11

»Die Zukunft existiert nicht, oder wenn sie existiert, dann ist sie sozusagen umgekehrt veraltet. Die Zukunft läuft immer rückwärts. Unsere Zukunft neigt dazu, prähistorisch zu sein.«

ROBERT SMITHSON

 

 

Die Angst hatte ihn bis über die Grenzen seiner psychischen Gesundheit hinausgetrieben. Sie flüsterte in seinem Kopf und lauerte wie ein Folterknecht ständig in den Schatten seines Geistes. Sie kroch ihm unter die Haut und erstickte alles rationale Denken. Unter dem Einfluss der von Medikamenten herbeigeführten Narkose verzerrte sie seine Kindheitserinnerungen zu einer Reihe von Szenen, die seine ohnehin geschädigte Seele mit einem noch tieferen Schrecken erfüllten: Mengele, der in seinem Labor in Auschwitz genetische Experimente an Zwillingen durchführt; ein katholischer Priester, der ihn aus den Tiefen einer leeren Kirche heraus mit einem Blick anstarrt, der dem Nosferatus gleicht. Jeder Traum endete in einem Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, und jeder Schrei löste einen weiteren Faden aus dem Gewebe seiner Existenz, bis seine Identität nur noch aus nacktem Entsetzen bestand.

Wach auf!

Die Flammen in seinem Gehirn erlöschen, so dass die weißglühenden Synapsen sich abkühlen können. Von einer beruhigenden Stille umfangen, kriecht sein Geist aus seiner Muschelschale und erkundet eine Existenz, in der das dämonische Locken seines Folterknechts verstummt ist.

Er öffnet die Augen. Alles um ihn herum ist fahlgrau. Er weiß nicht, wo er ist, wer er ist oder wie er an den Ort kam, an dem er sich befindet. Er steht aufrecht. Seine nackten Füße stemmen sich gegen die raue Erde, seine Hände ertasten Felsgestein über seinem Kopf. Um ihn herum flüstert ein kühler Wind. Er geht in die Richtung, aus der er weht, durch einen gewundenen, aufsteigenden Tunnel, bis er über sich ein strahlend weißes Licht sieht. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Helligkeit, während er immer weiter nach oben klettert.

Das Leuchten erweist sich als Tageslicht unter einem wolkenlosen blauen Himmel.

Er klettert aus der Höhle und starrt verwundert auf eine Reihe schneebedeckter Berge am Horizont. Er befindet sich in großer Höhe, und es ist schneidend kalt. Die Temperatur beträgt nicht einmal fünf Grad. Er zieht die Felljacke, die ihm um den Hals hängt, über die braunen Schultern und entdeckt dabei seine indianische Herkunft. Der pochende Schmerz an der rechten Seite seines Kopfes lässt ihn zusammenzucken, und er bemerkt, dass er blutet.

Vor seinem geistigen Auge steigen Erinnerungen auf und lindern die Furcht, die sich von neuem in ihm erheben will.

Ich habe den heiligen Berg erstiegen, um von unserem großen Lehrer Worte der Weisheit über meinen Feind zu hören. Der Stein schwankte, ich bin gestolpert und habe mir den Kopf angeschlagen.

»Ich bin Chilam Balam, der Jaguar-Prophet, Same der Hunahpu.«

Der dunkelhaarige Krieger sieht hinunter auf sein Reich, ein fruchtbares Tal, das von vielen kleinen Bächen bewässert wird, die von den schneebedeckten Bergen strömen. So weit das Auge reicht, wurden auf jedem Berghang Terrassen angelegt, die eine reiche Ernte einbringen. Die Stadt unter diesem landwirtschaftlichen Potpourri erstreckt sich von einem zentralen Palast und Marktplatz aus in alle Richtungen, bevor sie in ein klug organisiertes Netz aus Aquädukten und Kanälen, Brücken und Tempeln übergeht, die allesamt für die Handelszentren der Itza angelegt wurden. Noch weiter draußen liegen die Wohnviertel seines Volkes; dort wimmelt es von einer neuen Generation seiner Anhänger, die allesamt den Lenden der sechshundertzwanzig Männer und Frauen entstammen, die in der ersten Schöpfungsstunde an der Küste eines fremden Meeres erwacht sind.

Dreizehn Tuns sind vergangen, seit die Gefolgsleute von Chilam Balam in der Neuen Welt eine Wiedergeburt erfahren durften. Die Historiker seines Volkes beschreiben die Ankunft als einen gesegneten Augenblick, doch die Darstellung des Jaguar-Propheten im Buch des Rates erzählt eine andere Geschichte.

