15
Die Concordia prallte hart auf, und irgend etwas schrammte den Unterboden entlang, als Andy sie herumriß und sie auf den grasbewachsenen Randstreifen rutschten. Er war sicher, daß ihnen etwas von dem Wagen abhanden gekommen war. Aber es gab Dinge, die man gerne zurückließ. Über die Außenmikrofone kam das Knattern von MG-Feuer, das den Asphalt an der Stelle aufriß, wo sie sich gerade noch befunden hatten. Über ihnen dröhnte das Schrappen der Rotoren des Yellowjacket-Kampfhubschraubers.
Das Monitorbild zeigte den Yellowjacket, der sich in eine enge Kurve legte, um für einen weiteren Anflug zu wenden. Andy gab der Concordia die Sporen, und die Motorendrehzahl schnellte hoch, während das Cougar-6200-Interface Andys Herz schneller schlagen ließ und den Adrenalinausstoß erhöhte. Das lag an der Verbindung, die ein Rigger mit seinem Gefährt einging. Doch die Angst dämpfte Andys normales Leistungshoch. Es war mehr als Gasgeben und Adrenalin erforderlich, um dem Jäger zu entkommen. Diese Concordia war bewaffnet, aber sie war ausschließlich auf den Straßenkampf ausgelegt und nicht mit Boden-Luft-Waffen bestückt.
Wäre es seine Concordia gewesen...
Aber Wunschdenken brachte ihn jetzt auch nicht weiter. Der Yellowjacket wendete und nahm Anlauf, um sie in ihre Bestandteile zu zerlegen, während Andy die Concordia wieder auf den Asphalt lenkte. Sie war nicht dafür eingerichtet, mit ihrer derzeitigen Geschwindigkeit querfeldein zu fahren, und der letzte Ausflug hatte ihr weh getan. Die Straße war kurvig, und Andy hielt sich am Rand und schlingerte ständig und unregelmäßig hin und her, um dem Piloten des Yellowjacket ein möglichst schlechtes Ziel zu bieten. Der Yellowjacket kippte seitlich weg und gewann an Höhe, um sich auf einen weiteren Anflug vorzubereiten. Andy war es gelungen, dem Piloten auf diesem Anflug einen gutgezielten Feuerstoß unmöglich zu machen. Er war erleichtert. Echtes Riggen war nicht so leicht wie virtuelles Riggen.
Er erhöhte die Leistung der Klimaanlage, weil er so stark schwitzte, daß er langsam anfing, unangenehm zu riechen.
»Navigations-Update zeigt, daß die Roosevelt Bridge immer noch gesperrt ist«, sagte Markowitz. Diesen Weg hatten sie nehmen wollen. Markowitz' Tonfall klang so gelassen, als mache er eine Bemerkung zur Verkehrsdichte während der Stoßzeit, als er fortfuhr: »Für einen Verkehrsimfall brauchen sie verdammt lange, um die Brücke wieder klarzumachen.«
»Wie, zum Teufel, sollen wir dann über den Fluß kommen!«
Andy wollte es wissen, und zwar bald. Das Ende der Straße war fast erreicht. Bis jetzt hatten ihnen die Bäume am Rand des George Washington Parkway ein wenig Deckung geboten. Das würde sich ändern, sobald sie Arlington erreichten - in etwa einer Minute. Die Roosevelt Bridge war die schnellste Übergangsmöglichkeit über den Potomac. Und wenn sie die nicht nehmen konnten, mußten sie weiter nach Süden fahren. Und wenn sie weiter nach Süden fuhren, würden sie in der Gegend des Arlingtoner Friedhofs auf beunruhigend freies Gelände stoßen. Dort waren sie leichte Beute für den Yellowjacket.
Der wieder da war. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als Andy Deckung suchte. Nicht genug. Er fuhr zick-zack. Der Yellowjacket klebte an ihnen. Er schoß. Kugeln hämmerten gegen den rechten hinteren Kotflügel, aber der Panzerung der Concordia machte das herzlich wenig aus.
Unglücklicherweise traf wenigstens eine Kugel den rechten Hinterreifen. Die Rückkoppelung bewirkte, daß Andy einen Stich im rechten Bein verspürte, während er sich alle Mühe gab, die Concordia am Ausbrechen zu hindern. Es schmerzte wie die Hölle, aber es war nicht weiter schlimm. Das Druckluft-System sprang an und flickte den Reifen. Kurz darauf reagierte die Concordia wieder normal. Solange der Pilot des Yellowjacket nicht besser zielte, würden sie sich noch eine Weile halten.
