17

Als Andy Tom Rocquette in seinem gepanzerten Fahrzeug gesehen hatte, war er bereit gewesen, alles zu hm, um den Soldaten zu entkommen. Sicher, Tom war auch ein Soldat, aber er war auch Andys Halbbruder. Das mußte doch etwas wert sein, oder? Tom hatte sich Andy gegenüber früher zwar nie besonders freundlich verhalten, aber auch nicht feindselig. Andy war ziemlich sicher, daß Tom ihn mochte.

Natürlich war Andy da nur ein Kind gewesen und kein SINloser Streuner, dessen Cyberdeck von den Soldaten konfisziert worden war.

Andy hatte zwar nicht gewußt, was auf ihn zukam, als er Tom Rocquette anrief, aber er hatte jedenfalls auf einen enthusiastischeren Empfang gehofft. Tom war zwar nicht offen feindselig gewesen wie die anderen Soldaten, aber er war kalt und distanziert. Er schien nicht zu glauben, daß Andy Andy war, was nicht unverständlich war. Als sie in Toms Panzerfahrzeug saßen und weiß der Henker wohin unterwegs waren, tat Andy sein Bestes, um seinen Halbbruder davon zu überzeugen, daß er tatsächlich noch lebte und kein Schwindler war, indem er über die Zeit redete, als sie sich kennengelernt hatten.

Bedauerlicherweise schien Markowitz seine Versuche, Tom für sie einzunehmen, mit Gewalt sabotieren zu wollen.

»Soldaten gegen Bürger«, sagte Markowitz. »Tolle Schau. Haben Sie sich Nazi-Ausbildungsfilme angesehen?«

Die spärliche Beleuchtung im Innern des Fahrzeugs erschwerte es Andy, in Toms Gesichtsausdruck zu lesen, als dieser tonlos fragte: »Nazi?«

»Ja, Sie wissen schon, im Stechschritt für das Reich, und die Absätze auf alles, was sich querstellt. Platz für die Herrenrasse und aus dem Weg mit den niederen Kreaturen. In die Lager mit den lästigen genetisch Unerwünschten, wo man sich so mit ihnen befassen kann, wie es sich gehört. Wandern die Marschierer dorthin? In Lager?«

»Seit '07 gibt es keine Nazis mehr«, sagte Tom ruhig. »Gehört Geschichte zu den Dingen, über die Sie ermitteln? Sie scheinen eine ganze Menge über untergegangene politische Systeme zu wissen.«

»Namen ändern sich, schwarze Herzen nicht«, erwiderte Markowitz. »Und warum sollte ich mich nicht in der Geschichte auskennen? Konkreter ausgedrückt: Sollten Sie sich nicht damit auskennen? Noch konkreter ausgedrückt: Ich erkenne Gewalt, wenn ich welche sehe. Und selbst wenn die Motive lauter wären, was diese Soldaten dort draußen tun, ist illegal.«

»Aha. Sie sind kein Historiker, sondern Anwalt. Ist es das, Mr. Markowitz?«

»Warum wollen Sie mich imbedingt in eine Schublade einordnen?« fragte Markowitz. »Nichts für ungut, spielt keine Rolle. Ein Mann in meinem Beruf muß sich mit dem Gesetz auskennen, wenn er zurechtkommen will, und das tue ich. Ich weiß zum Beispiel, daß es illegal ist, das Militär der UCAS gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen.«

Das hatte Andy nicht gewußt.

»Ohne einen Befehl des Präsidenten«, sagte Tom.

Auch das hatte Andy nicht gewußt.

»Und haben Sie einen?« fragte Markowitz.

Tom nickte. »Zufälligerweise ja.«

»Dann kann ich nur sagen, Gott stehe uns allen bei. Die Nazis sind nicht tot, und wir haben die außerordentliche Ehre, die Wiederkehr der Säuberungen aus erster Hand mitzuerleben. Heil Steele.«

»Das ist keine Säuberung.« Toms Stimme klang ein wenig angestrengt. »Wir bemühen uns schlicht und einfach, die Ordnung wiederherzustellen und die Aufrührer an die Kette zu legen.«

»Aufrührer?« wiederholte Markowitz ungläubig. »Dort draußen sind keine Aufrührer, sondern nur Leute, die versuchen, sich gegen Lockes Schaftstiefel tragende Sturmtruppen zu verteidigen. Oder wenigstens haben sie das getan, bis Sie und Ihre gepanzerten Handlanger aufgetaucht sind. Peng! Und nieder mit dem Werkzeug des manifesten politischen Willens. Peng! Und wieder ein prima SS-Hammer, um die Untermenschen niederzuknüppeln. Was ist los, Herr Major, Sie sehen so verärgert aus? Sitzen die Schaftstiefel zu eng?«

»Das geht zu weit«, sagte Andy. Er hoffte, Tom würde sehen, daß ihn nicht alle für einen von diesen üblen Burschen hielten, von denen Markowitz redete.

