3

Russ Sanchez wartete auf Andy am Eingang zum Track. Russ war Andys Mentor, was nicht so spießig war, wie es sich anhörte. Russ war schon in Ordnimg. Der Track war die virtuelle Arena, wo Telestrian Cyberdyne seine neuen Modelle oder vielmehr deren virtuelle Entsprechungen testete.

»Ein wenig lange daran, Mr. Walker?« fragte Russ.

Jeder andere hätte »spät daran« gesagt, aber die merkwürdige Formulierung war kein Fehler. Nicht bei Russ. Andy hatte schon lange den Verdacht, daß Russ wußte, was hinter Andys Tendenz zu Verspätungen steckte, aber darüber redeten sie nicht. Also sagte Andy: »Ich war ein wenig in Gedanken. Ich gehe heute abend später, wenn das ein Problem ist.«

Die Computerkapazitäten, die Andy auf seinen Runs benutzte, gehörten strenggenommen nicht ihm. Falls er und Russ unverhohlen über Andys virtuelle Freizeitbeschäftigung geredet hätten, wäre Russ verpflichtet gewesen, nach Einzelheiten in bezug auf Zugang und Zuweisung zu fragen, und Andy hätte sich verpflichtet gefühlt, sie ihm zu nennen. Was Russ eine weitere, ganz andere Verpflichtung auferlegt hätte - diejenige nämlich, Andy wegen Diebstahls von Computerkapazität des Telestrian-Konzerns zu melden. Keiner von ihnen wollte das, also redeten sie nie über Andys Abenteuer.

Russ' implizite Duldung von Andys regelwidrigen Aktivitäten war nur eines der Dinge, die Andy an Russ gefielen. Russ war zwar offiziell Andys Boß, aber er war mehr wie ein Freund. Russ war nicht so spießig wie die anderen Manager bei Telestrian. Er war in Ordnung, überhaupt nicht der typische Konzern-Exec. In vielerlei Hinsicht war Russ für Andy der Vater, den er nie gehabt hatte.

Andys biologischer Vater war Matthew »Cruncher« Walker. Cruncher hatte für die Sicherheit von Telestrian East, Cyberdynes Muttergesellschaft, gearbeitet, aber er war kein einfacher Nullachtfünfzehn-Wächter gewesen. Telestrian hatte nicht die Vorurteile von Crunchers vorherigem Arbeitgeber, der scheinheiligen und heuchlerischen UCAS-Regierung, an den Tag gelegt. Die Tatsache, daß Matthew Walker ein Ork war, stellte für Telestrian kein Problem dar. Die großen Bosse wußten, daß unterm Strich nur die Leistung zählte, und sie belohnten jeden, der sie brachte, welchem Metatyp er auch angehörte. Cruncher war Sicherheitsleiter einer ganzen Niederlassung gewesen und hatte unzählige Belobigungen und Sonderprämien bekommen. Er war auf dem Weg nach ganz oben in der Hierarchie der Telestrian-Sicherheit gewesen, und man hatte Cruncher schon bei der Ausübimg seiner Pflichten töten müssen, um ihn aufzuhalten.

Bedauerlicherweise hatte Andy nicht sonderlich viele Erinnerungen an seinen Vater. Andy war drei gewesen, als Cruncher bei der Schießerei ums Leben gekommen war. Er wußte, wie Cruncher ausgesehen hatte, und er erinnerte sich an den starken Griff der schwieligen Hände seines Vaters und an die Heftigkeit seiner Umarmungen. Es gab auch noch andere Erinnerungen, aber die waren eher vage und weniger angenehm, so daß er sich nicht besonders viel Mühe gab, sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Doch alles in allem kannte er seinen Vater als Person nicht, und alle Bilder und Aufzeichnungen, die Andys Mutter aufbewahrt hatte, sogar die Geschichten, die sie ihm erzählt hatte, verrieten ihm nicht annähernd genug über die Person, die Cruncher gewesen war.

