28

South Florida Evaluation and Treatment Center
Miami, Florida
21. September 2012

 

 

Dominique parkt ihren Roadster auf dem Mitarbeiterparkplatz; sie ist erschöpft, denn sie hat kaum geschlafen. Nachdem die beiden einführenden Orientierungswochen vorüber sind, soll heute ihr erstes reguläres Gespräch mit Samuel Agler stattfinden, und die Vorstellung, dem Patienten wiederzubegegnen, den die anderen Mitarbeiter den »Marsmenschen« nennen, macht sie beklommen. Wenigstens ist Freitag, und du hast das ganze Wochenende vor dir, um dich zu erholen.

Sie betritt das Gebäude, geht auf den Sicherheits-Checkpoint im Erdgeschoss zu und zuckt zusammen, als sie von Raymond Hughes begrüßt wird.

»Guten Morgen, Sonnenschein.« Der Gewichtheber mit der fassartigen Brust und dem kurzen roten Stoppelhaar samt passendem Ziegenbärtchen grinst sie von der anderen Seite des stählernen Sicherheitstors an, indem er seine gelblichen Zähne bleckt. »Raten Sie mal, was Sie dieses Wochenende tun werden.«

»Da brauche ich nicht zu raten. Ich werde das Wochenende auf Sanibel Island verbringen.«

»Lassen Sie’s sausen. Ich trete diese Woche bei einem Wettbewerb in South Beach an, und Sie sind mein Ehrengast. «

»Das ist wirklich verlockend, Ray, aber …«

»Was ist los? Bin ich nicht gut genug für Sie?«

»Ray, ich habe schon etwas vor. Dieses Wochenende werde ich meine Eltern besuchen. Vielleicht ein andermal, okay?«

»Ich nehme Sie beim Wort.« Er löst die elektrische Torverriegelung und lässt sie herein. »Ich habe auf dem Dienstplan gesehen, dass Sie für den Marsmenschen zuständig sind. Wenn da was aus dem Ruder läuft, lassen Sie’s einfach Ihren alten Kumpel Raymond wissen, damit der eine mitternächtliche Übungsstunde ansetzt.«

»Was ist denn das?«

»Eine Lektion nach Dienstschluss zum Thema Umgangsformen. «

»Danke, aber von so etwas halte ich nicht viel. Und Doktor Foletta auch nicht.«

Wieder entblößt ein Lächeln seine gelblichen Zähne. »Aber natürlich nicht. Nie im Leben.«

 

Der Aufzug bringt sie in den siebten Stock. Paul Jones begleitet sie durch die Sicherheitsschleuse und den Hauptkorridor hinab zu den Wohnräumen der Patienten.

»Dominique, vergessen Sie nicht, dass Sie diesmal sein Territorium betreten. Fassen Sie nichts an, lassen Sie sich nicht ablenken. Ich werde alles auf meinem Monitor mitverfolgen, aber wenn Sie sich in irgendeiner Weise bedroht fühlen, drücken Sie einfach zweimal auf dieses Gerät.« Er reicht ihr den Transponder. »Sie wollten die Peitsche. Hier haben Sie sie. Ein Doppelklick, und Sie verabreichen ihm 50 000 Volt.«

»Er ist ziemlich groß. Sind Sie sicher, dass das ausreicht, um ihn zu stoppen?«

»Sagen wir mal, wenn das nicht ausreicht, bleibt auf jeden Fall nicht viel übrig, mit dem er sich Ihnen nähern könnte.«

»Das war nicht unbedingt die Antwort, auf die ich gehofft hatte, Mr. Jones.« Mit dem Transponder in der Hand folgt sie dem Wachmann durch einen kleinen Flur, wo sie den mittleren der drei Abschnitte des Nordflügels betritt. Der Gemeinschaftsbereich ist leer.

Jones bleibt vor Zimmer 714 stehen und betätigt die Gegensprechanlage. »Ihre neue Praktikantin ist hier, um sich mit Ihnen zu unterhalten. Bleiben Sie auf dem Boden sitzen, wo ich Sie sehen kann.« Er entriegelt die Tür mit einer Magnetkarte.