Markowitz wandte sich an ihn. »Was seine Leute tun, das geht zu weit«, sagte er, indem er anklangend mit dem Finger auf Tom zeigte. »Dort draußen in den Lagern sind gute Leute, und sie sterben, weil sie es gewagt haben, für das einzutreten, was ihnen zusteht, weil irgendein vollgefressener Politiker eine bessere Verwendung für das Geld hat. Diese guten Leute sterben, weil sie sich erhoben und verlangt haben, was man ihnen versprochen hat. Sie wollen nur eine Entschädigung.«

»Gute Leute?« Tom war jetzt erhitzt. »Gute Leute setzen nicht ihre Nachbarschaft in Brand. Mit den Feuern, die die Aufrührer letzte Nacht gelegt haben, sind sie zu weit gegangen.«

»Also haben Sie die Absicht, die Brände mit Blut zu löschen. Sehr demokratisch.«

»Wir haben die Absicht, dafür zu sorgen, daß keine weiteren mehr gelegt werden.«

»Wie? Indem Sie die Leute umbringen? Ich nehme an, das wird echt gut klappen. Die Dinge beruhigen sich schnell, wenn alle tot sind. Ist außerdem noch eine ziemlich bequeme Lösung. Keine Zeugen.«

»Sie übertreiben maßlos, Markowitz«, sagte Tom.

»Aber es stimmt«, warf Andy ein. »Ich habe gesehen, wie Soldaten Leute erschossen haben, die sich ergeben wollten.«

»Nein.« Toms Stimme war nicht sehr laut, und Andy war nicht sicher, ob er Tom wirklich sprechen gehört hatte.

»Glauben Sie nicht, daß Ihre Brüder in Uniform Mörder sind?« fragte Markowitz.

Tom räusperte sich. »Wenn jemand getötet wurde, dann deshalb, weil er bedrohlichen Widerstand geleistet hat. Obwohl ich von jemandem mit derartig linksgerichteten Ansichten nicht erwarte, daß er das versteht, Mr. Markowitz, kann ich Ihnen versichern, daß die Armee kein Sammelbecken für wahllos um sich schießende Mörder ist.«

»Oh, sie sind nicht wahllos«, sagte Markowitz. »Das habe ich nie behauptet. Tatsächlich ist mir eine eindeutige Vorliebe unter den Soldaten dafür aufgefallen, den Widerstand unter den Metamenschen zu finden. Du meine Güte, ich habe selbst erlebt, wie ein Schlichter mürrischer Blick so bedrohlich für Ihre gut bewaffneten Soldaten war, daß sie sich gezwungen sahen, mindestens zwei Orks, einen Troll und eine Zwergenfrau mit ihrem Baby kurz und bündig zu exekutieren.«

»Sie müssen sich irren«, sagte Tom.

»Muß ich das?«

Tom antwortete nicht. Er starrte nur die Kabinenwand an.

»Sie sind eine Marionette«, sagte Markowitz zu ihm.

Tom drehte sich langsam zu ihm um und sagte: »Sie neigen zur Melodramatik, Mr. Markowitz.«

»Das liegt daran, daß ich ein verhinderter Romantiker bin, hat man mir jedenfalls gesagt. Vielleicht ist das der Grund, warum ich immer noch glaube, daß sich dann und wann ein Mann erhebt und das Richtige tut, auch wenn seine Chummer etwas ganz anderes tun. Es ist schwer, gegen den Strom zu schwimmen, aber manchmal muß man einfach. Ich weiß, daß Sie wissen, was ich meine. Andy hat mir gesagt, Sie wären in Ordnimg. Nicht wahr, Andy?«

