5

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte die asiatische Frau. Sie saß auf dem Geländer des Laufstegs, der das Konsolencockpit umgab und erweckte nicht den Eindruck, als brächte sie ihre eigene Feststellung aus der Ruhe, aber ihre Worte schienen die anderen nervös zu machen, insbesondere den Ork.

»Darum müssen wir ihn schnell geeken«, sagte er.

Andy konnte nicht erkennen, ob die Chromschilde über den Augen des Orks Implantate oder nur aufgeklebt waren, aber die beiden Klingen aus glänzendem Metall, die aus seinem Ärmel glitten, waren echte Cyberware. Der Ärmel wies keine verräterische Wölbimg auf, die auf eine Einheit zum Umschnallen hingedeutet hätte. Dieser Ork war ein echter Straßensamurai. Die nadeldünnen Spitzen ragten zwanzig Zentimeter weit über das Handgelenk des Orks hinaus und wiesen genau den richtigen Abstand auf, um Andys Augen zu durchbohren.

Der Norm hielt seine Hände vor die tödlichen Sporne und sagte: »Wir sind nicht hergekommen, um Krach zu schlagen.«

»Mehr als ein zaghaftes Blöken wird er nicht von sich geben«, sagte der Ork. »Was sagst du dazu, du Schaf?«

»Tut mir nicht weh«, flehte Andy.

Andys Beziehungen zu Shadowruns reichten nur bis zum Shadownet, in dem er manchmal surfte. Er hatte von vielen richtigen Shadowrunnern gehört, war aber noch nie welchen begegnet. Nun, da sich das geändert hatte, war er sicher, daß er keiner von ihnen war. Seine Phantasien, ein Runner zu sein, kamen ihm jetzt sehr weit weg und sehr, sehr dumm vor.

»Niemand wird dir weh tun, Junge«, sagte der Norm.

»Genau«, stimmte der Ork zu, wobei er seine Klingen so rasch einzog und wieder ausfuhr, daß Andy nicht hundertprozentig sicher war, ob er sie überhaupt bewegt hatte. »Es ist so schnell vorbei, daß du nicht das geringste spüren wirst.«

»Augenblick, Augenblick.« Der Troll neigte den Kopf, als lausche er. Einen Moment später sagte er. »Yates ist okay, aber er ist von den Forschungsbänken ausgesperrt. Er kann die Beute nicht nach Hause bringen.«

»Drek. Wir sitzen in der Tinte.« Der Ork klang nicht überrascht. »Und alles nur wegen dieses kleinen Stücks Konzern-Drek.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte der Norm. »Wir wußten, daß wir ein Risiko eingehen, nachdem Yates die Hintertür gefunden hat. Wir werden einfach wieder nach Plan vorgehen.«

»Sie kommen«, sagte die Frau.

»Dann gehen wir«, sagte der Norm.

Die Frau sprang rückwärts über das Geländer und verschwand außer Sicht. Der Norm und der Troll sahen einander an und zuckten die Achseln.

»Nur noch ein Punkt auf der Geschäftsordnung«, sagte der Ork, indem er mit dem Arm ausholte.

Andys Augen waren auf die beiden Spitzen der Sporne des Ork-Samurais fixiert. Er sah sein Augenlicht, sein Leben, auf der Schneide dieser Klingen stehen. Er wartete, während ihm der Schweiß herunterlief, und er hoffte, daß er sich die Schande ersparen würde, in die Hose zu machen. Er hätte nie gedacht, daß er auf diese Weise sterben würde. Himmel, er hätte nie gedacht, daß er überhaupt je sterben würde. Über diese Dinge dachte man einfach nicht nach.

Aber die Sporne kamen nicht näher.

Als ihm bewußt wurde, daß er immer noch atmete, zwang sich Andy, sein Blickfeld zu erweitern, und sah, daß sich die Hand des Norms um das Handgelenk des Orks gelegt hatte. Die beiden Männer funkelten einander an. Der Troll sah zu, offenbar zufrieden, seine beiden Kumpel ihre Differenzen untereinander regeln zu lassen. Für den Augenblick waren »sie«, die kamen, vergessen.

»Er wird singen«, sagte der Ork.

»Das ist kein Grund, ihn zu töten«, sagte der Norm.

