9
Auf der ganzen Heimfahrt mußte Andy immer wieder daran denken, was ZauberMann gesagt hatte. Er hatte zwar abgestritten, ein Wahrsager zu sein, sich aber wie einer benommen und gesagt, Andy habe ein Karma. Die Vorstellung, eine Bestimmung zu haben - bedeutend zu sein -, gefiel Andy. Er wollte glauben, daß er ein Karma hatte.
Aber Karma mußte nicht zwangsläufig gut, sondern konnte auch schlecht sein.
Und wenn Andys Karma schlecht war? Wenn sein unglückliches Zusammentreffen mit den Shadowrunnern der Anfang einer Talfahrt war? Wenn seine Stellung bei Telestrian Cyberdyne kompromittiert war? Wenn sie ihn nicht mehr als Testfahrer arbeiten ließen? Er sah plötzlich eine Menge Wenns. Wie, zum Beispiel: Wenn ZauberMann gar kein Schamane, sondern nur eine verrückte Straßenratte war?
Andy war danach, sich mit jemandem über das, was ihm widerfahren war, zu unterhalten. Seine Studienfreunde schieden aus, und dasselbe galt auch für seine On-Line-Chummer. Er wagte nicht, einem von ihnen mitzuteilen, daß es einen Datendiebstahl bei Telestrian gegeben hatte. Seine Mutter? Konnte er ihr erzählen, was er erlebt hatte? Was war mit seinen Schwestern?
Warum nicht? Sie waren schließlich seine Familie, oder nicht? Wenn sie ihm nicht dabei halfen, dieses Durcheinander zu ordnen, wer dann? Vielleicht sollte er sich mit Genifer in Verbindimg setzen. Seine Halbschwester hatte nichts mit Telestrian zu tun und würde die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. Natürlich würde er dann das Haus des Generals anrufen müssen, und das haßte er.
Er konnte es mit Russ versuchen. Russ hatte immer ein offenes Ohr für Andys Probleme. Aber war das überhaupt möglich? Russ war einfach verschwunden, als Yates den Montjoy übernommen hatte, und Andy hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war. Wahrscheinlich war Russ mit einem Auswurf-Schock davongekommen, aber Andy wußte es nicht. Er machte sich Sorgen um seinen Freund. Er stellte fest, daß er sich auch Sorgen machte, wie Russ wohl darauf reagieren würde, daß Andy mit den Runnern zusammengearbeitet hatte -falls er das getan hatte. Vom Zeitpunkt der Unterbrechung der Testfahrt an war alles immer noch sehr verschwommen. Ob Andy den Runnern geholfen hatte oder nicht, es würde mit Sicherheit so aussehen, da er mit ihnen verschwunden war. Russ war zwar ein untypischer Pinkel, aber er war seinem Konzern auch treu ergeben und würde sich verpflichtet fühlen, Andy zu melden. Das Gespräch mit Russ würde warten müssen, bis Andy die Situation besser einschätzen konnte. Er würde anfangen, indem er mit seiner Familie redete.
Trotzdem grübelte er den ganzen Weg zum Tele-strian-Komplex, durch die Tür zur Eingangshalle, an der Sicherheit vorbei und im Aufzug, der ihn zu den Wohngeschossen bringen würde, über die Möglichkeiten nach.
'Das Schild an der Wohnungstür besagte, daß seine Mutter Shayla zu Hause war. Andy fiel wieder ein, daß sie gerade Wechselschicht hatte. Heute war ihr freier Tag, also hatte er die Möglichkeit, es ihr gleich zu erzählen. Er fand sie im Wohnzimmer vor dem Trideo und an ihren letzten »Freund« gekuschelt, einen Ork namens Chunk Gonsalvo. Andy kannte Chunks richtigen Vornamen nicht. Normalerweise kümmerte er sich erst um derlei Kram, wenn ein Bursche mindestens einen Monat überstand. Auf dem Tisch neben der Couch stand eine kleine Phalanx leerer Bierflaschen. Das in Verbindung mit der frühen Stunde und dem zerknitterten Zustand seiner Kleidung verriet ihm, daß Chunk hier übernachtet hatte.