»Ja. Das habe ich ihm gesagt, Tom.«

»Genau. Hören Sie, Major. Sie haben jetzt die Möglichkeit, mir zu beweisen, daß ich mich in Ihnen irre. Der Junge hat Ihnen die Wahrheit gesagt: Keiner von uns hat etwas mit dem Aufruhr zu tun. Daß wir auf der Brücke erwischt worden sind, war einfach nur Pech und schlechtes Timing, das ist alles. Es hat nichts zu bedeuten. Wir wollen mit dieser Schweinerei nichts zu tun haben. Ich bin sicher, Sie werden das verstehen. Warum setzen Sie uns also nicht einfach ab, und wir vergessen alle, daß wir uns je begegnet sind?«

Tom schüttelte den Kopf, während sich seine Lippen zur Andeutung eines Lächelns verzogen. »Ich glaube mich zu erinnern, daß mir jemand erzählt hat, es gäbe gar keinen Aufruhr. Wie kann jemand in etwas nicht verwickelt sein, das gar nicht stattfindet?«

»Sie wollen ganz einfach kein zugänglicher Kerl sein.«

»Ich habe meine Befehle, Mr. Markowitz. Ich muß sie ausführen.«

»Jawohl, Sir, Major Nazi.«

»Ich glaube, es wird Zeit, daß Sie das Maul halten, Mr. Markowitz«, sagte Tom mit frostiger Stimme.

Andy erwog, Markowitz zu sagen, er sei derselben Ansicht, sah jedoch nicht, daß das etwas bringen würde. Glücklicherweise brauchte er es auch nicht. Markowitz verstand den Wink. Andy war erleichtert. Die Spannimg war bereits zu hoch. Was war nur in Markowitz gefahren? Normalerweise war er viel versöhnlicher, wenn er mit Leuten zu tun hatte - wenigstens mit anderen Leuten als Andy. Vielleicht machte er sich Sorgen um Kit. Sie war immer noch irgendwo dort draußen. Hatten die Soldaten sie ebenfalls aufgegriffen? Andy hoffte es nicht.

Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, hievte sich Tom plötzlich aus seinem Sitz, ging durch die Kabine und glitt auf einen winzigen Klappsitz vor einer primitiven Kontrollstation für Drohnen. Andy hatte ähnliche Einrichtungen in den Tech-Hangars bei Telestrian gesehen, also wußte er, was Tom tat, als dieser Schalter betätigte und Befehle eingab. Er rief Bilder von einer Aufklärungsdrohne ab. Als sich das Bild auf dem Schirm erhellte, sah Andy, daß die Drohne über dem noch andauernden Scharmützel auf den Brücken schwebte. Niemand auf den Brücken oder am Ufer störte sich daran. Sie waren alle viel zu beschäftigt. Auf Toms Befehl zoomte die Kamera näher an die Soldaten in ihren schwarzgrauen Uniformen und das bunte Durcheinander ihrer Gegner heran.

Die wahnsinnige Gewalt der Auseinandersetzung war nicht zu übersehen. Tom konnte nicht bestreiten, was ihm der Bildschirm jetzt zeigte. Die Drohne übertrug Bilder von Soldaten, die Marschierer niederschossen. Der Blickpunkt der Drohne war hoch und weit entfernt. Daher ließ sich nicht feststellen, ob jene, auf die geschossen wurde, tot waren oder nicht, aber sie waren mit Sicherheit verletzt. Oft schossen die Soldaten ohne jeglichen Grund, ohne provoziert worden zu sein.

Als Markowitz etwas sagen wollte, trat ihm Andy gegen das Schienbein. Die Überraschung ließ ihn schweigen. Tom merkte nichts davon, was Andy nur recht war.

Tom schaltete auf Kommunikationsmodus.

»Colonel Lessem, hier spricht Major Rocquette. Ich glaube, wir haben ein Problem auf den Brücken.«

Die Antwort des Colonels kam fast sofort über die Innenlautsprecher. »Was gibt es denn, Rocquette? Haben die Aufrührer noch einen Magier?«

»Nein, Sir. Zumindest nicht, daß ich wüßte. Das Problem, Sir, sind unsere Leute. General Trahn wird nicht sehr glücklich darüber sein.«

Lessem kicherte. »Geht dem Alten wohl nicht schnell genug, wie? Tja, Sie werden ihm wohl sagen müssen, daß er mir mehr Leute geben muß, wenn er den Job schneller erledigt haben will. Entweder das, oder die Samthandschuhe müssen weg.«

Der Colonel glaubte, daß sich die Soldaten zurückhielten? Andy konnte es nicht glauben. Toms Schweigen legte die Vermutimg nah, daß ihn die Antwort des Colonels ebenfalls überraschte.

»Nazi-Sturmtruppen-Taktik«, flüsterte Markowitz.