Die Luft war viel kälter gewesen als der Wind, der Chilam Balam jetzt bis auf die Knochen erschauern lässt, und die tobende See war voller weißer Berge gewesen. Zu jener Zeit hatten der Jaguar-Priester und sein Volk noch nicht gewusst, was gefrorenes Wasser ist und worum es sich bei den gewaltigen Eisbergen handelte, die von den Gletschern des Südpols aus nach Norden trieben. Balam erklärte damals, dass das kühlere Klima diese weißen Tempel der Ozeangötter geschaffen habe, und führte sein Volk auf der Suche nach Wärme, Nahrung und Schutz ebenfalls in Richtung Norden.

Während sieben grausamer Wintermonate starb ein Drittel seines Volkes. Blutfrau ging fast an einer Krankheit zugrunde und musste wochenlang von ihrem Seelengefährten auf einer Trage gezogen werden. Gelegentlich stießen die Männer und Frauen auf frei liegende Streifen Erde mit den Überresten einer vergangenen Zivilisation und auf Knochen, die unter dem Gewicht von Zeit und Eis zermalmt worden waren.

Weil sie das Land für verflucht hielten, zogen sie weiter und setzten ihren Weg entlang der Pazifikküste Südamerikas fort.

Und dann erschien ihnen eines Tages im Morgennebel das Zeichen des großen Lehrers: ein Dreizack, eingemeißelt in einen Berghang und so groß und so breit wie Kukulkans Pyramide. Als sie die Öffnung des Tals erreichten, entdeckten sie einen Süßwasserfluss, der dort ins Meer strömte und der voller Fische war. Als sie dem Fluss in Richtung Osten folgten, fanden sie einen üppigen Wald voller Obstbäume, wilder Tiere und essbarer Pflanzen. Zahllose Bäche strömten von den nahe gelegenen Bergen ins Tal und führten fruchtbare Erde mit sich.

Ohne zu zögern, erklärte der Jaguar-Prophet, dass dieses Land der Ort ihres zukünftigen Königreichs sei.

Während der nächsten zehn Tuns herrschten Frieden und Wohlstand bei den Itza. Weil die Berge sie vor den Launen der Witterung schützten und sie keine Feinde aus dieser Welt zu fürchten hatten, konnte nichts den Aufbau ihrer Stadt beeinträchtigen, während sie vom wachsenden Wissen ihres Führers über Ackerbau, Architektur und Handwerk zu neuen Leistungen ermuntert wurden.

Aber jedes Eden hat seine Schlange und jeder Führer einen Rivalen. Und so kam es, dass Chilam Balam ein weiteres Mal den heiligen Berg besteigen und die Höhle der Wunder betreten musste, denn er wollte den großen Lehrer fragen, wie er mit Sieben Ara umgehen sollte.

 

Blutfrau hatte die Höhle entdeckt. Weil sie nach zwei Tuns in der Neuen Welt noch immer unfruchtbar war, war sie alleine die Küste entlanggegangen und hatte zu den Schöpfern des Dreizacks gebetet, als sie bemerkte, wie Vögel von einer Stelle in der Nähe des Gipfels aufflogen.

Chilam Balam benötigte einen ganzen Tag, um die Spitze des in den Stein gegrabenen Symbols zu erreichen, sowie eine weitere Stunde, um zum Gipfel und zum Höhleneingang zu gelangen, der nach Osten zeigte. Er blieb drei Uinal-Zyklen lang an diesem heiligen Ort, trank Wasser aus einem Bach in der Nähe und ernährte sich von den Früchten einer kleinen Gruppe von Jakarandabäumen.

Die Höhle selbst reichte tief hinab in den Berg und führte ihn an den göttlichen Wohnsitz eines anderen legendären weisen Mannes.

Was Kukulkan für die Maya war, war Viracocha für die Inka. Inschriften und Reliefs beschreiben den Schöpfer und Lehrer als einen bärtigen Mann mit europäischen Zügen, silberweißem Haar, türkisblauen Augen und einem verlängerten Schädel. Legenden der Aymara-Indianer in Südamerika berichten davon, wie Viracocha sich in der Zeit der Dunkelheit aus dem Titicacasee erhob, um der Welt das Licht zu bringen. Wie Kukulkan schenkte Viracocha seinem Volk große Weisheit. Schließlich verließ er die Indianer, indem er zu Fuß über den Pazifik davonging.

Die äußere Gestalt Viracochas war derjenigen Kukulkans so ähnlich, dass Chilam Balam zunächst vermutete, er habe Kontakt zum Geist des weisen Mannes der Maya aufgenommen, als der fahlhäutige Prophet ihm zum ersten Mal in der Höhle erschien. Viracocha erklärte ihm, dass beide Lehrer Hunahpu seien – die Zukunft der Menschheit. Und der Jaguar-Prophet sei auserwählt, den Samen ihrer Spezies in der Neuen Welt zu verbreiten.