Bei Crunchers Tod waren seine Familienmitglieder zu Konzernpensionären geworden. Telestrian Ost verwaltete den Nachlaß und die nicht imbeträchtlichen Sterbeprämien. Der Konzern sorgte dafür, daß Andy und seine Schwestern eine gute Ausbildung bekamen. Telestrian stellte außerdem Arbeitsplätze für seine Mutter und seine Schwestern zur Verfügung. Seine Mutter Shayla arbeitete gegenwärtig als oberste Empfangsdame in der Abteilung Internes Marketing. Zwei seiner Schwestern waren in der Verwaltung beschäftigt, und die dritte, Asa - die, wie alle wußten, die gescheiteste war betrieb gerade ein Fortgeschrittenen-Studienprogramm/Praktikum für ein hohes Tier in Telestrians Heimatniederlassung in Hr Tairngire.

Wie die Dinge lagen, war sogar Andy in das Familiengeschäft hineingewachsen. Wenngleich er noch zwei Tage die Woche Seminare besuchte, um sein Hauptstudium abzuschließen, arbeitete er für Telestrian Cyber-dyne als Testfahrer. In jungen Jahren hatte er mit den Teams zusammengearbeitet, die Unterhaltungssimulatoren entwickelten. Seine jetzige Arbeit war ihm durchaus vertraut, was nicht überraschend war, wenn man bedachte, daß er schon als Kind Spiele für den Konzern getestet hatte, noch bevor Telestrian seine Datenbuchse finanzierte. Dieser Tage hatte er mehr mit echter Entwicklungsarbeit zu tun, und das war aufregend. Es war ein gutes Gefühl, einen Beitrag zur Konzernfamilie zu leisten, der er angehörte.

Aber auch der fürsorglichste Konzern war kein richtiger Vater. Auch Russ war das nicht, aber er kam dem so nah, wie das nur möglich war. Vielleicht war das der Grund, warum ihm Russ' Billigung so viel bedeutete.

Eine Billigung, die er wahrscheinlich verlor, wenn er nicht aufhörte, vor sich hin zu träumen.

Wie üblich war Russ ihm einen Schritt voraus.

»Schön, daß du wieder zurück bist«, sagte Russ. »Soll ich die Anweisungen wiederholen, oder hast du sie aufgezeichnet?«

Glücklicherweise, aus alter Gewohnheit, hatte Andy alles aufgezeichnet. Er verglich gerne die Vorbesprechung mit der Nachbesprechung, um zu sehen, ob es Abweichungen gab, was schon mal vorkam, besonders dann, wenn jemand anderer als Russ die Testläufe leitete. Russ' Anweisungen waren in seiner Headware gespeichert. »Ich hab' alles«, sagte er.

»Gut. Hätte mir auch nicht gefallen, wenn ich meine Zeit völlig verschwendet hätte.« Auf ein Winken von Russ löste sich der Eingang auf, und er und Andy standen im Freien. Grelles Sonnenlicht überflutete sie. »Bist du bereit, mit der Arbeit anzufangen?«

Andy betrachtete immer noch die Szenerie. Heute war der Track auf eine öde Wüstenlandschaft konfiguriert, und Andy sah haufenweise Mesas und steile Felszacken, aber keine Straße. Die Geländeformen waren in niedriger Auflösimg dargestellt, skizzenhafte Schemen mit minimaler Ausformung und schlichter, glatter Oberflächenstruktur. Der Himmel war wolkenlos. All das ließ vermuten, daß sich die Rechenkapazität des Tracks auf Fahrzeugparameter und hundertprozentige Überwachung konzentrierte. Andy war klar, daß dies nur bedeuten konnte, daß er eines der neueren Modelle testen würde. Also echte Arbeit heute.

»Montjoy?« fragte er. Das Montjoy-Projekt war Te-lestrian Cyberdynes jüngster Ausflug in das Feld der kybernetischen Fahrzeugkontrollsysteme. Der ganze Kram arbeitete mit hochmodernen, bahnbrechenden Technologien und war sehr, sehr geheim. Andy hatte frühe Versionen des Fahrzeugs getestet. Unfertige Versionen, gewiß, aber dennoch eine Ehre für ihn.