Andy hoffte, daß Tom die Bemerkung nicht gehört hatte.

Tom sprach in das Mikrofon. »Colonel, ich schlage mit allem Respekt vor, daß Sie sich die Bildübertragung von Drohne Alpha-Charley-zwo-drei ansehen. Ich denke, Sie werden feststellen, daß sich die Dinge nicht so glatt entwickeln, wie Sie glauben.«

»Tatsächlich?« Eine Pause. »Sie haben Befehl, sich mit einigen Gefangenen im HQ zu melden, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir.«

»Dann schlage ich vor, daß Sie sich um Ihre Angelegenheiten kümmern.«

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Nun, da er die exzessive Gewalt mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte Tom Markowitz' Behauptungen nicht mehr widersprechen. Die Armee bediente sich tatsächlich Sturmtruppen-Taktiken. Das ergab keinen Sinn für Tom. Ebenso wie Furlanns Gewehr-auf-Spat-zen-Taktik auf der Brücke war dies eine Überreaktion.

»Wollen Sie es sich jetzt noch einmal überlegen, uns ins HQ zu bringen?« fragte Markowitz.

»Nein«, antwortete Tom. Die Tatsache, daß andere Leute ihre Befehle mißachteten, entband ihn nicht von seinen. »Ich muß Sie beide abliefern.«

Markowitz räusperte sich. »Ich hoffe nur, in Ihrem Führerhauptquartier gibt es moderne Folterbänke. Die alten Modelle sind echt unbequem.«

»Folter?« Andy klang verängstigt.

»Er versucht dir angst zu machen und mich einzuschüchtern«, sagte Tom zu ihm. »Man wird euch nur ein paar Fragen stellen. Niemand wird irgendwen foltern.«

»Bist du sicher?« fragte Andy.

»Du hast meine persönliche Zusicherung, daß es keine Folter geben wird«, sagte Tom. Er gab dieses Versprechen leichten Herzens. Die UCAS-Armee war nicht wie die Aztlaner.

»Ich bin ja so erleichtert, das zu hören«, sagte Markowitz.

Tom musterte Markowitz. »Eine private Tracht Prügel danach, von Bürger zu Bürger, ist eine andere Sache.«

»Ich betrachte das als feste Verabredung«, sagte Markowitz. »Obwohl, wenn Sie sich irren, erwarte ich, daß Sie mir ein wenig Erholungszeit zugestehen, bevor wir uns unterhalten.«

»Sie werden in bester Verfassung sein müssen«, versprach Tom ihm.

Andy sah zwischen den beiden hin und her, als betrachte er zwei Wahnsinnige, was vielleicht auch der Fall war. Markowitz brachte Tom derart auf die Palme, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war.

Als das Kommandofahrzeug auf dem Parkplatz neben General Trahns TOZ hielt, wurden sie bereits von Colonel Jordan und einem Quartett seiner weiß behandschuhten Militärpolizei erwartet. Tom übergab Andy und Markowitz dem Colonel.

»Hallo, Markowitz«, sagte Jordan. »Mal wieder in Schwierigkeiten, wie ich sehe.«

Markowitz nickte ihm zu. »Anscheinend. Die üblichen Irrtümer, nehme ich an. Wie geht's, Jemal? Was macht die Frau?«

Es entwickelte sich ein unglaublich harmloses, gewöhnliches Gespräch. Tom hörte verblüfft zu. Jordan wandte sich an Tom und salutierte. »Major, ich entbinde Sie von Ihren Gefangenen.«

Tom erwiderte den Gruß.

»Melden Sie sich beim General in seinem Fahrzeug«, sagte Jordan.

Furlann begleitete Tom in die TOZ. Sie sagte nichts, was Tom nur recht war. Tom war nicht danach, mit ihr zu reden. Ihre herbe, sarkastische Art ähnelte zu sehr der von Markowitz, und Markowitz hatte ihn schon genug Nerven gekostet. Tom ging hinein und suchte sich einen Platz, um dort zu warten, bis der General mit ihm zu reden geruhte. Offenbar war er so sehr damit beschäftigt gewesen, die Vorgänge noch einmal Revue passieren zu lassen, daß er nicht bemerkt hatte, daß Furlann gegangen war. Jedenfalls war sie nicht mehr da, als der General Tom zu sich beorderte. Nach Erledigung der militärischen Formalitäten forderte Trahn Tom auf, Platz zu nehmen.

»Ich hörte, Sie hätten ein Problem mit der Art und Weise, wie diese Operation durchgeführt wird«, sagte er ohne Vorrede.