»Hi«, sagte Andy, als er den Raum betrat. Er war nervös, weil er nicht wußte, wie er anfangen sollte, und bereits halb und halb davon überzeugt, daß es besser war, wenn er ganz einfach über den Vorfall schwieg. Seine Mutter machte es ihm nicht leichter.
»Wo bist du gewesen?« Shaylas Stimme hatte bereits unüberhörbar den Zusammenstauch-Tonfall angenommen.
Da ihre Kleidung ebenso zerknittert war wie die Chunks, nahm er an, daß sie die ganze Nacht auf seine Rückkehr von der Arbeit gewartet hatte. Die Wache schien sich nicht positiv auf ihre Laune ausgewirkt zu haben, und wenn sie Erleichterung darüber empfand, daß er unbeschadet heimgekehrt war, verbarg sie sie sehr gut unter ihrem scharfzüngigen Ärger. Andy hoffte, daß sie verständnisvoller reagieren würde, wenn er ihr erklärte, was geschehen war. Aber wie sollte er anfangen? »Nun... ?«
»Ach, laß doch den Jungen in Ruhe, Shayla. Ein Mann redet über solche Dinge nicht gerne mit seiner , Mutter.« Chunk blinzelte Andy zu. Er versuchte sich bei Andy lieb Kind zu machen, seitdem er zum erstenmal hier übernachtet hatte. »Wenn man Glück hat, hat man eben Glück, was, Andy? Schlaf dich erst mal aus. Nein, sag' gar nichts. Ich war auch mal so alt wie du und weiß, daß du's nötig hast. Shayla wird dich krank melden, wenn du willst.«
»Das werde ich nicht«, sagte Shayla.
»Keine Sorge«, sagte Andy. »Ich gehe hin.« Er konnte es sich nicht erlauben, heute nicht zum Track zu gehen. Wenn er zu Hause blieb, würde er sich verdächtig machen, und er wollte sich nicht verdächtig machen. Das war eines der Dinge, die er sich auf der Heimfahrt klar gemacht hatte. »Mom, ich will dir erzählen, was letzte Nacht passiert ist. Ich hatte Ärger mit ein paar Shadow-runnern...«
»Shadowrunner!« Shayla verdrehte die Augen. »Wenn du zur Arbeit willst, hast du keine Zeit mehr für deine Spiele. Sieh dich nur an! Du siehst aus, als hättest du in deinen Kleidern geschlafen. Du ziehst die Sachen aus und saubere an, bevor du diese Wohnung verläßt. Ich will nicht, daß die Leute meinen Sohn für einen Penner aus irgendeinem Slum halten.«
»Aber das ist kein...«
»Kein Aber! Zieh dich um, sonst kommst du zu spät.«
»Aber...«
»Was habe ich gerade gesagt?«
»Hör auf deine Mom, Andy«, riet Chunk.
Andy funkelte sie an. Soviel dazu, daß Chunk sich bei ihm lieb Kind zu machen versuchte. Shayla hatte unrecht, und daran würde auch noch so viel mütterliche Schelte nichts ändern. Aber er konnte erkennen, daß er hier keine Sympathien gewinnen würde. Er beschloß, es bei seinen Schwestern zu versuchen.
Um diese Uhrzeit waren Cyndie und Lola natürlich damit beschäftigt, sich für die Arbeit fertig zu machen. Die Mädchen waren mitten in ihrem üblichen Wirbelsturm der Vorbereitungen - sie hatten jedenfalls nicht die Absicht zuzulassen, daß irgend jemand Shayla Walkers Mädchen für Penner aus irgendeinem Slum hielt. Außerdem hatten sie keine Zeit, Andy zuzuhören. Wie Shayla glaubten sie, Andy versuche ihnen eine weitere Geschichte über virtuelle Abenteuer zu erzählen, und sie gaben ihm keine Gelegenheit, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Schade, daß Asa nicht da war. Sie hätte ihn verstanden. Sie hätte ihm zugehört. Er hätte sie anrufen können, aber der Anruf würde vermerkt werden, und er war nicht sicher, ob er das wollte. Was, wenn er mit dem Diebstahl der Shadowrunner in Verbindimg gebracht wurde?