»Was ist mit der Key Bridge?« fragte Markowitz.
»Nicht, solange er uns so dicht auf den Fersen ist.« Andy hatte Schwierigkeiten, genug Luft zu finden, um gleichzeitig atmen und reden zu können. »Außerdem verfransen wir uns in Georgetown, wenn wir es über die Brücke schaffen.«
»Okay, okay. Dann fahr nach Rosslyn.«
»Die Straßen werden uns aufhalten.«
»Aber ihm helfen sie auch nicht.«
Andy befolgte Markowitz' Vorschlag. Den Wagen auf der Straße zu halten und dem Yellowjacket auszuweichen, ließ ihm keine Zeit, eine Route zu suchen. »Mach schon«, drängte er Markowitz. »Gib mir Anweisungen.«
»Fahr zurück nach Norden auf die Military Street und dann in Richtimg Chain Bridge«, sagte Markowitz. Andys Karte veränderte sich. Markowitz' vorgeschlagene Route wurde hervorgehoben. »Müßte uns genug Deckung geben, um ihn abzuschütteln.«
»Auf der anderen Seite werden wir langsamer sein«, stellte Andy fest.
»Wenigstens ist die Brücke für den Verkehr geöffnet. Das letzte Update zeigt, daß alle anderen Flußübergänge gesperrt sind.«
Dagegen konnte Andy nichts einwenden, aber dann kam ihm ein neuer Gedanke. »Der Pilot des Yellow-jackets wird das auch wissen. Die Brücke ist viel unwichtiger als die anderen. Was sollte ihn davon abhalten, ein Sieb aus uns zu machen?«
»Nur unser Timing. Wir müssen die Brücke überqueren, wenn er gerade nicht hinsieht. Also mußt du ihn zuerst abschütteln.«
»Was ist bloß aus den Shadowrunnern geworden, die in den Schatten geblieben sind?« fragte Andy.
»Frag mich nicht, Junge. Ich fliege diesen Vogel nicht.«
Andy versuchte sich zu verstecken, während der Yel-lowjacket-Pilot nach ihnen suchte. Auf seinen virtuellen Runs hatte er solche Spiele oft gespielt, aber dies war kein Spiel, woran ihn der nachlassende Schmerz in seinem Bein nachdrücklich erinnerte. Zum Glück für sie schien der Pilot Bedenken zu haben, in den Wohngebieten, durch die sie jetzt fuhren, auf sie zu schießen. Ein Brand auf einem Schrottplatz in der Nähe der Überführung über die Glebe Road bot ihnen die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatten. Sie erreichten den Brandherd in dem Augenblick, als der Yellowjacket gerade an ihnen vorbeigeflogen war, und Andy fuhr direkt am Rande des Flammen hinter eine Deckung, so daß die Hitzeabstrahlung der Concordia mit dem Feuer verschmolz und sie für alle Infrarot-Abtaster unsichtbar wurden. Als er es schließlich für ungefährlich hielt, fuhr er vorsichtig weiter und hielt mit dem Radar nach dem Hubschrauber Ausschau. Er fand ihn über dem Potomac, wo er patrouillierte, indem er zwischen den Brücken hin und her flog, um zu gewährleisten, daß er da sein würde, wenn sie sich an der Flußüberquerimg versuchten.
Andy richtete es so ein, daß der Hubschrauber nach Süden unterwegs war, als er über die Chain Bridge raste, dann entfernte er sich vom Fluß und fuhr in das ruhige mit Bäumen bepflanzte Wohngebiet um MacAr-thur herum ein. Das Radar blieb stumm und meldete nichts dergleichen, daß ihnen der Yellowjacket auf den Pelz rückte. Andy entspannte sich. Er fuhr gerade die Loughboro Road entlang, als er erfuhr, daß nicht er der gerissene Bursche war - der Yellowjacket schoß um ein Gebäude herum und zeigte sich auf dem Radar nicht eher als auf dem optischen Monitor.
Der Pilot des Yellowjacket hatte sie gesehen, aber so getan, als hätte er sie verloren, und dann die Häuser als Deckung benutzt, um sich ihnen zu nähern. So müde Andy auch sein mochte, Erschöpfung war keine Entschuldigung für Dummheit. Keine Entschuldigung war gut genug. Dies war kein Spiel, und die Suche einer Entschuldigung war gleichbedeutend mit dem Versuch, Kugeln auszuweichen. Das Problem war nur, daß es keine Ausweichmöglichkeit gab, als der Yellowjacket zu seinem Anflug ansetzte.