»Für mich schon.«

»Für mich nicht. Denk mal über folgendes nach: Wenn du ihn umbringst, wissen sie, daß wir hier gewesen sind. Wenn wir ihn mitnehmen, haben sie nur einen leeren, verschlossenen Raum. Ihn mitzunehmen, verschafft uns Luft.«

»Marksman hat recht«, sagte der Troll.

»Dich hat niemand gefragt, Rags«, schnauzte der Ork. Dabei wandte er den Blick keinen Sekundenbruchteil von dem Norm ab. Der Norm, der offenbar Marksman hieß, starrte zurück. Andy wäre nie in der Lage gewesen, den Samurai niederzustarren, aber dieser Marksman hatte ganz eindeutig Chuzpe. Der Ork war jedoch nicht gewillt aufzugeben. »Wenn du ihn am Leben läßt, singt er. Hetzt uns mit Sicherheit die Konzernbullen auf den Hals. Ich hab' kein Interesse, Tag und Nacht auf der Hut zu sein.«

»Nein!« Andy schüttelte heftig den Kopf. »Ich sag' keinem was.«

Der Ork verdrehte die Augen. »Ja, klar, bestimmt nicht.«

»Beeilt euch!« ertönte die Stimme der Frau von unten.

»Wir haben jetzt keine Zeit dafür«, sagte Marksman. »Rags, bring den Jungen auf Trab.«

Rags tat, wie ihm geheißen, und scheuchte Andy zu einer Bresche im Geländer nahe der Nase der Cockpit-Konsole. Von dort aus führte eine Leiter in die finsteren Tiefen unter dem Einstiegsniveau des Cockpits. Andy war bisher noch nie dort unten gewesen. Die Fahrer gingen nicht dorthin. Es war Tech-Territorium.

Hinter ihm hörte er Marksman sagen: »Wir kümmern uns später um den Jungen.«

»Später«, stimmte der Ork zu.

Rags legte Andy seine riesige Troll-Hand auf die Schulter und schob ihn in Richtung Leiter. Andy schaffte es gerade noch, sich festzuhalten, bevor er den schnellsten Weg nach unten nahm. Der Troll war ihm dicht auf den Fersen, und Andy mußte sich beeilen, um nicht vom herabsteigenden Rags erdrückt zu werden oder unter seine gewaltigen Füße zu geraten.

Unterhalb des Laufstegs war es wärmer, da Röhren, Luftschächte und Motoren in der Umgebung Hitze abstrahlten. Der Raum war gar nicht so klein, aber klaustrophobisch eingeengt von Stützstreben, Hydrauliklagern und andere für die Simulationen erforderliche Einrichtungen.

Eine virtuelle Umgebung leistete eine Menge, insbesondere mit SimSinn-Spuren in den Schaltkreisen, aber einige Effekte ließen sich immer noch am besten durch die Manipulation der physikalischen Umgebung des Users simulieren. Telestrian unternahm viele Simulationstests, und diese Tests erforderten sehr viele variable Umgebungen. Darum ging es hier unten. Die Konsolenkammern waren gebaut worden, um solche Tests zu ermöglichen und so realistisch wie möglich zu machen. Einige dieser Maschinen waren dafür verantwortlich, daß Andy in der Montjoy-Simulation tatsächlich die Beharrungskräfte gespürt hatte. So schmutzig und stinkend und laut es auch war, in gewisser Hinsicht war es faszinierend.

Aber er hatte keine Zeit, fasziniert zu sein. Der Troll trieb Andy vorwärts und unterstrich seine Worte mit Rammbock-Stößen in die Nieren. Rags hörte sich nicht irre an, aber die Stöße taten weh. Andy hatte das schreckliche Gefühl, daß der Troll noch sanft war. Trolle waren unmenschlich stark, und Rags war größer als der Durchschnitt seines Metatyps. Vielleicht kannte er seine Kraft gar nicht? Andy zitterte trotz der Hitze, die ihn umgab. War der Troll stark genug, um einer Person ein Glied nach dem anderen auszureißen? Würde Andy das auf die harte Tour herausfinden?