Irgendwo im Hinterkopf versicherte ihm eine Stimme, daß er mit den Taten der Shadowrunner nicht in Verbindung gebracht würde.
Aber wenn das nun nicht stimmte. Wenn jemand Andy mit dem Diebstahl in Verbindung brachte? Andy gehörte zur Telestrian-Familie, um Gottes willen! Wie sollte der Konzern ihm nicht nachspionieren, wenn man der Ansicht war, er hätte Verrat begangen, indem er den Runnern geholfen hatte? Wenn er Asa anrief, zog er sie damit nur in den Schlamassel hinein, und Konzerne wie Telestrian glaubten an Gruppenverantwortlichkeit. Was mochte ein Konzern, der seine Daten mit schwarzem Ice sicherte, der Familie eines Datendiebs antun?
Telestrian benützte schwarzes Ice? Woher hatte er diese Idee? Er hatte nie irgendein Indiz dafür gesehen, oder doch?
Man hatte in seinen Erinnerungen herumgepfuscht. Das war sicher. Er wußte, daß ihm die Runner die Erinnerung daran genommen hatten, wer sie waren und was sie getan hatten. Was hatte er noch vergessen?
Wut flackerte in ihm auf, als er daran dachte, was sie ihm angetan hatten. Was gab ihnen das Recht, in seinem Kopf herumzupfuschen, seinen Verstand umzukrempeln und zu entscheiden, was er behalten durfte und was nicht? Er war eine Person, gottverdammt noch mal! Sie hatten ihn benutzt und dann weggeworfen wie ein wertloses, nicht wiederverwendbares Stück Schrott.
Aber warum auch nicht? Was hatte Andy, der pflichtbewußte Telestrian-Angestellte, der er war, getan, um sie aufzuhalten? Was hatte er tun können? Er war wertlos für den Konzern. Die Shadowrunner hatten nur seine Wertlosigkeit demonstriert.
Vielleicht wollte er doch niemandem erzählen, was geschehen war.
Er duschte und zog sich um, wobei er sich die ganze Zeit fragte, ob es überhaupt einen Sinn hatte, zur Arbeit zu gehen. Hatte er überhaupt noch eine Arbeit, zu der er gehen konnte? Spielte es eine Rolle? Er wußte, wo er die Antwort auf die erste Frage finden konnte - er brauchte nur an seinen Arbeitsplatz zu gehen. Nachdem er die Wohnimg verlassen hatte, fand er es sonderbar schwierig, durch die Gänge der Cyberdyne-Abteilung des Komplexes zu gehen, aber er zwang sich dazu.
Der Track war ruhig, als er dort ankam, und Russ wartete nicht auf ihn. Niemand wartete. Andy versuchte es im Bereitschaftsraum. Russ war nicht da. Auch keiner seiner Stellvertreter. Unüblich, aber nicht das erstemal, daß so etwas vorkam. Dem schwarzen Brett entnahm Andy, daß für heute Testläufe mit dem Montjoy vorgesehen waren, doch sein Name war nicht auf der Liste der Testfahrer. Er rief die Arbeitseinteilung auf und stellte fest, daß er für Schreibtischarbeit eingeteilt worden war.
Wußten die hohen Tiere Bescheid? Aber wenn ja, hätten sie ihn dann nicht einfach von der Sicherheit abholen lassen und einem Verhör unterzogen? Die Tatsache, daß sie ihn nicht wegschleppten, mußte bedeuten, daß sie ihn nicht mit dem Shadowrun in Verbindung brachten. Vielleicht war der Run auch noch gar nicht entdeckt worden. Waren die Runner so gut? Ein Teil von ihm hoffte, daß dies der Fall war. Wenn niemand wußte, daß sie zugeschlagen hatten, würde auch niemand erfahren, wie wertlos Andy gewesen war.