Der Pilot hatte seine Lektion gelernt und zielte auf die verwundbaren Reifen der Concordia. Ein Bleihagel zerfetzte Mantel, Schlauch und Füllmasse. Der Wagen legte sich schräg und geriet ins Schleudern. Andy kämpfte dagegen an, aber zwischen den simulierten Schmerzen einerseits und dem Verlust der Kontrolle über den Wagen andererseits konnte er nicht viel tun.
Die Concordia kippte auf die Seite und rutschte einen halben Block weiter, bevor sie von einem Laternenpfahl am Kotflügel erwischt wurde. Sie wurde brutal herumgerissen und prallte gegen ein Gebäude. Andy fühlte sich wie die kleine Kugel in einer Sprühdose, die jemand loszuschütteln versuchte. Die Concordia kippte wieder auf die Räder zurück und kam mit einem heftigen Ruck zum stehen. Die Airbags explodierten förmlich und hüllten Andy und Markowitz ein. Die Fahrer hatten überlebt, aber die Concordia war tot. Das Interface war zerstört, die Fenster waren dunkel, und der Gestank nach verbranntem Gummi und brennendem Plastik verpestete die Luft in dem Wagen. Andy mußte in dem rasch dichter werdenden Qualm husten.
»Bist du okay, Junge?« fragte Markowitz.
Verbeult, verschrammt, verbrannt, benommen von der Fahrt und dem jähen Abreißen der Verbindimg mit dem Cougar-6200 und am Rande einer Rauchvergiftung. Ja, klar, er war okay.
»Junge?«
»Ich werd's überleben.« Andy zog sich das nutzlose Datenkabel aus der Buchse. »Was jetzt?«
Markowitz drehte sich um und zerrte etwas von einem der Gestelle im rückwärtigen Bereich: eine Art Gewehr mit einem extrem großkalibrigen Lauf.
»Was ist das?«
»Eine Netzkanone. Normalerweise benutzt man das Ding, um ein Netz über unnatürliche Tiere zu schießen. In Eisen gefaßte Maschen aus versponnenen Kohlefasern mit versilberten Spitzen an den Knotenpunkten. Macht alle möglichen Viecher unglücklich. Obwohl das Silber nicht viel Wirkung gegen dieses unnatürliche Tier haben wird.« Markowitz stieß die Tür auf und ließ frische Luft in die Fahrerkabine. Es wurde zwar nicht kühler, aber ein Teil des Rauchs zog ab. »Bleib ruhig.«
Markowitz setzte sich eine Verstärkerbrille auf und glitt dann aus seinem Sitz, um sich unter die Deckung der Flügeltür zu hocken.
Der Yellowjacket kam zurück. Zweifellos, um sich über seinen Abschuß zu vergewissern. Dem Geräuschpegel konnte Andy entnehmen, daß der Pilot die Schalldämpfer eingeschaltet hatte. Warum auch nicht? Geschwindigkeit war jetzt nicht mehr wichtig.
Andy spielte an der manuellen Steuerung der Con-cordia herum, um die Fenster dazu zu bringen, sich zu polarisieren, damit er etwas sehen konnte. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, um mitanzusehen, wie der Hubschrauber seinen Anflug stoppte, um dann auf der Stelle zu schweben. Einen Block entfernt hing der Yellowjacket wie eine riesige Libelle aus Metall in der Luft, um seinem Opfer den Rest zu geben. Das MG unter seiner Nase drehte sich, den Lauf vorgereckt, als schnüffle er nach Beute.
Der Yellowjacket schob sich etwas zur Seite, da der Pilot seinen Blickwinkel zu ändern versuchte, um einen Blick durch die offene Tür der Concordia zu werfen. Markowitz bot ihm ein Ziel, als er einen Schritt vortrat und seine Waffe schulterte.
Selbstmord.
Doch Markowitz hatte den Zeitpunkt seiner Aktion gut gewählt. Das MG des Yellowjacket zeigte in eine andere Richtimg. Während es sich in seine Richtung drehte, schoß Markowitz. Er wartete das Ergebnis seines Schusses nicht ab, sondern hechtete in den Wagen zurück. Kugeln rissen den Asphalt auf und prallten gegen die Panzerung des Wagens, doch keine erwischte den verwegenen Runner.