»Noch irgendwelche letzten Ratschläge?«

»Wie ich schon sagte: Achten Sie darauf, dass er Ihnen nicht zu nahe kommt.«

»Die Zelle ist drei Meter lang. Was ist Ihre Definition von ›nahe‹? Wenn sich seine Hände um meinen Hals schließen?«

Sie betritt den Raum, dessen Ausmaße denen ihres Badezimmers entsprechen. Durch einen vertikal in einer der Wände verlaufenden, siebeneinhalb Zentimeter breiten Streifen aus getöntem Kunststoff strömt Tageslicht herein. Das Eisenbett ist im Boden verankert. Daneben befinden sich ein Tisch und mehrere Stühle, die ebenfalls im Boden festgeschraubt sind. An der Wand zu ihrer Rechten sind ein Waschbecken und eine Metalltoilette angebracht. Sie sind so ausgerichtet, dass der Zelleninsasse einen Rest von Privatsphäre bewahren und nicht vollständig durch den Türspion gesehen werden kann.

Die Bettwäsche wurde abgezogen. Samuel Agler sitzt auf der dünnen Matratze und einem Haufen Decken auf dem Fußboden. Sein Kopf ist nach vorn geneigt, als würde er schlafen.

Wachsam bleibt Dominique nahe der Tür stehen. »Guten Morgen, Mr. Balam. Es ist schön, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

Keine Reaktion, weder verbal noch telepathisch.

Sie mustert die Wand über seinem Kopf, die fast vollständig von einer selbst gezeichneten Weltkarte bedeckt ist. Farbige Punkte von der Größe eines Zehncentstücks finden sich scheinbar nach dem Zufallsprinzip verteilt überall auf dem Globus. Die ganze Karte ist von mathematischen Gleichungen umgeben, die sich auch über die drei übrigen Wände ziehen und den Notizen eines Einstein ähneln.

Über dem Bett befindet sich eine zweite Zeichnung, ein Dreizack. Die merkwürdige Darstellung ähnelt einer Mistgabel mit drei Zinken.

»Falls Sie es vergessen haben, mein Name ist Dominique Vazquez. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich in den nächsten sechs Monaten mit Ihnen arbeiten werde …«

Gedankenenergie strömt aus Samuel Aglers Geist wie ein schäumender Bergbach. Die Trauer und das Gefühl der Leere, die die Fluten mit sich führen, treiben ihr die Tränen in die Augen. Warum lässt du mich leiden? Befreie mich, damit ich noch einmal die Wärme von Kinich-Ahau auf meinem Gesicht spüren kann. Lass mich mit der Galaxie atmen, damit ich ein letztes Mal die Berührung meiner Seelengefährtin spüre, bevor der fünfte sonnenerhellte Kinich-Ahau endet und ich in die Hölle geschleudert werde.

Sie zögert. Dann konzentriert sie sich darauf, innerlich zu antworten. Wo ist deine Seelengefährtin?

Sie ist irgendwo in der Dunkelheit gefangen. Durch meine Sünden verankert in der elften Dimension. Erste Mutter, bitte – du hast die Macht, uns ins Licht zurückzuführen. Befreie mich, bevor das Böse unsere geteilte Seele bis in alle Ewigkeit befleckt. Öffne noch einmal mein vergängliches Gefäß, damit ich in Erfüllung meines Schicksals sterben kann und nicht in diesem Käfig. Bitte, Erste Mutter, ich erflehe von dir …

»Genug!« Sie reißt den Kopf zurück und unterbricht so den Fluss der inneren Stimme. »Ich meine, genug geschwiegen. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, und das kann ich nur tun, wenn Sie sich mit mir unterhalten … und zwar mit Worten. Laut.«

Er sieht mit leeren, eingesunkenen Augen zu ihr auf. Diese Augen sind wie schwarze Teiche, die Zeugnis ablegen über elf lange Jahre der Einsamkeit und schmerzlich eingeschränkter Sinneswahrnehmungen. Dominique ist tief erschüttert. Und in diesem kurzen Augenblick der Klarheit dringt ein tief in ihrer DNA verborgener Instinkt an die Oberfläche, dessen Wärme alle Vorurteile und Ängste hinwegfegt. Sie geht auf ihn zu, kniet neben ihm nieder, legt ihm die Arme um Kopf und Hals und drückt ihn an ihre Brust.