»Ich kann nicht behaupten, daß du es verdient hättest«, sagte Russ. »Aber du hast recht.«

Zwei dunkle Formen flackerten neben ihnen auf. Die Montjoy-Fahrzeuge waren schlank und spitz zulaufend. Sie erinnerten an breitköpfige Haie ohne Rückenflosse. Schublenkdüsen bildeten flache Wölbungen an strategischen Stellen auf der Fahrzeugoberfläche. Die Glaskanzel über dem Cockpit war heute abgedunkelt. Bei diesem Test würden sich die Montjoys ausschließlich auf ihre Sensoren verlassen. Andys Name schwebte über einem der Fahrzeuge in der Luft, und die dunklen Buchstaben schienen ihm förmlich zuzuwinken. Er ging langsam um den Montjoy herum, bewunderte sein Aussehen.

»Ich kenne ein Dutzend Testfahrer, die dich umbrächten, wenn sie der Ansicht wären, daß sie dann auf deinen Platz rücken würden«, sagte Russ.

»Aber sie haben nicht meine Testergebnisse, oder?« Russ hatte einmal durchblicken lassen, daß Andy schon früh ein überragendes Talent für kybernetische Steuerung an den Tag gelegt und höhere Testergebnisse als alle anderen in seiner Altersgruppe erzielt hatte. Andy bezeichnete das gern als seinen besonderen Vorteil. Er zitierte das Konzernmotto: »Bei Telestrian halten wir uns nur an das Beste.«

Russ schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, bei ihnen hapert es mit der Verfügbarkeit.«

Andy ließ Russ'. Dämpfer von sich abtropfen. Die Gründe waren ihm im Grunde egal. Wichtig war nur, daß er hier war und den Montjoy testen würde. Aber er sah zwei Fahrzeuge, und über dem zweiten leuchtete kein Name auf.

Er sah Russ an. »Testest du heute auch?«

»Wir spielen Fangen, weißt du nicht mehr?« Russ seufzte theatralisch. »Ich nehme an, du hast auch vergessen, daß du sofort herausgenommen wirst, wenn du höher als fünfhundert Meter steigst. Besondere Sicherheitsbestimmungen oder irgendwas in der Art. Jedenfalls verlierst du den Lauf und machst gewisse Ingenieure sehr unglücklich. Verstanden?«

Andy konnte sich nicht erinnern, aber er nahm an, daß sich die Einzelheiten in den Anweisungen aus der Vorbesprechung wiederfanden. Diese Einzelheiten waren wichtig, sonst hätte Russ sie nicht noch einmal erwähnt, also sagte er: »Verstanden.«

»Okay, also los.«

Andys Blickfeld veränderte sich. Er stand nicht länger im Freien, sondern saß, lag eigentlich mehr, im Cockpit des Montjoy-Testschlittens. Das Fahrzeug war nicht real, und er befand sich nicht wirklich im Cockpit, aber das war fast nicht zu erkennen.

Russ hatte ihm erzählt, daß die Hersteller im letzten Jahrhundert echte Prototypen hatten bauen müssen, um ihre Konstruktionen zu testen. Andy konnte sich kaum vorstellen, daß man etwas baute, bevor man wußte, ob es auch funktionieren würde. Die tatsächliche Herstellung war wesentlich teurer als Computerzeit, so daß solch ein Wagnis ein ziemliches Investitionsrisiko darstellte. Selbst wenn die Konstruktion im wesentlichen gut war, konnte jeder unvorhergesehene Fehler einen teuren Umbau erforderlich machen, bevor die eigentliche Produktion begann. Heutzutage waren die Hersteller um einiges schlauer. Sie hatten gelernt, daß es Geldverschwendung war, etwas zu bauen, nur um zu sehen, ob es auch funktionierte.

Dennoch hatte es einen gewissen Reiz, so zu verfahren. Es mußte schrecklich aufregend gewesen sein, sich in ein Fahrzeug zu setzen und dabei nicht zu wissen, ob es funktionieren würde, aber ganz genau zu wissen, daß man sein Leben darauf setzte. Die medizinischen Möglichkeiten waren in jenen Tagen ziemlich beschränkt gewesen. Man hatte sich nicht darauf verlassen können, daß einen die Ärzte schon wieder zusammenflicken würden, falls irgendwas schiefging und man Bruch baute.