Nach sechzig Tagen in völliger Einsamkeit kehrte Chilam Balam zu seinem Volk zurück und verkündete, er habe das geheime Wissen erhalten, um das Überleben der Itza zu sichern. Das Volk wagte nicht, die Behauptung des Propheten infrage zu stellen, denn seine Augen erstrahlten inzwischen ebenso türkisblau wie die Augen des großen Lehrers der Maya.

Neun Monate später brachte Blutfrau Zwillinge zur Welt. Balam nannte den Jungen mit den hellen Haaren Hunahpu und seinen dunkelhaarigen Bruder Xbalanque. Einmal in jedem Sonnenjahr kehrte Balam mit seinen Söhnen in die Höhle zurück, um Viracocha seinen Respekt zu erweisen.

Bei ihrem letzten Besuch auf dem Berg war ihnen jemand gefolgt.

 

Nicht jeder, der die Neue Welt erreicht hatte, war ein Anhänger Chilam Balams gewesen. Viele waren einfach nur in der rasenden Menge mitgerissen worden, als die Maya die Gefolgsleute des Propheten in die heilige Cenote gestürzt hatten.

Obwohl Sieben Ara von sich behauptete, er sei ein weiser Führer und Seher, beruhte seine Aufnahme in den Hohen Rat nicht auf Verdiensten, sondern geschah deshalb, weil der Rat in der Schuld seines Großvaters Fünf Ara stand, einem großen Krieger, dessen toltekische Vorfahren sich zur Zeit der Herrschaft Kukulkans den Stämmen der Itza, Xio und Cocom angeschlossen hatten.

Sieben Ara, der sich der Schwarzen Magie widmete, war davon überzeugt, dass Chilam Balam eine riesige Schlange beschworen hatte, sich aus der heiligen Cenote zu erheben. Das Maul der Schlange war Xibalba Be – die dunkle Straße, die in die Unterwelt der Maya führte. Zweifellos waren die extreme Kälte und das fremde, mit Menschenknochen übersäte Land ein Zeichen dafür, dass sie jetzt in Xibalba waren.

Soll Chilam Balam doch alleine mit den Herren der Unterwelt Kontakt aufnehmen, dachte Sieben Ara. Er selbst würde alles beobachten, lernen und warten, bis seine Zeit gekommen wäre.

Sieben Ara fand heraus, dass der Jaguar-Prophet seine Weisheit und seine Kraft ganz offensichtlich in der heiligen Höhle fand. Und so folgte der Seher der Tolteken dem Propheten und seinen Söhnen, denn er war eifrig darauf bedacht, diese düstere Magie selbst zu besitzen.

 

Drei Monde vergingen, bevor Sieben Ara aus der Höhle der Wunder in die Stadt zurückkehrte, dann war seine Verwandlung abgeschlossen. Seine Augen funkelten wie Rubine, seine Zähne waren blau gefärbt und so scharf wie die Fänge eines Jaguars. Er war so kräftig wie die fünf stärksten Krieger.

Zwischen seinen Söhnen Zipacna und Erdbeben stand er auf den Stufen des Palasts und wandte sich an die versammelte Menge. »Ich bin Sieben Ara, der Herr, und ich bin groß. Mein Ort ist höher als Menschenwerk, als Menschengestalt. Ich bin eure Sonne. Ich bin Fußweg und Trittstufe für die Itza, die verhindern, dass ihr Opfer der Herren der Unterwelt Xibalba werdet. Betet zu mir, und ich werde euch beschützen. Wenn ihr Chilam Balam folgt, werdet ihr zugrunde gehen, denn meine Weisheit ist größer, mein Licht ist größer. Das ist der Grund, warum ich berufen wurde, an seine Stelle zu treten. Ich bin Sieben Ara, der Herr!«

Die Menge teilte sich, so dass Chilam Balam seinem Herausforderer gegenübertreten konnte.

Sieben Ara umkreiste den Jaguar-Propheten, er tanzte und sprang um ihn herum und rief die Himmelsgötter an, während er in seiner rechten Hand eine Prise Burundanga verbarg, ein weißes Pulver, das er aus der Borrachera-Pflanze gewonnen hatte. Schließlich drehte er sich im Kreis und schleuderte Balam den weißen Staub ins Gesicht, so dass der Jaguar-Priester das Burundanga einatmete.

Sein Kiefer verkrampft sich. Seine Muskeln verwandeln sich in Stein. Alles, was er eben noch gesehen hat, verschwindet hinter einem weißen Nebel. Er kann sich nicht bewegen. Er kann nicht denken.