Markowitz, der quer über seinen Sitz lag, konnte nicht sehen, ob sein Schuß getroffen hatte, aber Andy hatte einen Platz in der ersten Reihe. Der Behälter, den das Gewehr abgefeuert hatte, öffnete sich und spie das Netz aus, das sich im Flug ausbreitete. Der Pilot ver-suchte dem Geschoß auszuweichen. Das Netz verfehlte zwar den Rumpf, hüllte jedoch die wirbelnden Rotoren der Maschine ein. Die Rotorblätter peitschten das Netz herum und wickelten es um die Rotornabe. Das Triebwerk des Hubschraubers heulte auf, als es gegen die Strangulierung des Netzes ankämpfte. Rauch quoll aus Abzugsöffnungen, und der Yellowjacket neigte sich zur Seite. Als die Rotoren blockierten, fiel er wie ein Stein vom Himmel. Die Nase prallte zuerst auf, und das Kanzeldach zersplitterte. Durch die Erschütterung des Aufpralls rissen sich die Rotoren aus der Fesselung des Netzes los. Ein Blatt schlug auf den Bürgersteig, verbog sich und stoppte. Der Yellowjacket bockte und drehte sich auf den Rücken, bevor er endgültig auf die Straße krachte. Eine Stichflamme schoß aus dem zerschmetterten Kanzeldach, dann folgte eine ölige Rauchwolke folgte. Sekunden später war das Hubschrauberwrack in Flammen gehüllt.
»Du hast ihn erledigt.« Andy war verblüfft und wußte, daß er auch so klang.
»Glaubst du, mein Straßenname wäre leere Prahlerei?«
Er war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, daß Marksman tatsächlich ein Scharfschütze sein könnte.
Andy hoffte, daß der Pilot schon bei dem Absturz ums Leben gekommen war. Andy hatte sein vorgetäuschter Tod bei einem Cockpitbrand ereilt. Er wünschte niemandem, tatsächlich auf diese Weise zu sterben. »Mußtest du ihn töten?«
»Meinst du nicht, daß er es herausgefordert hat? Schließlich hat er versucht, uns zu töten. Schon vergessen?« Markowitz zerrte die Kühlbox aus dem rückwärtigen Teil des Wagens. »Komm schon, Junge, hier dürfen wir nicht bleiben.«
Andy mußte zur Beifahrertür hinauskriechen und kroch gleich wieder zurück, um sein Deck zu holen. Er hatte die Info-Dateien in seine Headware kopiert, aber er würde die Hardware brauchen, wenn er das Zeug entschlüsseln wollte, und das Deck war alles, was ihm dafür zur Verfügung stand. Er hätte das Fuchi fast an die Ork-Gang verloren, als sie es ihm abgenommen hatten, aber er hatte Glück gehabt. Nachdem Kit ihn geheilt und sein Verstand wieder gut genug funktioniert hatte, um sich daran zu erinnern, daß Hab Schiß das Deck fallen gelassen hatte, war er zurückgegangen, um es zu suchen, und hatte es - zu seinem Erstaunen -tatsächlich in der Gasse gefunden. Er konnte nicht darauf hoffen, noch einmal soviel Glück zu haben, wenn er es hier im Wagen ließ.
In der Zwischenzeit hatte Markowitz die Schlösser der Kühlbox geknackt und den Kasten mit den Medikamenten herausgeholt, und jetzt war er dabei, sich einzelne Röhrchen und Döschen in die Taschen zu stopfen. Er schien die Leute, die sie aus Häusern und hinter Ecken beobachteten, überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Ein Glück, daß wir es nicht mehr weit haben. Ohne Kühlung wird das Zeug die Hitze nicht lange überstehen.« Er ging zur Concordia zurück und strich mit der Hand über eine Reihe von Geschoßnarben. Mit einem Seufzer warf er etwas auf den Rücksitz. Als sie sich entfernten, loderten Flammen im Innern der Concordia auf.
»Sie war schon ein gutes altes Roß«, sagte Markowitz. »Ich werde sie vermissen. Wahrscheinlich werden wir uns noch wünschen, wir hätten sie noch, bevor dieser Run vorbei ist.«
Markowitz ging wortlos an dem abgeschossenen Yel-lowjacket vorbei. Einen halben Block weiter bückte er sich und hob - wiederum wortlos - etwas auf. Andy folgte ihm. Was hätten Worte auch für einen Sinn gehabt? Er drehte sich nach den beiden brennenden Fahrzeugen um. Das war keine virtuelle Realität mehr. In der virtuellen Realität roch man es nie, wenn die Schurken verbrannten.