Andy brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß er auf dem Track sterben würde. Wenn es ihn erwischte, würde ihm nichts weiter geschehen, jedenfalls nicht körperlich. Fehler hatten zwar ihren Preis, der sich in Computerzeit ausdrückte, da ermittelt werden mußte, ob der Unfall auf einen Fehler in der Fahrzeugkonstruktion oder auf einen Fehler des Fahrers zurückzuführen war, aber so oder so booteten die Techs einfach neu, und er konnte die nächste Runde drehen. Natürlich wurde ein Fehler in seiner Beurteilung vermerkt, und jeder derartige Vermerk verringerte seine Chancen, nach Beendigung seines Studiums diese Art von Arbeit auf Dauer leisten zu dürfen.

Er strich mit der Hand über die glatte Oberfläche der Kontrollkonsolen des Montjoy. Die Oberfläche würde alle Tasten und Schalter ausfahren, die für die positive Berührungsinterface-Kontrolle benötigt wurden. Elegant. Seine Finger tasteten die verchromte Oberfläche des Dateneingangs ab. Schnittig. Der Montjoy war das am höchsten entwickelte Fahrzeug, das er je getestet hatte. Viel schwerer zu meistern als alle Panzer und Schwebepanzer, die er bei seinen Shadowrun-Simula-tionen fuhr. Andererseits war der Montjoy auch besser als sie.

»Schläfst du da drinnen?« Russ' Stimme kam über die Cockpit-Lautsprecher.

»Ich orientiere mich nur.«

»Aha. Gut, Junge, vergiß nicht, wir spielen Fangen. Und du bist es.«

Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Andy winkelte das Handgelenk an und ließ den Datenzapfen hervortreten.

In der wirklichen Welt waren die Ärzte noch nicht bereit, seine richtige Hand zu ersetzen und einen Datenzapfen zu installieren. Sie sagten, sie würden noch warten, bis sich das Tempo seines Knochenwachstums verlangsamt hätte. Aber es mußte jetzt bald soweit sein. Letzte Woche hatten sie bereits ein paar vorbereitende Arbeiten erledigt. Sein Arm hatte praktisch sofort wie verrückt zu jucken angefangen, und das tat er immer noch. Psychosomatisch bedingt, sagten sie ihm, als er sie besorgt wieder aufgesucht hatte. Nicht ungewöhnlich, die Reaktion, sagten sie, kein Grund zur Sorge. Er konnte die Nanobots, die die Schaltkreise unter seine Haut legten, tatsächlich nicht spüren. Niemand konnte das.

In der Matrix spielte das keine Rolle. Andys Persona-Icon, das visuelle Bild, das ihn im Cyberspace repräsentierte, sah so aus, wie Andy ihm sagte, daß es aussehen sollte, und in dieser Hinsicht hatte er ihm gesagt, es solle so aussehen, wie er eines Tages tatsächlich sein würde. Hier hatte er das schärfste, coolste Interface überhaupt. Er steckte den Zapfen in die Buchse, und der Montjoy erwachte für ihn zum Leben. Seine Sensoren wurden Andys Augen, sein Motor sein Herz. Mensch als Maschine. Herrlich! Die Kraft war unglaublich. Also los, Straßensamurai!

Er sah sich um. Der andere Montjoy war verschwunden. Keine Hitzespur, was eine Art Betrug war. Russ' Fahrzeug mußte vom Computer an irgendeine andere Stelle im Track teleportiert worden sein. Sie würden nicht nur Fangen, sondern auch Versteck spielen.

»Je schneller man anfängt, desto schneller ist man fertig«, sagte Russ immer. Andy war seiner Meinung. Er jagte seine Turbinen auf den optimalen Wert hoch und schoß in den Himmel.

Seine Selbstvertrauen erwies sich als übertrieben. Andy verlor an diesem Morgen alle vier Läufe. Kaum die Leistung, die er hatte bringen wollen, aber den Montjoy zu fliegen war tatsächlich knifflig.

