auf Startbahn Beta.«
»Kontrollraum, hier Direktor Hall. Das alles dauert viel zu lang. Verzichten Sie auf eine formelle Startfreigabe und schaffen Sie diese Wale innerhalb der nächsten neunzig Sekunden in die Luft.«
»Direktor Hall, hier ist Shuttle zwölf. Wir sind vollzählig. «
»Ist meine Familie an Bord?«
»Ja, Sir.«
»Ich komme.« Kyle Hall steigt in einen solarbetriebenen Golfkarren und rast die Startbahn hinab zu einem der zwanzig Konstruktionsgebäude. Er fährt durch die offenen Tore von VAB-12, durch die selbst King Kong gepasst hätte, bringt sein Gefährt schliddernd zum Stehen, springt heraus und steigt die motorisierte Zugangstreppe hinauf, die zur Passagiertür des drei Stockwerke hohen Mars-Shuttle führt.
Er sieht nach, wie spät es ist – 17:13 Uhr –, und sprintet ins Cockpit, wo ein Pilot und ein Navigator in größter Eile die Checkliste abarbeiten, während der Kapitän des Shuttles die Start – und Landemotoren anwirft, um die Maschine aus dem Hangar zu steuern.
Ein Copilot winkt Hall an die Kommunikationskonsole heran. »Sir, der Leiter des Kontrollzentrums hat eine Nachricht von einem anfliegenden Privatjet erhalten, bevor er seinen Posten verlassen hat.«
»Durchstellen.« Hall greift nach dem Kopfhörer und drückt ihn sich ans Ohr. »Lilith? Lilith, hier Kyle Hall, hören Sie mich?«
»Voraussichtliche Ankunftszeit in zwei Minuten. Wir werden direkt an den Hangar heranrollen. Welches VAB?«
Besorgt drehen sich die vier Piloten zu Hall um. Einige schütteln die Köpfe. »Sir, wir brauchen mindestens drei Minuten, um zur Startbahn zu rollen, und weitere zwei Minuten, bis wir in der Luft sind.«
»Er hat Recht, Sir. Wir können nicht warten. Wir müssen den Hangar jetzt verlassen.«
Die Stimme der Frau wird drängender. »Mister Hall, welches Konstruktionsgebäude sollen wir ansteuern?«
Kyle Hall starrt auf den Kopfhörer in seiner zitternden Hand. »Tut mir leid, Boss.« Er packt das Kabel und zieht den Stecker aus der Konsole.
Lilith knallt den Hörer auf die Gabel. Dann dreht sie sich dem Piloten zu, der im winzigen Cockpit neben ihr sitzt. Ihre türkisfarbenen Augen funkeln. »Landen Sie das Flugzeug. Wir haben immer noch genügend Zeit.«
Hilfesuchend sieht der Pilot nach hinten zu Manny.
»Ich sagte, landen Sie dieses verdammte Flugzeug!«
»Nein.« Mannys Blick konzentriert sich auf das Meer, auf dem am Horizont eine dunkelbraune Linie erscheint. »Wir kommen zu spät, Lilith.«
Ken Mulder holt mit der Feuerwehraxt aus und schlägt wieder zu. Ein weiterer Streifen Tageslicht fällt durch die aufgerissene Aluminiumwand in den Wartungshangar.
»Mach Platz, Dad.« Wieder tritt sein Sohn zu und bohrt so ein fast anderthalb Meter großes Loch in das dünne Metall. Einhundertzwanzig wütende Ticketbesitzer stürmen hinaus in den schwülen Floridanachmittag und sehen gerade noch, wie Shuttle zwölf nicht ganz einen halben Kilometer entfernt im Osten aus dem Hangar rollt.
»Los!«
Kapitän Brian Barker richtet die Nase seines Raumschiffs so aus, dass sie die orangefarbene Doppellinie von Startbahn Beta teilt. »Hier ist Kapitän Barker aus Ihrem Cockpit. Bereiten Sie sich auf den Start vor.« Seine digitale Zeitanzeige steht auf 17:16 Uhr, als er das wuchtige Shuttle auf der acht Kilometer langen Beton-Startbahn beschleunigt – und den Schub plötzlich abwürgen muss, weil Dutzende Menschen auf die Startbahn strömen, denen noch viel mehr Personen über die Grasflächen kommend folgen.
»Mein Gott, was soll ich tun?«
Kyle Halls Herz schlägt so heftig, dass er kaum atmen kann. »Nicht anhalten! Wir haben weniger als drei Minuten! «
Kapitän Barker lässt die Maschinen erneut aufheulen. Das Shuttle bewegt sich mit einem Ruck nach vorn, während seine Flügel hoch über die Köpfe der Menge hinwegschweben und das Vorderrad eine alte Frau mit ihrem Chihuahua überrollt.
Laut aufstöhnend lenkt Barker das Shuttle zuerst ganz an den rechten Rand der Startbahn und dann wieder nach links, bis die Menge hinter ihm liegt und er wieder auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigen kann.
17:18 Uhr.
»Siebzig Knoten … einundneunzig Knoten … zweihundertfünfundsiebzig Knoten. Komm schon, Mädchen, heb deinen dicken Arsch in die Luft!«
Das Shuttle löst sich vom Boden und beginnt seinen langsamen Aufstieg über der rasch zu Ende gehenden, nach Norden führenden Startbahn, als die turmhohe Welle kaum einen Kilometer entfernt im Osten gegen die Küste kracht und eine dreihundert Meter hohe Masse aus Sand und Meer in den Himmel schleudert. Über den Flügeln und der Frontscheibe des Shuttles entlädt sich ein Sturm aus Geröll, der dem Kapitän für einen Augenblick die Sicht nimmt, während die Maschine taumelnd auf eine Höhe von sechzig Metern steigt – und plötzlich von einem Wasserberg verschluckt wird.
Der Mega-Tsunami kippt Shuttle zwölf auf die Seite und schleudert es zurück auf die Startbahn. Der Backbordflügel bricht ab, die Maschine überschlägt sich mehrfach, die Treibstofftanks entzünden sich und explodieren in einem orangeroten Feuerball, der jedoch unter der tobenden Welle schnell wieder erlischt.
Das Überschallflugzeug kreist sechshundert Meter über dem heranbrausenden Atlantik, der nach Westen über Cape Canaveral, den Banana River, das Raumfahrtzentrum auf Merritt Island, den Indian River und das pittoreske Cocoa Beach hinwegströmt und eine Spur der Zerstörung hinter sich herzieht.
Lilith starrt nach unten; sie kann kaum noch atmen. Einrichtungen und Technik im Wert von mehreren Hundert Milliarden Dollar … Konstruktionsgebäude für Weltraumflugzeuge … fast zwei Jahrzehnte Weltraumtourismus und siebzehn Jahre harter Arbeit: Alles innerhalb von zwanzig Sekunden ausgelöscht.
Für Lilith Eve Mabus und ihren Hunahpu-Seelengefährten gibt es keine Zukunft.
HOPE existiert nicht mehr.