Da er seine Vorwärtsbewegung nicht völlig unter Kontrolle hatte - dank Rags -, schlug Andy immer wieder gegen die ihn umgebende Hardware. Er schrie vor Schmerzen auf und erfuhr dann, was echte Schmerzen, waren, als Rags ihn knuffte.

»Sei still«, sagte der Troll drohend.

Andy tat sein Bestes, doch Rags versetzte Andy immer wieder Stöße, die ihn gegen die harte und oft sengend heiße Hardware prallen ließen. Es gelang ihm, die Schreie zu unterdrücken, konnte aber nicht anders, als leise zu weinen.

Auch ohne Rags' Hilfe stieß Andy mit Kopf und Schienbeinen an, während sie durch das dichte Labyrinth der Maschinen stolperten. Es war nicht fair. Der Troll schien nicht halb so viele Probleme wie Andy zu haben, dem gewundenen Parcours zu folgen.

Mit einem letzten Schubser beförderte Rags Andy durch eine offene Tür in einer der Wände. Welche es war, wußte Andy nicht, da er auf dem Weg durch die Maschinen jegliche Orientierung verloren hatte. Rags folgte ihm und drängte ihn mit seiner Körperfülle gegen die kühle Wand eines Wartungskorridors. Marksman und der Ork waren direkt hinter Rags. Der Norm hatte den Korridor kaum betreten, als er auch schon eine Karte durch das Magnetschloß zog. Die Tür schloß sich zischend.

In dem Wartungstunnel wartete ein weiterer Ork. Er trug wie die anderen einen Telestrian-Overall. Zwar fehlte ihm der offensichtliche Chrom des ersten Orks, aber er sah dennoch nicht wie ein Angestellter Tele-strians aus: Er hatte etwas Wildes an sich, durch das er sich von allen Orks unterschied, die Andy kannte. Dieser Ork gehörte nicht in die Konzernwelt.

»Wer, zum Teufel, ist das?« fragte der Ork, der sich ganz eindeutig nicht darüber freute, Andy zu sehen.

»Gepäck«, sagte der erste Ork, indem er Andy zu dem anderen schob. »Und es ist dein Job, dafür zu sorgen, daß er uns keinen Ärger macht, Beatty.«

Beatty warf einen Blick auf Marksman, der nickte.

»Werd bloß nicht hungrig«, sagte der Ork-Samurai.

»Du meinst, ich kann ihn hier nicht essen?« Beatty sah enttäuscht aus, während er sich mit dem Finger über einen seiner Hauer strich. »Shamgar, du gönnst mir aber auch keinen Spaß.«

»Der Spaß kommt später«, sagte Shamgar.

Andy meinte, die Sporne des Samurais kurz herausschnappen zu sehen. Das Licht war nicht gut in dem Tunnel. Vielleicht hatte er sich geirrt?

»Wir kehren zum ursprünglichen Plan zurück«, sagte Marksman.

»Ich dachte, Yates hätte 'ne Abkürzung entdeckt«, sagte Beatty.

»Der Dreksack hier hat die Straßenkarte geändert«, antwortete Shamgar.

Beatty sah wütend aus. Und hungrig.

»Tut mir leid«, stammelte Andy. »Ich wollte euch keinen Ärger machen. Ich meine, ich wußte ja nicht mal...«

»Halt einfach nur das Maul«, knurrte Shamgar.

Andy hielt das Maul.

»So schlecht stehen die Dinge nicht«, sagte Marks-man. Andy wußte nicht genau, ob Marksman mit ihm oder den anderen Runnern redete, aber seine nächsten Worte waren eindeutig an die Adresse der Runner gerichtet. »Wir peilen unser ursprüngliches Ziel an und beschaffen Yates seine Verbindung. Wir werden genug Zeit haben, wenn wir zügig vorgehen.«

»Er wird alles sehen, was wir tun. Unsere Gesichter kennt er bereits«, beschwerte sich Beatty, indem er auf Andy zeigte.

»Kit wird sich um ihn kümmern«, sagte Marksman.

»Ach ja.« Beatty klang verlegen, als sei ihm etwas eingefallen, das er nicht hätte vergessen dürfen.

Kit? Wer war Kit? Und was würde Kit mit ihm anstellen?

»Sie ist nicht die Antwort auf alles«, sagte Shamgar.

»Sei da mal nicht so sicher«, erwiderte Marksman.