Nach der Mittagspause ging Russ seine Vorstellung mit ihm durch und wies ihn auf die Schwachstellen hin. Am Nachmittag schlug sich Andy besser, aber es gelang ihm erst im vierten Lauf, Russ sauber einzufan-gen. Der Erfolg machte Andy heiß auf eine weitere Chance. Russ zögerte - es war schon ziemlich spät gab Andys Drängen aber schließlich doch nach. Sicher, daß er Russ diesmal rasch fangen würde, sah Andy zu, wie Russ' Montjoy zwischen den Felsnadeln verschwand, während er auf sein Startsignal wartete. Zu Andys Verärgerung gaben die Testleiter Russ einen großen Vorsprung. Als Andy endlich die Starterlaubnis bekam, war die Hitzespur bereits zu kalt, um noch von Nutzen zu sein.

Andy hielt direkt auf eine Stelle zu, die ihm beim letzten Durchgang aufgefallen war. Sie hatte ausgesehen wie ein perfekter Ort für einen Hinterhalt, und er war sicher, daß Russ sie ebenfalls bemerkt hatte. Russ war vielleicht nicht da, aber es war ein guter Ort, um die Jagd zu beginnen. Und wenn Russ tatsächlich dort war, ging Andy davon aus, daß er ihn überraschen konnte, wenn er mit blitzenden Kanonen über ihn herfiel. Was er auch tat - ohne Erfolg. Russ war nicht da.

Aber er war dagewesen. Die Luft war mit frischen Abgasen durchsetzt. Andy suchte weiter. Lange Zeit. Er fragte sich schon, ob Russ aufgehört hatte und den Test in eine reine Flugübung verwandelt hatte, als er den anderen Montjoy entdeckte. Er schoß gerade aus der Sackgasse einer engen Schlucht, in der Russ Andy beim zweiten Testlauf des Tages erwischt hatte. Andy schickte einen Schuß an Russ' Heck vorbei, um ihn zu begrüßen.

Russ erhöhte den Schub, und sein Montjoy schoß wie eine Rakete in den Himmel und aus der Bahn von Andys nächstem Schuß. Der alte Meister hatte immer noch ein paar Tricks im Ärmel. Russ' Montjoy jagte steil nach unten und verschwand hinter einer Felsnadel. Andy beschleunigte und flog ihm nach. . Der Flug war wild. Sie rauschten an Felswänden vorbei und jagten viel schneller durch das zerklüftete Gelände, als Andy das in einer echten Maschine gewagt hätte. Der menschliche Geist konnte ein geländefolgendes Programm nicht beliebig schnell steuern. Sie gaben Gas und kurvten so rasant durch die Felsnadeln, daß sogar die kraftvollen Montjoy-Triebwerke Mühe hatten, zu verhindern, daß sie gegen die Felswände rasten. Andy hatte nicht damit gerechnet, daß Russ so zur Sache ging, aber er würde sich nicht beschweren. Besser als das, was sie gerade taten, konnte nur ein Flug mit einem echten Montjoy in echtem Gelände sein. Andy fühlte sich wie ein König.

Bis Russ ein Manöver abzog, das Andy noch nie gesehen hatte und das damit endete, daß Russ ihm im Nacken saß, während sie in eine breite Schlucht düsten. Granaten explodierten vor Andy in der Luft und schüttelten den Montjoy durch, so daß er kurzfristig die Kontrolle über die Maschine verlor. Wahrscheinlich rettete ihn der kurze Kontrollverlust. Russ schien ihn durch den unerwarteten Kurswechsel aus dem Zielprojektor verloren zu haben, da keine der Granaten traf.

Andy verstand einen Wink, wenn er einen bekam. Er wechselte ständig die Schubrichtung, schlug Haken wie ein Hase und blieb Russ' Granaten immer eine Nasenlänge voraus. Aber er konnte Russ auch nicht abschütteln, und die Schlucht verengte sich zusehends. Andy ging der Bewegungsspielraum aus, den er für seine Ausweichmanöver brauchte. Freiraum bot ihm nur noch der offene Himmel. Andy lenkte den Schub auf die Heckdüsen und zog die Nase des Montjoy hoch. Er riß die Maschine in einen Looping, der ihn mit etwas Glück hinter seinen Verfolger bringen würde. Seine Geschwindigkeit war hoch - eine Folge des Schubs, den er gegeben hatte, um sich ein wenig von Russ abzusetzen. Er konnte den Looping nicht zu eng fliegen, weil sonst die Fliehkräfte zu stark würden. In den nächsten paar Sekunden flog er praktisch eine Rakete.

