25
Tom schaltete das Autoradio aus, als er die Ausfahrt Glebe Road nahm. Er hatte sein Ziel fast erreicht, und da er nun aus dem zähflüssigen Verkehr heraus war, brauchte er die Ablenkung nicht mehr. Außerdem war er es leid, den Propagandisten zuzuhören, die so schwer arbeiteten.
Er hatte keine Schwierigkeiten, auf dem Parkplatz hinter der Anlage eine freie Box zu finden. Das Gebäude war kein Gericht, nicht einmal ein Polizeirevier oder eine militärische Einrichtung, aber dennoch würde er hier seine offizielle Aussage bezüglich der Vorgänge in den letzten Wochen machen. Es sah wie ein gewöhnliches Bürogebäude aus, und vielleicht war es das auch meistens. Das Identifikationsschild war kürzlich entfernt worden. Was es auch gewesen war, heute war es der Ort, an dem sich die Sonder-Commis-sioner des Präsidenten trafen. Tom beantwortete bereits seit Tagen Fragen. Die heutige Übung war eine reine Formalität. Man hatte ihm versprochen, daß er sein Leben nach dem heutigen Tag würde normal fortsetzen können.
Er war nicht der einzige, der vor die Commissioner treten mußte. Ein weiterer Wagen, ein alter, viertüriger, dunkelblauer Toyota Epsilon fuhr auf den Parkplatz. Markowitz öffnete die Fahrertür.
»Gutes Timing«, sagte er.
Andy und Kit stiegen hinten aus. Die Federung des Wagens quietschte, als der vierte Passagier ausstieg, ein klobiger Ork mit Trenchcoat und Schlapphut, die in der schwülen Morgenhitze ebenso fehl am Platz waren wie ein Badeanzug auf dem Schlachtfeld. Unter den Brauen des Orks funkelte Chrom. Tom mußte den Blick von dem Ork abwenden, als Andy zu ihm lief und ihn wie einen lange verschollenen Bruder begrüßte. Was er in gewisser Weise auch war.
»Nette Uniform«, sagte Andy. »Aber du solltest die anderen Orden wirklich mal polieren, damit sie den Vergleich mit dem neuen standhalten.«
Tom schaute auf die Ehrenmedaille des Präsidenten. Andy hatte recht. Sie sah nicht so aus, als gehöre sie dorthin. Tom war das egal. Der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen gefiel ihm gut. Schließlich hatte Furlann in derselben Zeremonie, in der Steele diese an Toms Brust geheftet hatte, dieselbe Ehrenmedaille verliehen bekommen. Soviel zu der Ehren-Medaille. Er schob den Gedanken beiseite.
»Was ist mit dem Ork? Wo ist Cinqueda?«
»Sie war Ersatz«, sagte Markowitz. »Shamgar ist Stammspieler. Sag' guten Tag, Shamgar.«
Shamgar schnitt lediglich eine finstere Miene und sagte kein Wort. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Tom solch eine Unverschämtheit als persönliche Beleidigung aufgefaßt oder als unwichtig abgetan. Heute sah er, daß sich die Mißstimmung des Orks gegen Markowitz und die ganze Situation richtete. Tom konnte das verstehen und nachempfinden, fand es jedoch merkwürdig, daß er Sympathien für einen Ork aufbrachte. Aber der Ork hatte keinen Anteil an dem gehabt, was ihn hergebracht hatte, ganz im Gegensatz zu Cinqueda. »Was ist mit Cinquedas Aussage?«
»Sie denkt, sie hat sie bereits gemacht«, sagte Kit.
Cinqueda hatte überhaupt nicht mit den Commissio-ners geredet. Wenn sie ihre Aufzeichnung für sich selbst sprechen lassen und nicht durch eine persönliche Aussage stützen wollte, war das ihre Entscheidung. Er respektierte sie. Sie hatte sich diesen Respekt mehr als verdient.