Trotz Markowitz' böser Ahnungen wickelten sie die Übergabe der Medikamente ohne weitere Schwierigkeiten ab. Die Medizin hatte es überstanden und würde Leben retten. Kit würde sich freuen. Sie hatten tatsächlich geholfen. Wog das das Leben des Mannes auf, den Markowitz getötet hatte? Der Hubschrauberpilot hatte tatsächlich versucht, sie umzubringen. Markowitz hatte sich nur gewehrt.
Die virtuellen Schurken umzubringen war viel leichter. Andy hatte den Gestank des brennenden Hubschraubers immer noch in der Nase.
»Denk nicht zuviel darüber nach«, sagte Markowitz.
»Was...«
»Es ist besser so. Vertrau mir.« Er nahm Andys Arm und führte ihn vom Treffpunkt weg. »Komm, Junge. Ich kenne einen durchgehend geöffneten Laden nicht weit von hier. Du wirst dich besser fühlen, wenn du etwas in den Magen bekommst, was ihn unten hält. Oder auch umstülpt, wenn es so sein soll.«
Der durchgehend geöffnete Laden war ein All Hours, ein dunkles, ruhiges kleines Geschäft, das den normalen Lebensmittelverkauf mit einem Schnellimbiß verband. Sie waren die einzigen Gäste an den Tischen. Markowitz traf eine Wahl an der Theke und stellte etwas vor Andy auf den Tisch. Andy sah den Teller nicht einmal an, schloß jedoch die Hände um die Tasse mit dampfendem Soykaf. Seine Hände fühlten sich trotz der schwülen Nacht kalt an. Markowitz beachtete sein Essen ebenfalls nicht. Statt dessen zog er etwas aus der Tasche und fing an, es in den Händen herumzudrehen und von allen Seiten zu betrachten. Trotz seiner Laune war Andy neugierig.
»Was ist das?«
»Ein Stück von dem Vogel, der uns erledigen wollte.« Markowitz fuhr fort, das Stück Schrott in den Händen zu drehen. Nach einer Weile hörte er auf und wischte mit dem Daumen über eine Stelle. Dann hielt er es ins Licht und blinzelte es an. »Das stammt aus Militärbeständen. Wir haben Ärger mit der Armee.«
»Mach dich nicht lächerlich. Auf der Straße findet man haufenweise überschüssige und geklaute Ware. Das ist nur ein Zufall.«
»An Zufälle zu glauben kann einen schneller das Leben kosten, als man meint.«
»Verschwörungen zu sehen, wo es keine gibt, kann zu demselben Ergebnis führen.«
»Junge, ich sage dir, daß man es sich gar nicht leisten kann, keine Verschwörungen zu sehen. Besser, man geht davon aus, daß der Drek, in dem man steckt, tiefer ist, als er in Wirklichkeit herausstellt, als zu glauben, man springe in eine Pfütze, und plötzlich steht einem das Wasser bis zum Hals. Der Yellowjacket war im aktiven Dienst. Wenn nicht, wäre die Seriennummer, die ich auf diesem Stück Schrott entdeckt habe, mit einem Laser weggebrannt worden.«
»Dann war er eben im aktiven Dienst. Muß eine Grenzpatrouille gewesen sein. Schließlich haben wir tatsächlich geschmuggelt.« Andererseits waren in der Datenbank der Concordia keine Yellowjackets in Diensten der Grenzpatrouille aufgelistet gewesen. Andy hatte nachgesehen, als er den Hubschrauber auf dem Radar entdeckte.