Der Montjoy schraubte sich höher, der Sonne entgegen. Andy zog die Nase noch höher, so hoch, wie er es wagte. Der Looping war weit, fast zu weit. Der Höhenmesser kletterte unaufhaltsam. Es wurde knapp.

Als sich der Montjoy dem Zenith seiner Flugbahn näherte, verengte er die Kurve noch einmal. Summer warnten vor der Schwelle. Er gab alles, um den Looping noch enger zu fliegen. Die Instrumente verschwammen, und ihm wurde schwarz vor Augen. Zu eng? Er kämpfte gegen den simulierten Andruck an, blieb bei Bewußtsein. Die Summer vibrierten durch seine Knochen. Langsam, ganz langsam ging der Montjoy in den Geradeausflug und zeigte der Sonne seinen Bauch. Er hatte es geschafft! Um ein paar Zentimeter, wenn er dem Höhenmesser glauben konnte. Wenn er eine Rolle geflogen wäre, hätte die Heckflosse des Montjoy die Barriere gestreift, und er wäre abgestürzt.

Er sah, wie ihm die andere Maschine in den Himmel folgte. Der andere Montjoy flog nicht so schnell, was bedeutete, daß er einen engeren Looping fliegen konnte. Andy flog ein seitliches Ausweichmanöver, da er annahm, daß Russ Seitenschub geben würde, um das Manöver zu verändern, und gab dann einen Schuß ab. Die Granate flog ins Leere. Russ manövrierte nicht -sondern setzte den Looping fort, als fliege er eine Maschine mit fixen Tragflächen. Russ mußte doch wissen, daß er durch die Barriere fliegen würde. Warum würde er solch ein Manöver fliegen?

Russ würde nicht.

Plötzlich ergaben die Absonderlichkeiten einen Sinn. Jemand anderer als Russ flog den zweiten Montjoy. Bevor Andy sich fragen konnte, warum und wieso, erreichte der andere Montjoy die Fünfhundertmeter-Bar-riere und hörte einfach auf zu existieren.

»Drek! Wir sind zu spät«, rief jemand außerhalb von Andys Cockpit. Die Stimme mußte aus der wirklichen Welt kommen. Schwierigkeiten. Echte Schwierigkeiten.

Andys Blickfeld wurde schwarz, als ihn der Schock des Ausgeworfenwerdens erfaßte. Jemand hatte den manuellen Vorrangschalter an seiner Steuerkonsole umgelegt. Er war abgeschnitten und nicht mehr in der Lage, die Testleiter vor der Bresche in der Gebäudesicherheit zu warnen. Zischende Hydrauliken kündeten die unmittelbar bevorstehende Öffnimg der Luke an. Er konnte gerade noch die Augen schließen, um nicht in das grelle Licht der eingeschalteten Beleuchtung zu schauen.

Vorsichtig blinzelnd, sah er vier Leute in dem Raum: einen Troll, der den freien Platz darin fast allein ausfüllte, einen Ork, in dessen Augen sich Chrom widerspiegelte, ein schmuddelig aussehender Norm und -als einzige weibliche Person - eine kleine asiatische Frau mit weißen Haaren. Sie trugen weiße Overalls und verschiedene Gürtel und Taschen, alle außer der Frau, die kaum irgend etwas trug. Trotz seines schlechten Blickwinkels konnte Andy die Schulterabzeichen auf den Overalls sehen. Sie besagten: Telestrian Cyberdyne Wartung. Sie logen. Das war keine Wartungsmannschaft, konnte keine sein. Wäre es eine echte Wartungsmannschaft gewesen, hätten alle vier Overalls getragen. Diese Truppe konnte nur eines sein: Shadowrunner.

»Laßt uns das kleine Stück Drek geeken«, sagte der Ork.