Colonel Lessem würde ihn über Toms Anruf in Kenntnis gesetzt haben. »Nichts gegen das Oberkommando, Sir, aber die Truppen scheinen sich außerhalb der Parameter dieser Operation zu bewegen.«

»Inwiefern außerhalb? Die Verantwortung liegt bei den Kommandeuren der einzelnen Einheiten. Sie scheinen deren Urteilsvermögen in Frage zu stellen. Was ist Ihr Problem, Rocquette?«

Trahn schüttelte traurig den Kopf. »Dies ist weder eine Übung noch eine Aufräumaktion nach einer ungesetzlichen Policlub-Ausschreitung. Dort draußen wartet ein großer und feindseliger Pöbelhaufen, der die Gesundheit und Sicherheit der Bürger bedroht, die zu schützen Sie geschworen haben. Immerhin ist es die Hauptstadt unseres Landes, die sich Randolph und seine undankbaren Anhänger ausgesucht haben, um sie zu verwüsten. Sie können unmöglich glauben, daß halbe Maßnahmen reichen. Halbe Maßnahmen kosten Sie das Leben, wenn die andere Seite alles gibt, und es gibt absolut keinen Grund zu glauben, daß die Aufrührer nicht alles geben. Verlangen Sie von unseren Soldaten, daß sie sich das Fell über die Ohren ziehen lassen?«

»Nein, Sir. Das habe ich absolut nicht damit sagen wollen.«

»Sie waren bei der Einsatzbesprechung anwesend, Rocquette. Sie wissen, daß unsere Truppen dem Pöbelhaufen zahlenmäßig stark unterlegen sind. Wir müssen alle unsere Vorteile geltend machen. Einer dieser Vorteile ist die Einheit unserer Kommandostruktur, Major. Wir können es uns nicht leisten zu debattieren. Das würde uns schwächen, aufhalten und auseinanderdividieren. Und wenn das geschieht, werden gute Soldaten sterben. Wollen Sie das?«

»Nein, Sir. Aber dort draußen sterben bereits Leute, General.«

»Leute, die sich außerhalb des Gesetzes gestellt haben.«

»Das Gesetz soll Leute schützen, sogar Verbrecher«, stellte Tom fest.

»Sie leben im letzten Jahrhundert, Rocquette.«

War das so schlimm? Es gab nicht wenige, die das Ende des letzten Jahrhunderts ein goldenes Zeitalter nannten. »Die Gesetze dieses Landes haben immer noch Gültigkeit.«

»Einige dieser Gesetze sind geändert worden«, erinnerte ihn der General. »Hören Sie zu, mein Sohn. Ich weiß, Sie sind intelligent. Sie können gewiß sehen, was um uns vorgeht. Sie können gewiß die moralische Verkommenheit sehen. Wir stöhnen unter der Last des Erbes dieses Schweinehunds Howling Coyote und seiner Jünger. Dies war einmal das bedeutendste Land auf der Welt. Und jetzt sehen Sie uns an. Man hat uns die Beine an den Knien abgetrennt und zu Bettlern gemacht, weil wir das Joch akzeptiert haben, daß uns von den Kreaturen dieses neuen Zeitalters aufgezwungen worden ist. Wie kann ein Mann in dieser Welt überleben?«

Trahn schien eine Antwort zu erwarten. Unglücklicherweise hatte Tom nur Fragen, keine Antworten. Grundsätzlich stimmte er mit Trahn überein, was den Zustand der Welt betraf, aber er wußte nicht, wie sich diese eher philosophische Position auf die gegenwärtige Situation anwenden ließ. Außerdem war er nicht so dumm, einem General zu widersprechen. Er versuchte es mit einer sicheren Antwort. »Ein Mann tut, was seine Ehre zuläßt.«

»Und Sie glauben, daß unser Vorgehen gegen die Aufrührer nicht ehrenhaft ist?«

Das war eine von Toms Befürchtungen. »Ein fairer Kampf ist ehrenhaft. Militärisch gesehen, sind diese Leute dort draußen ein unorganisierter Haufen.«

»Ich würde einen fairen Kampf vorziehen, aber diese Art von Ehre ist gestorben, als die Sechste Welt geboren wurde. Menschen, richtige Menschen, können nicht fair gegen magische Dinge kämpfen. Die Auflösungsfeldzüge haben uns das gelehrt. Sie haben keine Chance, nicht die geringste, nicht ohne jede verfügbare Waffe zu benutzen und alle Nettigkeiten beiseite zu lassen.«