Die körperliche Berührung setzt eine elektrische Entladung frei, die so schnell und so erschreckend kommt, als verbinde man ein positiv geladenes Batteriekabel mit einem negativ geladenen Pol – und dabei werden Sams Synapsen mit Lichtgeschwindigkeit aktiviert. Die Entladung ist so mächtig, dass die Videoüberwachung der Zelle einen Kurzschluss erleidet und Dominique die Haare zu Berge stehen.

Wie ein verhungerndes Kind, das endlich Nahrung erhält, umarmt Samuel Agler die Frau, aus deren Leib er fünfzig Jahre zuvor geboren wurde … obwohl es in diesem Leib noch nicht einmal zur Empfängnis gekommen ist. Dominiques Flamme entzündet den inneren Docht seiner Psyche, und das ausgestrahlte Licht verdoppelt sich zwischen ihnen. Mehrere Minuten verharren sie beieinander, und strömende Energie erfüllt ihre Verbindung, bis ihre Körper sich so sehr erhitzt haben, dass es nicht mehr zu ertragen ist.

Sam rückt ein Stück von ihr weg. Für einen winzigen Moment strahlen seine Augen türkisblau.

Dominique bemerkt nichts davon, denn die unterbrochene Verbindung hat ihre Gedanken in ein Chaos gestürzt. Wer bist du?

Ich weiß es nicht mehr. Da sind so viele Stimmen, so viele Erinnerungen aus früheren Leben, an die ich mich nicht erinnern kann, doch ihren Verlust spüre ich in jedem wachen Augenblick.

Wer bin ich für dich?

Auch das weiß ich nicht. Aber ich habe deine Ankunft erwartet. Ich habe deine Aura gespürt, während die Frühjahrs-Tagundnachtgleiche näher gerückt ist. Wer auch immer du bist – irgendwie hast du es geschafft, mich aus den Tiefen der Unterwelt zu holen.

Das war ich nicht. Michael Gabriel hat mich geschickt.

Michael? Seine Augen werden immer größer. Plötzlich gibt es Dinge, deren er sich bewusst wird. Er kriecht auf allen vieren von ihr weg. Seine Gedanken rasen, während er versucht, mit diesem neuen Bruchstück seiner sich verändernden Realität zurechtzukommen.

»Samuel Agler. Lauren und Sam. Laura und Sam und doch nicht Sam. Nicht Sam. Wer bin ich?« Als sei ein innerer Damm gebrochen, strömt Angst über die Schranken seines neuen Bewusstseins hinweg. »Sam und Laura … und Sophia! Sie haben meine Familie!« Er stürmt zu dem schmalen Kunststofffenster, rammt seine Faust hindurch und schreit ins Tageslicht hinaus: »Laura! Sophia! Ich komme!« Wie ein tobender Stier wirft er sich gegen die Tür. Immer wieder kracht er mit seinem hundert Kilo schweren Körper gegen den Stahl, bis sich die Türangeln zu verbiegen beginnen.

Zapp!

Elektrischer Strom rast durch seinen Körper und lässt ihn erstarren.

Er schüttelt seine Benommenheit ab, und ein zweiter elektrischer Schlag trifft ihn.

Sam schwankt. Seine Muskeln versagen. Speichel tropft aus seinem wild zuckenden Mund.

Er knickt in den Knien ein und stürzt schweißüberströmt wie ein gefällter Baum mit zitternden Armen und Beinen auf die dünne Matratze.

2012 - Die Prophezeiung - Alten, S: 2012 - Die Prophezeiung - Phobos
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