Aber er selbst wußte es, und dieses Wissen förderte nicht gerade sein Selbstwertgefühl.
Die Schreibtischarbeit, für die man ihn eingeteilt hatte, war belanglose Beschäftigungstherapie. Seit über einem Jahr hatte er sich nicht mehr mit derartigem Drek abgeben müssen. Es war eine Degradierimg, mußte eine sein. Nun, das war ihm recht, weil er sie verdient hatte. Andy stöpselte sich ein und verbrachte den größten Teil des Morgens damit, sich oberflächlich mit den ihm zugewiesenen Datenbearbeitungen zu beschäftigen, während der Hauptteil seines Verstandes über die Ereignisse des Vortags brütete. Gestern war er noch ein glücklicher Lohnsklave gewesen, so glücklich, daß er sich über die Bezeichnung lustig gemacht hatte. Er hatte eine strahlende Zukunft vor sich gehabt, aber die schien jetzt verschwunden zu sein. Das hatten ihm die Shadowrunner angetan. Sie hatten ihm seine Zukunft geraubt. Und wofür?
Er konnte sich nicht einmal daran erinnern.
Und das hatten sie ihm ebenfalls angetan.
Sein Zorn über seine Verluste wuchs und erstickte schließlich Enttäuschung, Verlegenheit und Selbsthaß. Was hatten die Runner nur mit seinem Kopf angestellt? Er war ganz sicher, daß sie mehr getan hatten, als nur seine Erinnerungen zu löschen, wenngleich er sich natürlich nicht vorstellen konnte, was. Er wollte es wissen. Er mußte es wissen. Er konnte die Cyberware in seinem Kopf überprüfen. Und das war genau das, was er auch tun würde.
Er mochte erregt und beunruhigt sein, aber er war nicht völlig beschränkt. Er setzte eine spezielle Subrou-tine auf seine Arbeitsdateien an. Das System würde jetzt beschäftigt aussehen, so daß man ihn nicht mit noch mehr sinnloser Beschäftigungstherapie eindecken würde.
Unter der Maske seiner Phantombeschäftigung rief er sein bestes Diagnoseprogramm auf und setzte es auf seine Headware an. Als er die Meldung erhielt, daß alle Systeme normal funktionierten, hielt er nach etwas Un-gewöhnlichem Ausschau, nach etwas, das er nicht dort abgelegt hatte. Nichts. Trotzdem kam ihm etwas nicht richtig vor. Er prüfte wieder und wieder, beinahe besessen, und hielt nach versteckten Daten Ausschau, bis er etwas fand: eine Datei, die größer war, als sie eigentlich hätte sein dürfen, eine ausführbare Datei. Und nicht einfach irgendeine Datei, sondern die Haupt-Res-source-Datei - das Herz und die Seele seiner Head-ware.
Das Cyberterminal, an dem er arbeitete, verfügte über die Mittel, und Andy setzte sie rücksichtslos ein, um die verfälschte Datei auseinanderzunehmen und ihren Inhalt zu untersuchen. Abgesehen von den erwarteten Systemroutinen, fand er ein Programm, das dafür vorgesehen war, zusammen mit und innerhalb eines anderen zu arbeiten. Bei näherer Untersuchung schien es sich um einen Assoziationsverstärker oder Stimmungsmodifikator zu handeln. Was es auch war, es hatte geringe SimSinn-Funktionalität. Er ging das Programm mit einem Codeleser durch und erfuhr, daß es sich um einen Assoziationsverstärker handelte, der immer dann freundliche Gefühle in ihm weckte, wenn Telestrian Cyberdyne erwähnt wurde oder in einer internen Datei auftauchte.