»Dir fällt bestimmt noch was Besseres ein, Junge.«
»Okay. Die Grenzpatrouille kann unter gewissen Umständen Militärgerät anfordern, um den Drogen-und Chiphandel zu unterbinden. Wir hatten Drogen dabei.«
»Nicht diese Art Drogen.«
»Also schön. Wenn es eine Verschwörung gibt, wo ist die Verbindung?«
»Wir können bei dem Johnson anfangen, der mein Team für den Run gegen Telestrian angeheuert hat. Er muß von der Armee gewesen sein.«
»Er hat dir das gesagt, und du hast ihm geglaubt?«
»Gesagt hat er uns gar nichts, aber er roch nach Armee. Damals habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Viele ehemalige Armeeangehörige arbeiten als Teil des symbiotischen Eine-Hand-wäscht-die-andere-Systems für die Konzerne. Die Verbindung war die ganze Zeit vor meiner Nase, und ich habe sie nicht gesehen. Jesus, ich muß langsam nachlassen.«
»Habt ihr ihn nicht überprüft?«
»Natürlich haben wir«, schnauzte Markowitz. »Wir haben alles genommen, was er uns gesteckt hat, haben ihn durchleuchtet und hier und da herumgeschnüffelt, und herausgekommen ist Fuchi. Was meiner Ansicht nach auch logisch war. Fuchi hat ein geschäftliches Interesse an allem, was Telestrian tut, und wenn das Mont-joy-Projekt tatsächlich so bahnbrechend ist, wie Johnson behauptet hat, war klar, daß Fuchi alles tun würde, um die Daten in die Finger zu bekommen. Ich dachte, der Schwindel ergäbe einen Sinn, aber irgendwas daran hat Yates mächtig gestört. Er hat tiefer gegraben, und als er nichts finden konnte, hat er sich den Frame angesehen, in dem alles gekommen ist. Er sagte, unser Johnson benutze militärische Hardware für seine Deckerei. Ich Idiot hielt das für keine so große Sache. Wie du schon sagtest, die Maschen des Militärs sind so groß, daß man seine Hardware überall auf der Straße sieht.
Aber wenn man zu viel von dem Zeug an einem Ort sieht, besonders eine komplette Ausrüstung, hat man es tatsächlich mit dem Militär zu tun. Warum? Weil die meisten Schattenspieler den Kram benutzen, den sie haben, weil sie daran gewöhnt sind und Vertrauen darin haben. Warum auch nicht? Schließlich rechnen sie nicht damit, erwischt zu werden. Es hätte mir früher auffallen müssen, aber besser spät als post mortem. In dieser Sache stolpert man viel zu oft über die Armee. Sie stinkt.«
»Aber warum sollte uns die Armee umbringen wollen?«
»Die Regierung mag es nicht, wenn sich ihre Unterabteilungen in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Spionage ist die Domäne von DSA, CIA und FBI. Alle drei haben ein Stück vom Kuchen, aber was eigene autorisierte Schattenressourcen anbelangt, steht die Armee mit leeren Händen da. Jawoll. Alles läuft auf die Armee hinaus. Alle von Yates' Verbindungen deuteten auf Armee hin, und die Armee ist der einzige Dienst, der Kampfhubschrauber fliegt.«
»Die DSA hat Verbindungen zum Militär einschließlich der Armee.« War es nicht sinnvoll für einen Geheimdienst, Armee-Ressourcen zu benutzen, wenn er in verdeckte Aktivitäten verwickelt war? »Vielleicht hat sie den Run finanziert.«
»Vielleicht«, sagte Markowitz. »Aber du vergißt eine Sache. Wenn einer der Geheimdienste dahintersteckte, wäre ein Shadowrun eine ganz normale Angelegenheit. Es gäbe keinen Grund für sie, das Werkzeug aus dem Verkehr zu ziehen.«
Plötzlich ging Andy ein Licht auf, und er sah, worauf Markowitz hinauswollte. »Also glaubst du, die Armee hat dein Team für den Run angeheuert und will jetzt jeden loswerden, der sie mit dem Unternehmen in Verbindung bringen kann, damit ihre Weste sauber bleibt.«
»Es gefällt mir zwar nicht, aber so stellt sich die Sache für mich dar. Sammy ist verschwunden. Heute nacht waren sie hinter dem Wagen her. Normalerweise hätten Kit und ich darin gesessen. Zwei Fliegen mit einer Klappe für sie. Keine Rurtner bedeutet, keine Möglichkeit, sie mit ihrem illegalen Unternehmen in Verbindung zu bringen.«
»Das wäre ein eiskalter Plan.«
»Es gibt ein paar ziemlich kalte Fische in Uniform. Hast du je von Newmans Grove gehört?«
»Nein.«
Markowitz nickte wissend. »Hätte mich auch gewundert. Sie haben die Sache äußerst geheim gehalten.
Wahrscheinlich wirst du nie etwas darüber hören, wenn du nicht zufällig jemanden triffst, der dabei war.«
»Jemanden wie dich?«
»Hab' ich nie behauptet.« Markowitz warf das Stück Schrott auf den Tisch. »Wer den Hubschrauber geschickt hat, wußte über den heutigen Run Bescheid.«
Markowitz wollte das Thema Newmans Grove nun, da er seinen Standpunkt klargemacht hatte, ganz eindeutig nicht weiterverfolgen. Andy fügte sich. »Woher sollte jemand unseren Zeitplan und unsere Route kennen? Wir haben nichts Schriftliches fixiert.«
»Ich habe eine Idee. Chichi Davis.«
»Der Zwerg an der Tankstelle?« Andy hatte den Zwerg für okay gehalten. Markowitz schien etwas zu wissen, was Andy nicht wußte.