Zum ersten Mal in seinem Leben verspürt Chilam Balam Todesangst.

Die Söhne von Sieben Ara fesseln den gelähmten Propheten an einen Pfahl. Der neue Führer der Itza verlangt, dass die Frau und die Söhne Chilam Balams zu ihm gebracht werden, damit sie den Herren der Unterwelt Xibalba geopfert werden können.

Eine Suche in der ganzen Stadt führt zu keinem Ergebnis. Blutfrau und ihre Zwillingssöhne sind schon lange verschwunden, denn sie haben auf die Warnung Viracochas gehört.

Die Angst hat Chilam Balam bis über die Grenzen seiner psychischen Gesundheit hinausgetrieben. Sieben Ara flüstert in seinem Gehirn, der Folterknecht lauert in den Schatten seines Geistes. Der Dämon kriecht unter seine Haut und erstickt jeden rationalen Gedanken. Weil die betäubende Wirkung des Burundanga den Jaguar-Priester fest im Griff hat, kann der Hexenmeister der Maya die bereits zu Schaden gekommene Seele Balams mit noch mehr Entsetzen erfüllen. In lebhaften Alpträumen wird er Zeuge, wie Sieben Ara seiner Seelengefährtin bei lebendigem Leib die Haut abzieht und seine Söhne von den Söhnen Sieben Aras vergewaltigt werden. Jeder Traum endet mit einem Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, und jeder Schrei löst einen weiteren Faden aus dem Gewebe seiner Existenz, bis seine Identität nur noch aus nacktem Entsetzen besteht.

Wie eine Herbstbrise durchdringt Viracocha den Nebel. Die Gegenwart des großen Lehrers lässt die Flammen in seinem Gehirn erlöschen, so dass die weißglühenden Synapsen sich abkühlen können. Von einer beruhigenden Stille umfangen, kriecht Balams Geist aus seiner Muschelschale und erkundet eine Existenz, in der das dämonische Locken seines Folterknechts verstummt ist.

Er öffnet die Augen. Dunkelheit ist um ihn. Er weiß nicht, wo er ist, wer er ist oder wie er an den Ort kam, an dem er sich befindet. Er steht auf und stößt mit dem Kopf gegen Stein. Er legt sich wieder hin und drückt seine Füße gegen das unbekannte Objekt. Mit einem archaischen Schrei legt er alle Kraft in seine Beine und drückt den fünf Tonnen schweren Deckel des uralten Kalksteinsarkophags beiseite.

Immanuel Gabriel klettert aus dem Sarg Pakals des Großen, sein Geist ist wieder klar, die Angst ist verschwunden.

2012 - Die Prophezeiung - Alten, S: 2012 - Die Prophezeiung - Phobos
cover.html
e9783641056384_cov01.html
e9783641056384_fm01.html
e9783641056384_ata01.html
e9783641056384_fm02.html
e9783641056384_toc01.html
e9783641056384_fm03.html
e9783641056384_ded01.html
e9783641056384_fm04.html
e9783641056384_fm05.html
e9783641056384_fm06.html
e9783641056384_fm07.html
e9783641056384_epi01.html
e9783641056384_p01.html
e9783641056384_c01.html
e9783641056384_c02.html
e9783641056384_c03.html
e9783641056384_c04.html
e9783641056384_c05.html
e9783641056384_c06.html
e9783641056384_c07.html
e9783641056384_c08.html
e9783641056384_c09.html
e9783641056384_c10.html
e9783641056384_c11.html
e9783641056384_c12.html
e9783641056384_c13.html
e9783641056384_c14.html
e9783641056384_p02.html
e9783641056384_c15.html
e9783641056384_c16.html
e9783641056384_c17.html
e9783641056384_c18.html
e9783641056384_c19.html
e9783641056384_c20.html
e9783641056384_c21.html
e9783641056384_c22.html
e9783641056384_c23.html
e9783641056384_c24.html
e9783641056384_c25.html
e9783641056384_c26.html
e9783641056384_c27.html
e9783641056384_c28.html
e9783641056384_c29.html
e9783641056384_c30.html
e9783641056384_c31.html
e9783641056384_c32.html
e9783641056384_c33.html
e9783641056384_c34.html
e9783641056384_c35.html
e9783641056384_c36.html
e9783641056384_c37.html
e9783641056384_c38.html
e9783641056384_c39.html
e9783641056384_c40.html
e9783641056384_bm01.html
e9783641056384_ack01.html
e9783641056384_tea01.html
e9783641056384_cop01.html
e9783641056384_ftn01.html