Er bezweifelte, daß dafür die Runner verantwortlich waren. Die Erkenntnis, daß die Shadowrunner nicht die ersten waren, die sich an seinem Kopf zu schaffen gemacht hatten, schockierte ihn. Das Programm war so tief eingebettet, daß es nur zusammen mit dem grundlegenden Betriebssystem für seine Headware installiert worden sein konnte, was zu einer unausweichlichen Schlußfolgerung führte: Telestrian war dafür verantwortlich.
Er löschte das Programm, indem er den Code in seine Bestandteile zerlegte und jedes einzelne mit grimmiger Freude tilgte. Nachdem sein Zerstörungswerk vollendet war, fühlte er sich ausgelaugt und ein wenig verlegen. Bei Licht betrachtet, war der Assoziationsverstärker gar keine so schlechte Sache. Schließlich übte das Programm keinen Zwang aus, sondern war nur ein Überredungskünstler. War es schlimmer als die Assoziationsverstärker, die in der Werbung benutzt wurden?
Die ganze Zeit hatte er gedacht, er gehöre zur Tele-strian-Familie, weil es ihm gefiel dazuzugehören. Nun, es hatte ihm tatsächlich gefallen. Er hatte die Headware erst mit fünfzehn bekommen, also hatte er vorher ohne den Assoziationsverstärker gelebt. Warum hatte Tele-strian an der Headware-Programmierung herumgedoktert? Traute man ihm nicht zu, daß ihm der Konzern ohne das gefiel?
Plötzlich schien sich alles um Vertrauen zu drehen. Die Runner hatten ihm nicht vertraut. Telestrian offensichtlich auch nicht. Wem, zum Teufel, konnte er vertrauen?
Die Beschäftigungstherapie, für die er eingeteilt worden war, konnte eine direkte Folge der Vertrauensfrage sein. Was war, wenn die hohen Tiere bei Telestrian den Verdacht hatten, daß er an dem Datendiebstahl beteiligt war, es aber nicht genau wußten? Wenn sie ihn von wichtigen Dingen. fernhielten, während sie Nachforschungen anstellten? Sie würden vielleicht - nein, wem wollte er etwas vormachen -, mit Sicherheit nicht wollen, daß etwas davon an die Öffentlichkeit drang. Das Bekanntwerden eines Datendiebstahls konnte einen Konzern ein Vermögen an der Börse kosten.
Zuviel Spekulation. Zu viele Unbekannte. Er mußte wissen, wo er stand.
Er würde mit seiner eigenen Personalakte beginnen. Jeder hatte über seine Systemidentifikationsnummer direkten Zugang zu seiner Personalakte, doch Andy glaubte nicht, daß ihm der direkte Zugang irgend etwas bringen würde. Wenn er unter Verdacht stand, würde sich nichts in seiner Akte befinden, was ihn be-unruhigen konnte - jedenfalls nichts, wozu er direkten Zugang hatte. Wenn er sich mit einem anderen Tele-strian-Zugangscode Einlaß verschaffte, hatte er immerhin die Möglichkeit zu sehen, ob man andere Konzernmitglieder vor ihm gewarnt hatte. Glücklicherweise hatte er außer seinem eigenen noch einen anderen TZC: Russ' Code, den er vor zwei Jahren aus einem zufällig aktiven Terminal im Bereitschaftsraum abgestaubt hatte. Damals hatte Andy gedacht, eines Tages würde er vielleicht sehen wollen, was sein Boß über ihn sagte, aber bis jetzt hatte er noch nicht den Nerv gehabt, ihn zu benutzen. Heute schien der richtige Tag zu sein, ihn auszuprobieren.