Kit mußte die asiatische Frau sein. Andy fragte sich immer noch, was sie mit ihm anstellen sollte. Er hoffte, daß es besser war, als von einem Troll in Stücke gerissen oder von einem wilden Ork gefressen zu werden.

Der Marsch durch den Wartungskorridor war nicht so schmerzhaft für Andy wie der durch die Tiefen des Cockpit-Raums, aber seine Nerven blieben zum Zerreißen gespannt. Diese Runner waren verzweifelte Leute. Sie wollten ihn nicht bei sich haben. Einige von ihnen wollten ihn nicht mal am Leben lassen. Was war, wenn sie von der Telestrian-Sicherheit entdeckt wurden? Andy gab keine besonders gute Geisel ab. Es würde mit Sicherheit ein Feuergefecht geben. In der Realität war diese Vorstellung nicht annähernd so reizvoll wie auf seinen virtuellen Runs.

Trotz seiner bösen Vorahnungen erreichten sie den Bestimmungsort der Runner, ohne jemandem zu begegnen. Die Tür vor ihnen trug die Aufschrift »Designzentrum für Industrie-Roboter«. Marksman stand vor dem Magnetschloß und zückte seine Karte.

»Davon würde ich abraten«, sagte Andy.

Marksman sah ihn fragend an. »Warum?«

»Das Hauptcomputersystem des Designzentrums ist heute für eine umfassende Wartung vorgesehen.« Die Neuigkeit war bei der Morgenbesprechimg bekanntgegeben worden. Die Designer würden nicht da sein, aber die echten Wartungstechs des Konzerns würden auf der anderen Seite der Tür bei der Arbeit sein. Wenn die Runner über die Arbeitsgruppe herfielen, konnten sie noch mehr Geiseln nehmen. Schlimmer noch - wenn irgend jemand, egal auf welcher Seite, in Panik geriet, mochte Shamgar seinen Willen bekommen, und dann mochten Leichen zurückbleiben, darunter vielleicht auch Andy.

»Ihr wollt einen Innenzugang zum Telestrian-Netz, richtig? Ich weiß noch einen anderen Ort, von dem ihr euch einklinken könnt. Dort wird niemand sein.«

»Stimmt das?« fragte Marksman.

Andy nickte feierlich. Es stimmte. Zumindest würde er sie dorthin bringen, wo niemand anderer zu Schaden kommen konnte.

Bedauerlicherweise glaubten ihm die Runner nicht. Marksman zog die Karte durch die Leseeinheit. Die Tür öffnete sich zischend zu einem dunklen, verlassenen Raum.

Das Designzentrum war nicht besetzt.

»Wir sind das planmäßige Wartungsteam«, sagte Marksman.

Die Runner gingen rasch hinein. Shamgar ging zur anderen Tür, um dort Wache zu stehen. Beatty blieb wie zuvor im Wartungskorridor. Rags ging zu einem der Cyberdeck-Terminals und zog einen schwarzen Kasten aus seinem Umhängebeutel. Er öffnete ein Seitenfach an dem Kasten und enthüllte eine Höhlung, in die er den Telefonhörer des Terminals legte. Er stöpselte das Cyberdeck in den Kasten ein, beugte sich über seine Konstruktion und flüsterte: »Yates?«

»Gute Verbindung«, sagte der Kasten.

»Mach schnell, Yates«, sagte Marksman.

»Ein Blitz ist langsam im Vergleich zu mir«, sagte der Kasten. »Ich bin schon weg.«

Fast eine Minute verging, bevor der Kasten anfing zu fluchen.

»Probleme?« fragte Marksman besorgt.

»Der Laden ist voller Ice.« Ice, die umgangssprachliche Bezeichnung für IC oder Intrusion Countermea-sure, waren Abwehrprogramme. Die übelsten Formen konnten einem Decker die Synapsen grillen. »Drek, ich sitze fest! Ich...«

Ihr Decker war offenbar auf ernste Schwierigkeiten gestoßen. Einer nach dem anderen drehten sich die Runner zu Andy um und sahen ihn an. Er konnte es ihren Mienen entnehmen, besonders der Shamgars - sie gaben ihm die Schuld daran, daß ihr Decker in der Klemme saß.