»Jawoll. Der kleine Schweinehund war in der Armee. Er muß uns verkauft haben.«
War das möglich? Andy hatte den Yellowjacket auf dem Radar entdeckt, kurz nachdem sie Davis' Laden verlassen hatten. Konnte doch etwas an Markowitz' Paranoia dran sein?
»Da ist noch eine andere Sache, die mir zu denken gibt«, sagte Markowitz. »Mittlerweile hätten die Cops längst auf unser kleines Gefecht reagieren müssen. Wir sind hier nicht gerade in den Barrens.«
Er hatte recht. Sie waren nah genug an der Absturzstelle, daß sie die Sirenen hätten hören müssen. Warum hörten sie keine? Andy erinnerte sich an den Kordon um das Lager der Kompensationsarmee auf der Promenade und an denjenigen, den er auf seinem Weg zu dem Schieber in der Nähe der Brücken beim Pentagon gesehen hatte. Man brauchte einen Haufen Leute, um diese Barrikaden zu besetzen. Wenn der größte Teil der Polizei dort im Einsatz war, bedeutete das, daß sie anderswo knapp an Leuten waren. »Vielleicht sind sie beschäftigt.«
»Genau meine Meinung. Wir brauchen Informationen.« Markowitz rief dem Ladenbesitzer zu: »Hey, Johnny, schalt die Kiste ein und hol uns die Nachrichten rein.«
Der Videoschirm des Ladens erhellte sich und zeigte ein verrücktes Gewirr von Bildern, bis sich das Gesicht von Shimmer Grace stabilisierte, der Top-Nachrichten-moderatorin von WFDC. Das grelle »Live«-Logo des Senders tanzte in einer Ecke des Bildschirms, was bedeutete, das Shimmer Überstunden machte. Offensichtlich ging tatsächlich irgend etwas vor.
Live-Übertragungen von Kameras in mehreren Distrikten des DC-Sprawls zeigten Bilder urbaner Gewalt oder Polizeistreifen in leeren, verwüsteten Straßen. Die meisten Bilder aus den Barrens wurden von Feuern erhellt. Shimmer kommentierte die Bilder aufgeregt, wobei sie immer wieder auf »die furchtbaren Gewalttaten« und die Bemühungen der »schwergeprüften Bundespolizei«, die Dinge in den Griff zu bekommen, zu sprechen kam. In regelmäßigen Abständen wurde eine »bedrohliche Piratensendung« wiederholt, in der von Aktionen die Rede war, die von der Kompensationsarmee unternommen würden.
»Hey, Johnny, wann hat das angefangen?« fragte Markowitz.
»Gestern. Die Bundespolizei hat ungefähr um neun Uhr abends für die südlichen und mittleren Sub-distrikte eine Empfehlung für eine Sperrstunde ausgesprochen. Dadurch war's 'ne ziemlich tote Nacht. Genauso schlimm wie heute.«
Eine Empfehlung für eine Sperrstunde war keine bindende Vorschrift, sondern mehr eine Warnimg an die guten Bürger, auf sich aufzupassen und sich aus allem Ärger herauszuhalten, indem sie zu Hause blieben. Das erklärte auch, warum sie so wenige Leute auf der Straße gesehen hatten und warum der Laden so leer war. Wie Markowitz schon gesagt hatte, sie waren hier nicht gerade in den Barrens. In diesem Distrikt gab es einen Haufen guter Bürger.
Ganz anders als im Arlingtoner Distrikt. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es dort anders gewesen, aber seit dem Blutbad vor drei Jahren fielen die Grundstückspreise in direkter Proportion zum Anstieg der Kriminalität.
»Sieht aus, als könnten wir ein paar Schwierigkeiten haben, nach Hause zu kommen«, sagte Markowitz.
»Einen Haufen Schwierigkeiten.« Es war Kit. Unter ihrem Poncho in stadtgrauer Tarnfarbe blitzten nackte Beine und Füße auf, als sie an ihren Tisch kam. Die Ladentür war noch nicht wieder ganz geschlossen. »Dort sind wir nicht mehr sicher. Wir sind kompromittiert worden.«
»Hattest du Probleme? Haben sie dich gesehen?« fragte Markowitz beunruhigt.
»Keine Probleme. Und sie haben mich zwar gesehen, aber es war ihnen nicht bewußt.« Sie machte einen zufriedenen Eindruck.