Er verschaffte sich mit Russ' TZC Zugang, und nichts fiel über ihn her. Ermutigt rief Andy seine Akte auf. Er fand keine Alarmsirenen und auch nichts vor, das sich als Mahnung zur Vorsicht hätte interpretieren lassen -bis er sich Russ' Zugangscode zunutze machte und die Hintergrundstruktur seiner Akte unter die Lupe nahm. Er fand einen Wachhund und einen Spürer mit einem Übertragungs-Relais am Zugangstor zu seiner Akte. Der Wachhund würde demjenigen, der ihn darauf angesetzt hatte, melden, daß sich jemand Zugang zu der Akte verschafft hatte, und der Spürer würde dem Eindringling folgen, wohin er danach in der Matrix auch gehen mochte, während das Übertragungs-Relais nach Belieben Meldungen über seine Aktivitäten herausgeben konnte. Es handelte sich um das Matrix-Äquivalent einer Beschattimg, die im allgemeinen von einem Sicherheitsunternehmen durchgeführt wurde, wenn es jemandes Matrixaktivitäten beobachten wollte. Nach einer Analyse der Plazierung der Programme kam Andy zu dem Schluß, daß sie nicht der Telestrian-Ma-trixsicherheit gehörten. Die Wachhunde der Sicherheit wären in die Akte eingebettet gewesen, anstatt angeheftet.
Wenn nicht die Telestrian-Sicherheit für diese Falle verantwortlich war, wer dann? Die Runner? Das ergab keinen Sinn. Warum sollten sie sich jetzt noch für ihn interessieren? Ein Konkurrent der Runner, der hoffte, über Andy Zugang zu ihnen zu bekommen? Das ergab nur wenig mehr Sinn. Derjenige, welcher den Wachhund auf ihn angesetzt hatte, mußte glauben, daß Andy etwas wußte. Unter Berücksichtigimg der Lücken in seinem Gedächtnis war das eher ein Witz.
Aber vielleicht auch nicht. Er war sich zwar keiner Information bewußt, die eine derartige Aktion rechtfertigte, aber vielleicht begriff er auch ganz einfach nicht die Bedeutung von etwas, das er wußte. Er wußte, wie eines zum anderen kommen konnte. Niemand würde ihm glauben, daß er nichts wußte. Wenn es denjenigen, die ihn beschatten wollten, ernst war - und Andy hatte allen Grund, das zu glauben -, konnten sie beschließen, seine Familie zu benutzen, um ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen. Unglücklicherweise war ihm das nicht möglich - aber würden sie ihm das glauben? Unwahrscheinlich. Und selbst wenn er alles ausplauderte, was er wußte, was wußte er schon? Nichts. Mit Sicherheit nicht genug, um diejenigen zufriedenzustellen, die hinter ihm her waren. Sie würden ihren Unmut an seiner Familie auslassen. Das durfte er nicht zulassen. Er durfte nicht zulassen, daß seiner Mutter und seinen Schwestern etwas geschah.
Also, was konnte er tun?
Er untersuchte den Wachhund und den Spürer. Die Qualität der Programme auf seiner Akte legte nahe, daß er dem Decker, der die Arbeit erledigt hatte, im direkten Vergleich hoffnungslos unterlegen war. Andy war zwar als Decker nicht schlecht, aber sein eigentliches Talent war das Riggen. Auch mit mehr Zeit und besserer Hardware als der, die ihm zur Verfügung stand, würde es ihm vermutlich nicht gelingen, etwas zu knacken, das der Decker geschützt hatte. Seine Jäger aufzuspüren und zu identifizieren schied als Möglichkeit aus, und zu warten, bis sie zu ihm kamen, war nicht besonders klug.
Jede Ecke, um die er bog, wartete mit neuen, besorgniserregenden Überraschungen auf. Er fühlte sich mehr als nur ein wenig überfordert.
Er konnte zur Telestrian-Sicherheit gehen. Dort würde man sich mit Feuereifer daran machen, denjenigen in die Finger zu bekommen, der in die Telestrian-Matrix eingedrungen war. Da Andy jedoch von den Runnern benutzt worden war, traf diese Charakterisierung unglücklicherweise auch auf ihn selbst zu. Also schied auch diese Möglichkeit aus.
Schade, daß er sich nicht an Buckhead und Feather wenden konnte, aber dies hier war kein virtuelles Abenteuer. Abenteuer sollten lustig sein und nicht beängstigend. Dies hier war real.
Und beängstigend.