»Die Zeiten haben sich seitdem geändert, General.«

»Das haben sie, das haben sie in der Tat. Sie sind schlimmer geworden. Sehen Sie sich Chicago an - dort verlieren wir eine Stadt. Hätten wir eine richtige Armee, hätten wir meiner Ansicht nach keine derartigen Probleme. Wir hätten diese Wanzen zerquetschen können, sobald sie die Fühler aus dem Boden gestreckt hätten.«

Tom wußte nicht im einzelnen, was in Chicago vorging, aber er hatte gesehen, was hier in Washington geschah. »Aber hier haben wir es nicht mit Wanzen zu tun, General. Wir haben es hier mit Leuten zu tun.«

»Wir haben es tatsächlich mit Leuten zu tun«, räumte Trahn ein. »Mit Leuten, die die Korruption der Sechsten Welt akzeptiert haben. Mit Leuten, die sich auf den Rücken gelegt und die Beine für sie breitgemacht haben. Mit Leuten, die ehrliche Menschen verkauft haben. Mit Leuten, die ihr Recht auf eine faire und ehrenhafte Behandlung verwirkt haben. Wenn Sie irgendeinen Zweifel daran haben, brauchen Sie sich nur anzusehen, wie sie unsere Warnungen ignoriert haben, bevor wir gegen sie vorgerückt sind. Sie hatten die Gelegenheit, sich friedlich und ohne Gefahr für sie zu zerstreuen. Sie haben sie verstreichen lassen. Vielleicht glaubten sie, wir bluffen. Die Regierung hat weiß Gott oft genug geblufft. Aber die Zeit für Bluffs ist vorbei. Es ist Zeit zum Handeln, und Männer, echte Männer, müssen diesem Ruf folgen. Man sagte mir, Sie seien ein Mann, der diese Notwendigkeiten versteht, Rocquette. Hat man mir da etwas Falsches gesagt?«

»Ich weiß nicht genau, was man Ihnen gesagt hat, General, aber ich bin immer ein guter Soldat gewesen.«

»Es gibt Zeiten, die mehr verlangen als nur gute Soldaten. Es gibt Zeiten, die nach Führern verlangen.« Trahn musterte ihn durchdringend. »Es gibt nicht wenige, die eine hohe Meinimg von Ihnen haben, Roc-quette. Die sagen, Sie seien mehr als ein guter Soldat. Sie seien ein Führer. Ein Mann, der den richtigen Weg erkennt, wenn er ihn sieht. Irren sich diese Leute?«

»Ich hoffe nicht, Sir.«

»Ich auch nicht.« Trahn warf einen demonstrativen Blick auf die Reihe der Monitore an der Wand der TOZ. »Gibt es sonst noch etwas?«

Es gab, aber nach allem, was Trahn gesagt hatte, wußte Tom nicht, ob es klug war, es noch einmal anzusprechen.

»Schon gut, Rocquette. Sie dürfen ganz offen sein.«

Also schön. »Ich fürchte, mir ist immer noch nicht klar, warum wir nicht einige der weniger tödlichen Methoden zur Aufruhrunterdrückung einsetzen, General.«

»Das reicht schon. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Sohn, ich kenne die autorisierte Ausrüstung ebensogut wie Sie. Außerdem weiß ich ein paar Dinge, die Sie nicht wissen. Die Situation ist denkbar einfach. Aus einer Vielzahl von Gründen haben wir keinen Nachschub bekommen, und wir haben keinen Zugang zu unseren autorisierten nicht-tödlichen Mitteln. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die verfügbaren Mittel einzusetzen. Wenn wir das Zeug hätten, glauben Sie nicht, daß wir es dann auch einsetzen würden?«

Tom nickte. Er wollte glauben, daß sie nicht tödliche Mittel einsetzen würden, wenn sie sie hätten.

»Also gut«, sagte Trahn. »Sie kümmern sich jetzt besser wieder um Ihren Job. Sie werden mich doch nicht enttäuschen, Major, oder?«

»Nein, Sir.«

Trahn lächelte väterlich. »Befolgen Sie einfach Ihre Befehle, alles andere findet sich dann schon«, sagte der General und entließ ihn.

Als Tom die TOZ verließ, fragte er sich, ob die abschließende Bemerkung des Generals vielleicht genau das war, was die Nazi-Generäle ihren Sturmtruppen gesagt hatten.