»Gut«, sagte Markowitz. Andy hatte das Gefühl, vor einem Rätsel zu stehen, doch Markowitz stellte bereits die nächste Frage, bevor er darüber nachdenken konnte. »Was hast du gesehen?«
Kit erzählte ihnen, daß drei bewaffnete Männer in Markowitz' Büro-Apartment eingebrochen waren. Sie hatten es durchsucht und waren offenbar enttäuscht gewesen, niemanden anzutreffen. Zwar hatte einer die Bude nicht antasten und sie als Falle benutzen wollen, aber ein anderer hatte darauf bestanden, zu nehmen, was sie kriegen konnten, und zwar mit dem Argument, daß sich Markowitz und Anhang aus dem Staub gemacht hätten und nicht mehr zurückkommen würden. Der dritte hatte dem zweiten recht gegeben. Sie hatten das Telekom, die Computer, die Kontrollbox für das Sicherheitssystem und alle Waffen an sich genommen und waren dann wieder gegangen. Kit hatte beschlossen, lieber Markowitz zu warnen, als die Diebe zu verfolgen.
Markowitz sah Andy an. »Wie denkst du jetzt über Verschwörungen, Junge?«
»Du überzeugst mich langsam, aber...« Er war in Gedanken bei Kit. »Wir wissen immer noch nicht, wer sie waren. Es gibt auch dann noch Zufälle, wenn man es mit Verschwörungen zu tun hat.«
»Was ist mit ihnen, Kit? Irgendwelche Ideen?«
»Es waren graue Männer, Harry. Seltsame Männer. Ausländer, und doch wieder nicht.«
»Werd mir nicht zu mystisch«, sagte Markowitz. »Erklär das näher.«
Kit zuckte die Achseln. »Entweder eine Aura verzahnt sich mit einem Ort oder nicht. Es ist eine Frage des Sichwohlfühlens, der Vertrautheit und des Übereinstimmens.«
»Das habe ich noch nie gehört.« Nicht, daß es eine Menge in bezug auf Magie gab, die Andy gehört hatte. Er hatte sich nicht sonderlich dafür interessiert - und tat es auch jetzt nicht -, aber er wollte an der Unterhaltung teilnehmen.
»Die Abstufungen sind subtil, Andrew. Vielen Zauberkundigen entgehen sie.«
»Wir wissen alle, daß du gut bist, Kit«, sagte Markowitz. »Was, glaubst du, hat dieser Aura-Kram zu bedeuten?«
»Ich hatte den Eindruck, als hätten sie das Gefühl, sich auf fremdem Territorium zu befinden, aber auf fremdem Territorium, das kein fremdes Territorium sein sollte, oder jedenfalls glaubten sie das. Ihre Einstellung war nicht auf persönliche Bindungen zurückzuführen, sondern auf ein Dazugehörigkeitsgefühl. Eine Art Familienschwingung. Die Art, die politische Zugehörigkeit nahelegt.«
»Als kämen sie aus einem anderen Land?« fragte Andy.
»Vielleicht. Ich verstehe das mit den Ländern nicht gut genug.« Kit zuckte die Achseln. »Sie trugen Beretta 200STs.«
»Die Standarddienstwaffe der SIA«, sagte Markowitz.
Das war ein gefundenes Fressen für Andy. »Du glaubst, es war der Geheimdienst der Konföderierten Staaten?«
»Hast du die Nachrichten über Fredericksburg gehört? Dieses »fremde Territorium, das nicht fremd sein sollte‹ hört sich ganz nach der Haltung der CAS in bezug auf North Virginia an«, sagte Markowitz.
»Vielleicht haben sie die Berettas nur getragen, weil sie wie Konföderierte aussehen wollten«, schlug Andy vor.
»Kit würde sich hinsichtlich ihrer Einstellung nicht irren«, sagte Markowitz kategorisch, aber ohne Erklärung. »Sieht so aus, als seien uns zwei Rudel Bluthunde auf den Fersen. Ich würde sagen, wir brauchen einen Platz, wo wir uns verkriechen können.«
»Was ist mit Shamgar, Rags und Beatty?« fragte Kit.
»Die sind alle schlau genug, um auf sich selbst aufzupassen«, sagte Markowitz. »Aber es ist wohl besser, wenn wir trotzdem versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Sieht so aus, als sei das jetzt der richtige Zeitpunkt, sich für eine Weile in die Schatten zu verkriechen und sie mitzunehmen.«