Andy der Shadowrunner hätte sich in einer Mikrose-kunde für ein Vorgehen entschieden und den Plan dann auch ungeachtet der Konsequenzen ausgeführt, aber der Andy aus der realen Welt konnte das nicht. Er schwankte hin und her und wußte nicht, welches Vorgehen ungefährlich sein würde. Schließlich wurde ihm klar, daß es falsch war, nach einem ungefährlichen Vorgehen Ausschau zu halten, weil es keines gab. Er wünschte, er könnte Andy den Shadowrunner nach einer besseren Lösung fragen, aber Antworten aus einer Scheinwelt konnten reale Probleme nicht lösen.
Vielleicht boten ihm seine virtuellen Shadowruns trotz alledem eine Antwort. Er hatte oft genug gespielt, um einige der Regeln des Schattengeschäfts zu verstehen, und er wußte zwar, daß der Spiegel der Virtualität keine originalgetreuen Abbildungen lieferte, aber er wußte auch, daß die strategischen Grundprinzipien innerhalb wie außerhalb der Matrix galten. Wie in einem Traum sah er einen Ausweg.
Nachdem er die Idee gründlich betrachtet und nach Schwächen abgeklopft hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie eine Chance sei. Sie war drastisch, würde aber gewährleisten, daß seine Familie nicht in den Schlamassel hineingezogen wurde, der sich um ihn herum entwickelte. Um sie in die Tat umzusetzen, würde er viel arbeiten und bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten gehen müssen, aber er glaubte, daß er es schaffen konnte, wenn seine Nerven mitspielten.
Unter neuerlicher Ausnutzung von Russ' Code unternahm Andy einen ernsthaften Ausflug in die Matrix. Es war drei Uhr morgens, als er endlich fertig war.
Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Die falsche ID, die er unter Benutzimg von Russ' TZC zusammengebastelt hatte, würde beim morgendlichen System-Update gelöscht werden, und bis dahin blieben ihm nur noch zwei Stunden.
Er ging in die Wohnung zurück. Es war still, und er tat nichts, um diese Stille zu stören. Seine Mutter wartete diesmal nicht auf ihn. Ein simpler Anruf im Lokali-sierungs-Zentrex würde ihr verraten haben, daß sich Andy immer noch in der Sicherheit des Telestrian-Ost-Komplexes befand und Überstunden machte. Aber er war nicht in Sicherheit. Keiner von ihnen war es oder würde es sein, wenn sein Plan nicht funktionierte.
Aus seinem Zimmer holte er sich diejenigen seiner Habseligkeiten, von denen er glaubte, daß sie ihm nützlich sein konnten. Es war nicht viel, was auch gut so war, weil er nicht viel mitnehmen konnte, ohne verdächtig auszusehen. Er wählte Kleidung, die einerseits robust und andererseits möglichst unauffällig war. Von dem Zeug, das er mitnahm, war das wichtigste sein Sony CTY-370 Cyberdeck und sein Werkzeugsatz. Damit war seine Tasche fast voll, also blieb ihm gar keine andere Wahl, als mit leichtem Gepäck zu reisen. Als letztes nahm er die Narcoject-Nachbildung und einige der Talismane, die er sich in seiner Verner-Phase gekauft hatte. Die Kanone war nicht echt, sah aber so aus, und die Talismane - nun, sie konnten nicht schaden.
Trotz aller Versicherungen seinen Schwestern gegenüber hatte er die Talismane nicht weggeworfen. Er hatte sie aus einer Laune heraus behalten, und vielleicht machte sich diese Laune jetzt bezahlt. Sie sollten angeblich Schutz vor Zaubern und böswilligen Geistern bieten. Man hatte ihm versichert, sie seien echt, als er sie gekauft hatte, aber er war ein Normalsterblicher - woher sollte er es wissen? Vielleicht waren sie echt, und in diesem Fall würden sie helfen. Er konnte weiß Gott alle Hilfe brauchen, die er bekam.
Denn schließlich, wenn alles nach Plan verlief, würde er in einer Stunde tot sein.