Als sie das Gebäude betraten, sagte Markowitz: »Haben Sie schon das Neuste gehört? Christian Ran-dolph ist von Aufrührern der Konföderierten unter Drogen gesetzt worden. Sie haben seine Kompensationsarmee übernommen, um in Washington Ärger zu machen und der Bevölkerung so viel Angst einzujagen, daß sie sich auf der Suche nach einer Lösimg der Probleme nach Süden wenden würde. Die Konföderierten wollten die Unfähigkeit der Regierung, die Tumulte zu beenden, als Vorwand nutzen, um sich North Virginia und die südlich des Potomac gelegene Region des Bundesdistrikts zu schnappen - natürlich alles nur im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung. Randolph hatte das Pech, ihre Marionette zu werden. Die Drogen bewirkten Größenwahnsinn, und das ist auch der Grund, warum er dieses Keiner-kriegt-mich-lebend-Opfer am Block durchgezogen hat. Ziemlich traurige Geschichte. Er war ein ehrlicher Mann, wenn auch ein wenig naiv.«
Tom staunte. »Stimmt das?«
»Wer weiß? Es hat jedenfalls eine Menge Sympathien für die Komper geweckt. Das heißt, für die echten Komper. Der Kongreß hat beschlossen, den Entschädigungsforderungen nachzugeben, die Randolph und seine Marschierer überhaupt erst nach Washington gebracht haben. Zehn Cents für den Dollar.«
»Kommt mir nicht gerecht vor«, sagte Andy.
Was war Gerechtigkeit?
Die Tatsache, daß Telestrian mit den Konföderierten gemeinsame Sache gemacht hatte, wurde im Licht der Entscheidung des Konzerns, seine Sicherheitskräfte mit nicht tödlicher Aufruhrunterdrückungsausrüstung zu bestücken und diese Kräfte der Regierung zu unterstellen, um den Gewalttaten ein unblutiges Ende zu bereiten, unter den Teppich gekehrt. Wie konnte man derartiges Verantwortungsbewußtsein und soziales Engagement bestrafen, insbesondere dann, wenn sich dadurch andere Konzerne veranlaßt sahen, Telestrians Beispiel zu folgen? Allein der Zuwachs an Personal hätte schon genügt, den Aufruhr zu unterdrücken. Es war die Hilfe, die Tom von ihnen zu bekommen versucht und die man ihm verweigert hatte. Jetzt wuschen sie damit ihre Sünden ab. Gerechtigkeit?
Während sie in einem Büro saßen und darauf warteten, daß die Commissioner sie zu empfangen geruhten, fragte er: »Gibt es etwas Neues über Gouverneur Jeffer-son?«
»Ja«, sagte Markowitz. »Wollen Sie das hören, was NewsNet sendet, oder die Wahrheit?«
Tom seufzte. »Ich nehme an, es war übertrieben optimistisch, darauf zu hoffen, daß es nur eine Version geben würde.«
»Viel zu optimistisch«, gab ihm Markowitz recht. »Offiziell ist Jefferson tot. Tatsächlich war er aber nicht an Bord der Maschine, als sie abgestürzt ist. Er hatte von einer undichten Quelle in Trahns Hauptquartier gehört, daß sein Versuch, die Geographie zu ändern, zum Scheitern verurteilt war. Er wußte, daß er in einer harten Liga spielte, und beschloß, sich unter einem Stein zu verkriechen.«
»Wo ist er? In Atlanta?«
»Keine Ahnung.« Markowitz zuckte die Achseln. »Wenn er sich nach Süden abgesetzt hat, ist er dümmer, als ich dachte. Die Konföderierten verschwenden ihr Geld nicht gerne, und Mr. Jefferson ist verglichen mit Gouverneur Jefferson nichts mehr wert.«
Die Commissioner befragten Tom als letzten. Als er wieder herauskam, stellte er zu seiner Überraschimg fest, daß die anderen noch da waren.
»Was machen Sie jetzt?« fragte Markowitz.
»Kurzfristig? Mittag essen.« Tom hatte Hunger, und es war weit nach Mittag.
»Okay. Wir sind dabei«, sagte Markowitz. »Aber eigentlich war ich mehr an Ihren längerfristigen Plänen interessiert.«
Längerfristig? Tom wollte seine Großeltern besuchen. Mit seinem Großvater reden. »Meinen Urlaub beenden.«
»Du meinst also, daß du in der Armee bleibst?« fragte Andy.
Darüber hatte Tom eigentlich noch nicht nachgedacht. Es war ihm nicht eingefallen, darüber nachzudenken. Die Armee war schon so lange sein Leben, daß er sich einfach nicht vorstellen konnte, anders zu leben.
»Es wird nicht leicht«, sagte Markowitz.
»Und was wir gerade durchgemacht haben, war das etwa leicht?«
»Das ist nicht dasselbe. Trahn hat Freunde, denen nicht gefallen wird, was Sie getan haben.«
»Im Moment hat Trahn nicht einen einzigen Freund im ganzen Land. Niemand war sein Kumpel, niemand hat mit ihm geredet, niemand war mit ihm zusammen, niemand hat seine politische Meinung geteilt, niemand hat gewußt, was er vorhatte, und, was das Wichtigste ist, niemand hat je von Plan Vernunft gehört. Es sieht so aus, als seien Trahns vernünftige Freunde zu vernünftig für ihn gewesen. Sie haben ihre Verluste abgeschrieben und ihn fallenlassen, sobald offensichtlich wurde, daß er untergehen würde.«
»Wie Captain Furlartn?« fragte Andy.
»Ganz genau so«, stimmte Tom säuerlich zu.
»Aber sie werden deshalb nicht ihre Streifen ändern«, sagte Markowitz. »Dadurch, daß Sie Trahn zu Fall gebracht haben, haben Sie sich einen Haufen Feinde eingehandelt.«
»Mag sein.« Aber war das so schlimm? Sein Großvater hatte ihm gesagt, daß ein Mann an seinen Feinden gemessen wurde, nicht an seinen Freunden. Wenn Tom sich Leute zum Feind gemacht hatte, die glaubten, was Trahn geglaubt hatte, war das in Ordnung. Vielleicht sogar eine Art von Gerechtigkeit.
Andy zog Markowitz auf die Seite, sobald er konnte. »Ich glaube, du solltest damit aufhören.«
»Warum? Ich habe doch gerade erst angefangen.«
»Tom hat seine Entscheidung getroffen. Er glaubt, er hat einen Platz. Ich will nicht, daß du ihm diesen Glauben nimmst.«
»Es war doch deine Idee, zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß er eine Zukunft als Freischaffender hat.«
»Dann habe ich mich eben geirrt. Manche Leute sind nicht für die Straße geschaffen.«
»Ach?« Markowitz klang argwöhnisch. »Reden wir jetzt von dir oder von ihm?«
»Von ihm.«
»Also gehst du nicht zu Telestrian zurück, jetzt, wo du von jeglichem Verdacht im Zusammenhang mit dem Montjoy-Run reingewaschen worden bist? Hast du ihnen nicht aus diesem Grund die Jefferson-Dateien zurückgegeben?«
Daß Markowitz davon wußte, war Andy neu. Er mochte über die Tatsache Bescheid wissen, aber er brauchte den Grund nicht zu erfahren. »Zurückgehen? Ich glaube nicht! Sie haben meinen Namen reingewaschen, na und? Andy Walker ist offiziell immer noch tot.«
»Ist nicht so viel Computerkapazität nötig, um das zu ändern. Sie können dir eine neue Identität geben, wenn dü sie darum bittest.«
»Oh, sie würden mir eine neue Identität geben, aber ich bezweifle, daß sie mir gefallen würde. Nach allem, was ich im Shadowland-Netz aufgeschnappt habe, ist Osborne ein ziemlich rachsüchtiger Kerl. Wenn ich zurückginge, könnte mich das leicht den Kopf kosten.
Im Moment sehe ich meine Möglichkeiten anderswo, Marksman. Zum Beispiel gibt es in deinem Team weder einen Decker noch einen Rigger, und ich kann beides. Du brauchst mich.«
Er mußte Markowitz noch einige Zeit bearbeiten, aber am Ende erklärte er sich einverstanden. Und warum auch nicht? Schließlich war Andy ein Shadow-runner.